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Berlin stolperte in die Gaskrise. Jetzt bleiben noch drei Monate

(Bloomberg) -- Schloss Bellevue, der Amtssitz des Bundespräsidenten, ist nachts nicht mehr beleuchtet, die Stadt Hannover stellt das warme Wasser in den Duschen ihrer Schwimmbäder und Sporthallen ab, und Kommunen im ganzen Land bereiten Wärmehallen vor, um die Menschen vor künftiger Kälte zu schützen. Und das ist erst der Anfang einer Krise, die sich über ganz Europa ausbreiten wird.

Noch ist Hochsommer, aber Deutschland hat wenig Zeit zu verlieren, um in diesem Winter eine Energieknappheit abzuwenden, die für ein Industrieland beispiellos wäre. Der Großteil Europas spürt die Belastung durch Russlands Lieferbeschränkungen für Erdgas, doch die Menschen zwischen Rhein und Oder, von denen fast die Hälfte auf Gas zum Heizen angewiesen ist, sind am stärksten betroffen.

Unter der Führung von Kanzler Olaf Scholz hat die Bundesregierung sich der Verwundbarkeit Deutschlands nur zögerlich angenommen und erst vor kurzem Ziele für die Senkung der Nachfrage festgelegt. Anstrengungen zur Sicherung einer alternativen Versorgung blieben unzureichend. Die anhaltende Drosselung russischer Lieferungen und Probleme in Frankreich, Strom in Nachbarländer zu exportieren, lassen kaum eine Atempause erwarten. Die Risiken reichen weit über diesen Winter hinaus.

“Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind enorm und sie betreffen bedeutende Bereiche der Wirtschaft und der Gesellschaft”, sagte Robert Habeck , Deutschlands Vizekanzler und Wirtschaftsminister, als er das Gesetz vorstellte, das es Energieunternehmen erlaubt, Preiserhöhungen an die Verbraucher weiterzugeben. “Es ist eine ernste Lage, aber wir sind ein starkes Land und eine starke Demokratie. Das sind gute Voraussetzungen, um diese Krise zu stemmen.”

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Der Kreml wird die Gaslieferungen nach Europa wohl auf einem minimalen Niveau halten, solange der Konflikt um die Ukraine andauert, heißt es von Personen, die mit den Überlegungen der Staatsführung vertraut sind. Das bedeutet, dass es in Europa wahrscheinlich weiterhin zu Engpässen kommen wird. Die Gaspreise haben bereits Rekordstände erreicht.

Mehr zum Thema: Kreml will Europa weiter mit Gas unter Druck setzen: Insider

In Deutschland drohen Rationierung und Rezession, und führende Politiker befürchten soziale Unruhen, falls die Energieknappheit außer Kontrolle gerät. “Unser gesamtes Wirtschaftssystem droht zu kollabieren”, sagte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer von der CDU. “Wenn wir nicht aufpassen, kann es zu einer Deindustrialisierung Deutschlands führen”, warnte er im Interview mit der Zeit.

Deutschland kann nicht einmal auf den Nachbarn Frankreich zählen, wo defekte Atomreaktoren die Gaskrise noch verschärfen. Die Strompreise in den beiden größten europäischen Volkswirtschaften sind letzte Woche auf neue Rekordniveaus gestiegen.

Russland - mit einer Deckung von etwa 40% des Bedarfs traditionell der größte Gaslieferant der Europäischen Union - hat die Versorgung als offensichtliche Vergeltung für die Sanktionen schrittweise reduziert. Die Herausforderung für die EU besteht darin, den Energiefluss über die Grenzen hinweg aufrechtzuerhalten - ein Test für die Einheit der Union und ihre Entschlossenheit, sich der Aggression von Präsident Wladimir Putin zu widersetzen.

“Russlands Politik bestand schon immer darin, zu spalten, denn dann sind sie stärker”, sagte Martins Kazaks, Gouverneur der Zentralbank von Lettland, der ehemaligen Sowjetrepublik, die jetzt zur Eurozone gehört. “Wenn wir uns spalten lassen, dann werden wir schwächer”, sagte er in einem Interview mit Bloomberg.

Der jüngste Schritt Russlands erfolgte in der vergangenen Woche, als Gazprom PJSC ein Turbinenproblem dafür verantwortlich machte, dass der Durchfluss durch die Nord Stream-Pipeline auf etwa 20% der Kapazität zurückgegangen war. In der Folge stiegen die Gaspreise in der vergangenen Woche um über 30% und die Strompreise brachen einen Rekord nach dem anderen.

