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Die Geburt eines Unternehmers

Der Chemiker begann als Gruppenleiter eines volkseigenen DDR-Betriebs, heute gehört ihm das Nachfolgeunternehmen Orafol, Weltmarktführer für selbstklebende Folien.

Der Name Orafol ist nur den wenigsten ein Begriff. Doch spätestens, wenn man den Campus des Unternehmens mit der modernen Hauptverwaltung im Oranienburger Gewerbepark Nord betritt, wird schnell klar, welch unternehmerischer Erfolg sich hinter der Marke verbirgt.

So begleiten uns selbstklebende Spezialfolien von Orafol auf Schritt und Tritt, auf Flugzeugen und Schiffen finden sie sich, auch Autos können komplett verkleidet oder mit Werbeslogans versehen werden.

Autobahnschilder oder Baustellenmarkierungen sowie reflektierende Nummernschildfolien kommen ebenfalls aus Oranienburg, aber auch lichtleitende Elemente für Sensoren und Displays sowie Spezialfolien für Reisepässe – die Liste ließe sich fast beliebig verlängern.
Es ist eine schier unglaubliche Geschichte, wie aus einem ehemaligen volkseigenen Betrieb eines der Top-500-Familienunternehmen in Deutschland geworden ist, das es mit US-Giganten wie 3M und Avery Dennison aufnimmt. „Das gibt es kein zweites Mal in Deutschland“, sagt Stefan Heidbreder, Geschäftsführer der Stiftung Familienunternehmen. Dabei gab es viele Situationen, in denen das Unternehmen Orafol und der heutige Inhaber und geschäftsführende Gesellschafter Holger Loclair hätten scheitern können.

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Um zu verstehen, wie alles begann, muss man weit in die Vergangenheit des 1808 als Wibelitz Farbenwerkstatt in Berlin gegründeten Herstellers von Lacken und Farben zurückgehen. Nach dem Ersten Weltkrieg zog das Unternehmen von Berlin nach Oranienburg, es wurde in der DDR 1957 zum Teil und schließlich 1972 komplett verstaatlicht. 1990 erhielt die Firma, die vor allem selbstklebende grafische Produkte herstellt, den Namen Orafol, 1991 wurde sie privatisiert.

Noch weitaus spannender ist die Geschichte des Unternehmens aber aus der Sicht des heutigen Eigentümers Holger Loclair. Der 1951 im mecklenburgischen Penzin Geborene beweist schon in jungen Jahren Ehrgeiz und Durchhaltevermögen.

Er ist als hervorragender Turner aufgefallen, Bodenturnen und Reck sind seine Lieblingsdisziplinen. Und weil sein sportliches Potenzial früh erkannt wird, besucht er zunächst die Kinder- und Jugendsportschule in Güstrow und später die in Rostock. Es wurde in der Mannschaft trainiert, aber jeder war Einzelkämpfer, erinnert er sich. Eine harte Zeit, die ihn stark formt.

1968 schließlich ist ihm klar: „Ich werde nicht an den Olympischen Spielen in München teilnehmen können.“ Er geht zurück in die Heimat, macht sein Abitur an der erweiterten Oberschule in Bützow. Ein schwerer Weg ins normale Schülerleben zurück, der glücklich endet. Was danach kommt, ist eine nicht weniger prägende Zeit für ihn.

546 Tage Wehrpflicht. Jeden einzelnen Tag hat Loclair gezählt, im Zwölf-Bett-Zimmer hat er gelebt, hat verkraften müssen, dass ein Kamerad Selbstmord beging, und Dinge zwischen Macht und Ohnmacht erlebt, die heute sicher strafrechtlich verfolgt würden, damals aber offenbar zum Armeealltag gehörten.

Doch in der Volksarmee sind auch Freundschaften fürs Leben entstanden. Dann ging es für Loclair zum Studium an die Bergakademie Freiberg. „Chemie hat mich immer interessiert“, sagt er. Dort lernt er seine Frau kennen, die Mathematik studiert und die er nach dem Studienende 1976 heiratet. Bis vor einem Jahr leitete sie die IT bei Orafol.

Sie kommt aus der Nähe von Oranienburg, er muss seine erste Stelle aber bei den Zellstoffwerken Wittenberge antreten und im Arbeiterwohnheim wohnen. Dank einer Art Familienzusammenführung darf er im Februar 1977 als Mitarbeiter für Forschung und Entwicklung zum VEB Spezialfarben Oranienburg wechseln, der zum Kombinat Lacke und Farben gehört.

„Der Ehrgeiz war meine Triebfeder“

Mitte August wird seine Tochter geboren. Zwei Jahre später wird er Gruppenleiter. „Der Ehrgeiz war meine Triebfeder“, sagt Loclair. Das habe sich nicht geändert, ergänzt seine Tochter Catherine, die heute als Unternehmensjuristin bei Orafol arbeitet und ihn als diszipliniert und fair charakterisiert. „Er hat ein ausgesprochen gutes Bauchgefühl, ist sehr sensibel und ist auch sehr lange sehr gutmütig.“ Die Mitarbeiter hätten „große Spielräume, aber er gibt die Richtung vor, wir sind kein Debattierklub“. „Man muss seiner Arbeit einen Sinn geben“, findet Loclair schon damals.

Evelyn Zocher, die bereits ein Vierteljahr länger bei Orafol arbeitet als Loclair, ist heute Sales and Marketing Director für den größten Unternehmensbereich. Sie erinnert sich, dass ihr Chef schon zu DDR-Zeiten unternehmerisch dachte und sehr zielstrebig war. „Er hatte immer Visionen, die er umzusetzen versuchte, sein vorausschauendes Wesen hat das Unternehmen gerettet.“ Seine Affinität zum Technischen und die unternehmerische Ungeduld seien schon damals erkennbar gewesen.

In Oranienburg kann Loclair sich entwickeln, auch ohne politisch aktiv zu sein, die selbstklebenden Folien stehen nicht im Fokus der Parteiführung. 1980 wird sein Sohn Christian geboren, der heute ein IT-Start-up hat. 1981 wird Loclair Technischer Leiter, sechs Jahre später Betriebsdirektor. Das sei nur möglich gewesen, weil nicht mehr die Kreisleitung über den Aufstieg befunden habe.

Drei Jahre vor der Wende entwickelt Loclair mit seiner Mannschaft eine schrumpffähige, hitzeaktivierbare Folie für den Flugzeugmodellbau, eine Westberliner Handelsfirma vertreibt das patentierte Produkt weltweit. Es gibt also Devisen im VEB.

Nach intensiven Bemühungen kauft der Betrieb zur Erweiterung dieser Produktion eine Beschichtungsmaschine in Hamburg beim Maschinenbauunternehmen Kröhnert. 1988 wird sie geliefert – und hat in der Folge einen entscheidenden Anteil daran, dass Loclairs Betrieb überlebt.

Für das Kombinat ist der Betrieb nur zum Monatsende interessant, wenn es um die monatliche Planerfüllung geht. Es sei ein „Riesenglück“ gewesen, dass der VEB Spezialfarben Oranienburg sich „unterhalb des Radars entwickeln konnte“. Aufstieg durch Leistung sei möglich gewesen, so Loclair.

„Wir haben noch unter sozialistischen Verhältnissen trainiert“

Die Zeiten stehen schon 1987 auf Wandel, das spürt Loclair. „Man bekam damals die Engpässe allerorten nicht mehr in den Griff“, sagt er. An Spitzeleien im VEB Spezialfarben Oranienburg erinnert er sich nicht. „Wir haben noch unter sozialistischen Verhältnissen trainiert.

Als die Marktwirtschaft kam, waren wir vorbereitet“, sagt Loclair, vielleicht auch, weil er schon in den 1980er-Jahren in den Westen reist, um das Westberliner Handelsunternehmen bei seinen Vertriebsaktivitäten zu unterstützen, und somit die Märkte kennt. Auf die häufig gestellte Frage, warum er nicht gleich im Westen geblieben sei, antwortet er stets: „Ich verlasse doch nicht meine Frau und meine Kinder!“

Als die Mauer am 9. November 1989 fällt, sitzt er vor dem Fernseher und fragt sich, ob die 126 Mitarbeiter am nächsten Morgen noch kommen werden. „Ich will das Werk retten“, ist sein erster Gedanke. Ihm ist klar, dass wirtschaftlich ein anderer Wind wehen wird.