Habeck bezeichnete die Argumentation von Gazprom als “Farce”, räumte aber ein, dass die Lage ernst sei, und rief Unternehmen und Verbraucher erneut dazu auf, ihre Sparanstrengungen zu verstärken. Um die Lücke zu schließen, hat sein Ministerium die Wiederinbetriebnahme stillgelegter Kohlekraftwerke erlaubt - ein Rückschlag für die Klimaschutzbemühungen - und empfiehlt den Landsleuten, effiziente Duschköpfe zu installieren und Wäsche mit niedrigeren Temperaturen zu waschen.

Sollten die Maßnahmen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage scheitern, kann die Regierung den Notfallplan Gas eskalieren, was bedeuten würde, dass der Staat die Kontrolle über die Verteilung übernimmt und entscheidet, wer den Brennstoff erhält und wer nicht.

Während Haushalte und kritische Infrastrukturen wie Krankenhäuser vor Stromausfällen geschützt sind, gibt es keine Garantie dafür, dass die Raumtemperaturen angenehm bleiben. Deutschlands größter Vermieter hat bereits angekündigt, die Heizung in der Nacht zu drosseln, und in öffentlichen Gebäuden wie dem Reichstag in Berlin werden die Thermostate heruntergedreht.

Die Kostenerhöhungen, die ab diesem Herbst voll durchschlagen werden, verstärken den Druck auf die Armen. Nach Angaben des Kölner Instituts für Wirtschaftsforschung ist bereits jeder vierte Deutsche von Energiearmut betroffen, das heißt die Kosten für Heizung und Beleuchtung beeinträchtigen die Fähigkeit, andere Ausgaben zu decken. Die Regierung arbeitet nun an Hilfsprogrammen für einkommensschwache Haushalte.

Kälteeinbrüche in Europa und Asien würden die Energieunternehmen dazu zwingen, um ohnehin knappes Flüssiggas zu kämpfen. Der Preisanstieg, der sich aus einem solchen Szenario ergeben würde, könnte die Unternehmen dazu veranlassen, ihre Anlagen in diesem Winter zu stoppen, was etwa 17% der industriellen Nachfrage nach dem Brennstoff zerstören würde, so Penny Leake, Analystin bei der Beratungsfirma Wood Mackenzie Ltd. “Wenn die Durchflussmengen von Nord Stream bei 20% bleiben, nähern wir uns der Gefahrenzone”, sagte sie.

Die deutschen Gasspeicher sind inzwischen zu 68% gefüllt. Mit der weiteren Drosselung der russischen Gaslieferungen in der vergangenen Woche dürften die Auffüllraten sinken. Deutschland droht damit den Zielfüllstand von 95% für den 1. November zu verfehlen. Die Bundesnetzagentur warnte bereits, ohne zusätzliche Maßnahmen seien die diesbezüglichen Pläne schwerlich machbar.

Die Unternehmen reagieren bereits. Eine Umfrage des Deutschen Industrie- und Handelskammertags unter 3.500 Unternehmen ergab, dass wegen der Energiekrise 16% der Industriebetriebe erwägen, die Produktion zu drosseln oder bestimmte Tätigkeiten aufzugeben.

Der Spezialchemie-Konzern Covestro erklärte am heutigen Dienstag, eine Rationierung der Gasversorgung könne “je nach Höhe der Kürzung einen Teillastbetrieb oder einen kompletten Stillstand einzelner Produktionsanlagen von Covestro zur Folge haben”. Die Gruppe warnte weiter, dass “aufgrund der engen Verflechtung der chemischen Industrie mit nachgelagerten Branchen bei einer weiteren Verschärfung der Situation mit einem Zusammenbruch ganzer Liefer- und Produktionsketten zu rechnen” ist.

Die BASF SE will die gasintensive Produktion von Ammoniak – einer Schlüsselkomponente für Düngemittel – drosseln, nachdem die Kosten das Geschäft unprofitabel gemacht hatten. Der Chemieriese plant zudem, die Strom- und Dampfproduktion am Hauptstandort Ludwigshafen teilweise auf Heizöl umzustellen. Damit könnte Gas für den Rückverkauf an das Netz freigesetzt werden.