Er und sein Team kennen die Exportkunden nicht, da diese durch den staatlichen Außenhandel der DDR zentral bearbeitet werden. Und Loclair tut etwas, was Unternehmer zuweilen tun müssen, um ihre Firma zu retten: Er entlässt fast die halbe Mannschaft – zwar mit einem Sozialplan, aber es ist ein schwerer Schritt für ihn. „Ich habe ganz klar dieses kleine Zeitfenster eines im Prinzip rechtsfreien Raums genutzt, um das Unternehmen am Leben zu halten.“

Im Februar 1990 kommt es zu einer denkwürdigen Sitzung aller Betriebsdirektoren des Kombinats Lacke und Farben. Der oberste Generaldirektor fragt, wer mitmachen würde bei einer Neustrukturierung des Kombinats. Doch die Vorstellungen hierzu klingen in Loclairs Ohren „mehr als abenteuerlich“.

Er steht auf und sagt: „Ich nicht mehr!“ Dann fragt einer der Betriebsdirektoren, wie Loclair denn seine Rohstoffe ab 1. Juli 1990 bezahlen wolle. Er wisse es nicht, antwortet Loclair wahrheitsgemäß, und fügt hinzu: „Du weißt es aber auch nicht!“ Die Episode ist damit aber noch nicht beendet.

„Nie wieder Kombinat!“

Der Generaldirektor will Loclair und seine Mannschaft wieder einfangen. „Er hatte einen Fehler gemacht, das hatte er wohl begriffen – den Fehler zu fragen, statt anzuordnen“, sagt Loclair. Der Generaldirektor entsendet daraufhin ein Mitglied der Kombinatsleitung nach Oranienburg in Loclairs Betrieb.

Der Vertreter der Kombinatsleitung wird mit Gesängen und Transparenten empfangen. Die Mitarbeiter skandieren: „Nie wieder Kombinat!“ Die Belegschaft hat sich entschieden. Auch zu jenem Zeitpunkt gibt es nur ein sehr kleines Zeitfenster, das eine solche Entwicklung zulässt. Loclair nutzt es.

Doch unter der Treuhand-Ägide gibt es ein zentrales Problem: Nach der Währungsunion am 1. Juli 1990 verfügt Orafol zwar über Gelder auf den Außenhandelskonten, aber das Unternehmen kommt nicht an das Geld heran. Denn im Zuge der Währungsunion werden die Außenhandelskonten zur Überprüfung zeitweise eingefroren. In der Folge kann die Firma die Löhne nicht bezahlen. Am Tag der Weihnachtsfeier wird das Unternehmen deswegen zahlungsunfähig, trotz des erwirtschafteten Geldes.

In seiner Verzweiflung erscheint Loclair im „Haus am Werderschen Markt“ in Berlin, dem damaligen Sitz der Deutschen Kreditbank AG, Rechtsnachfolger der DDR-Staatsbank. Auf die Frage, ob er einen Termin habe, entgegnet er: „Nein, aber ich gehe hier nicht eher weg, bis ich angehört worden bin. Sie müssen schon die Polizei holen, um mich hier wegzubringen!“

Loclair wartet – eine Stunde, zwei, drei, schließlich vier Stunden. Seine Verzweiflung ist groß, auch weil seine Bitten an Manfred Stolpe, den damals gerade mal einen guten Monat amtierenden SPD-Ministerpräsidenten von Brandenburg, und an Bundesfinanzminister Theo Weigel von der CSU keine Antwort erhalten.

Doch Loclair wird schließlich erhört, die Bank bewilligt am nächsten Tag zwei Millionen D-Mark Überbrückungskredit. Auf der Weihnachtsfeier seines Unternehmens kann er am Abend verkünden, dass es weitergehen kann. Doch er weiß auch: Die Zeit, das Unternehmen in private Hände zu geben, drängt. „Mir wurde an diesem Tage klar“, erinnert sich Loclair, „dass es für einen Ostdeutschen nahezu unmöglich war, eine Kreditlinie zu bekommen.“

Mit seinem Führungsteam setzt er sich bei seiner Suche nach einem Investor aber eine Vorgabe: Orafol solle dem Erwerber einen echten Mehrwert bieten, damit das Unternehmen, für das die Mitarbeiter so gekämpft haben, nicht einfach von einem Konkurrenten einverleibt würde.

Der Klebebänderhersteller Transatlantic H. Bernhardt GmbH in Berlin-Neukölln, mit 56 Millionen D-Mark Umsatz damals schon kein kleines Unternehmen mehr, ist so ein möglicher Investor, doch der Gesellschafter Klaus Schmidbaur will vor allem Loclair als Forschungsleiter einstellen und nicht gleich einen ganzen ehemaligen VEB-Betrieb erwerben.

„Ich konnte meine unternehmerischen Träume verwirklichen“

Zweimal sagt Loclair ihm, er lasse seine Mitarbeiter ohne eine vorherige sinnvolle Privatisierung nicht im Stich. Dann, es ist schon 1991, entscheidet sich Schmidbaur, Orafol zu übernehmen. Loclair hat ihn überzeugt. Unternehmensleitung und Betriebsrat unterstützen die Übernahme der Orafol-Unternehmensanteile von der Treuhand. Das macht diese Privatisierung besonders. Loclair wird Entwicklungsleiter bei Transatlantic und Geschäftsführer bei Orafol in einer Doppelfunktion. Er kann nun wieder ruhiger schlafen.

Drei Jahre später wird Loclair auch Geschäftsführer von Transatlantic. „Ich war immer Angestellter – und ein sehr loyaler“, sagt Loclair. Überzeugend aber war er offenbar auch. Er brachte Schmidbaur, der seitdem mit Loclair die Geschäfte gemeinsam führt, sich aber im Hintergrund hält, dazu, außerhalb von Oranienburg ein neues Werk zu errichten.

Und wie bei so manchem Mittelständler im Westen, werde seitdem eigentlich immer gebaut, erinnert sich auch der damalige Landrat und spätere Innenminister von Brandenburg, Karl-Heinz Schröter, SPD. „Meine Behörde war stets mit dem Expansionsdrang von Orafol befasst“, sagt der inzwischen pensionierte Minister. Grundsteinlegungen wechselten sich mit Richtfesten ab.

Doch Orafol wächst nicht nur äußerlich, auch die Umsätze steigen rasant. Eine Zeit lang stellt Orafol auch noch grafische Produkte mit privatem Label von Händlerorganisationen in Deutschland und im europäischen Ausland her, was zur damaligen Zeit ein wichtiger Umsatzträger ist. Mit dem Bau des neuen Werks in Oranienburg wird ein Verschmelzen von Orafol mit Transatlantic im Jahre 2005 sinnvoll.

Schmidbaur habe ihm die Möglichkeit gegeben, sich frei zu entwickeln, so Loclair. „Ich konnte meine unternehmerischen Träume verwirklichen, dafür bin ich ihm sehr dankbar.“ Die beiden hatten vereinbart, dass im Zuge der geplanten Nachfolgeregelung Loclair schrittweise Unternehmensanteile übernimmt. Heute gehören ihm 99 Prozent.

Auch dank Schmidbaur werden insgesamt mehr als 550 Millionen Euro in den vergangenen 28 Jahren in Oranienburg investiert. Der Hidden Champion mit 1.080 Mitarbeitern am Standort Oranienburg und inzwischen rund 2.500 Beschäftigten weltweit und einem Gruppenumsatz von 623 Millionen Euro wird aber von der Landesregierung Brandenburg kaum wahrgenommen.

Einzig der frühere Landrat Schröter würdigt die Leistungen von Orafol und der Mannschaft. Auf die Frage, wie er die geplante Fabrik von Tesla in Brandenburg sieht, sagt Loclair: „Das passt in das Wahrnehmungsmuster der Landesregierung“, und er beklagt, dass seinem Unternehmen als Mittelständler und größtem Arbeitgeber der Region weit weniger Aufmerksamkeit zuteilwerde.

Die expansive Kraft von Orafol ist trotzdem ungebrochen, erst im Herbst hat Loclair eine weitere US-amerikanische Firmengruppe übernommen. Inzwischen ist Orafol auf allen Kontinenten vertreten.

Dabei versucht Loclair stets, die Umwelt im Blick zu behalten und die Erweiterungen des Firmengeländes in die Landschaft einzupassen. Und so sei die Grundsteinlegung im Oranienburger Gewerbepark Nord „der glücklichste Moment meines Unternehmerlebens“ gewesen. Vielleicht kommt 2020 mit dem Einzug in die Hall of Fame der Familienunternehmen noch einer hinzu.