Der amerikanische Düngemittelhersteller CF Industries Holdings Inc. will angesichts der gestiegenen Energiepreise eines seiner Werke in Großbritannien dauerhaft dichtmachen. Der US-Agroriese Cargill Inc. schloss eine britische Ölsaatenverarbeitungsanlage. In Frankreich kündigten Supermärkte wie Carrefour und Monoprix an, ihren Energieverbrauch zu senken.

Laut einer Schätzung des Internationalen Währungsfonds läuft Deutschland Gefahr, 4,8% seiner Wirtschaftsleistung zu verlieren, sollte Russland seine Gaslieferungen ganz einstellen. Die Bundesbank hat den potenziellen Schaden mit 220 Milliarden Euro beziffert.

Energieintensive Industrien werden womöglich eher Regionen mit zuverlässigen erneuerbaren Energiequellen wie Deutschlands windreiche Küsten oder sonnenreiche Gebiete am Mittelmeer als Standorte in Betracht ziehen. Die Industrieregionen entlang des Rheins und im Süden Deutschlands könnten ins Hintertreffen geraten, meint ein leitender Angestellter eines großen deutschen Herstellers. Führungskräfte aus der chemischen Industrie sagen, dass die Produktion in die Türkei verlagert werden könnte, wo es Zugang zu Gaspipelines aus Aserbaidschan gibt.

“Unser gesamtes Wirtschaftssystem droht zu kollabieren”, sagte der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer in einem Interview mit der Wochenzeitung Die Zeit. “Wenn wir nicht aufpassen, kann es zu einer Deindustrialisierung Deutschlands führen”. Bei den gegen Russland verhängten Sanktionen brauche es jetzt “mehr Pragmatismus.” Die meisten Deutschen unterstützen zwar laut Umfragen Hilfe für die Ukraine, aber Kritiker wie Kretschmer könnten bei sinkenden Temperaturen an Einfluss gewinnen.

Mehr zum Thema: Habeck warnt vor ‘Lehman-Effekt’ der russischen Gaskürzungen

Obwohl die Krise bereits seit Monaten andauert, hat die Regierung gerade erst damit begonnen, öffentlich das Ziel zu kommunizieren, die Nachfrage um bis zu 20% zu senken. Und als Zeichen für die wachsende Dringlichkeit hat sie vor kurzem ihr Mindestziel für die Gasspeicherung angehoben, das nun 15 Prozentpunkte über dem EU-weiten Niveau liegt.

Jahrzehntelang argumentierten deutsche Regierungen unter Gerhard Schröder und Angela Merkel, dass die engen Energiebeziehungen zu Russland eher ein Vorteil als eine Belastung seien. Im letztjährigen Wahlkampf bezeichnete Scholz die Kritik der USA an der deutschen Politik als “falsch”, weil sie nicht den gesamten Energiemix berücksichtige. In weiten Teilen des politischen Spektrums des Landes herrschte die Meinung vor, dass Russland, wenn es während des Kalten Krieges die Lieferungen nicht gekürzt hat, dies auch während eines Konflikts mit der Ukraine nicht tun würde.

Die Ukraine-Krise sorgte für einen schmerzhaften Realitätscheck. Wie sich zeigt, unterschätzten die Verantwortlichen Putins Bereitschaft, dieses Druckmittel zu nutzen. Sie verpassten auch eine Entwicklung, die ein klares Warnsignal hätte sein können: Gazprom, das auch über riesige Speicherkapazitäten in Deutschland und Österreich verfügt, hat diese vor dem letzten Winter nicht wieder aufgefüllt. Die Vorbereitungen für die Nutzung von Energie als Waffe fanden vor den Augen Europas statt.

“Wenn wir zurückblicken, sehen wir, dass Russland die Gaslieferungen schon Monate vor dem Ausbruch des Krieges absichtlich so niedrig wie möglich hielt”, sagte Ursula von der Leyen, Präsidentin der Europäischen Kommission. “Russland erpresst uns.”

Scholz begann in den hektischen Tagen vor dem Einmarsch Russlands am 24. Februar das Problem zu erkennen, wie Personen berichten, die mit seinen Überlegungen vertraut sind. Bei seinem Besuch in Moskau am 15. Februar saß der Bundeskanzler an Putins berüchtigtem langen weißen Tisch, etwa sechs Meter vom russischen Präsident entfernt.

Es gab bereits deutliche Anzeichen für Spannungen. Putins beteuerte zwar erneut, dass es sich bei der Nord Stream 2-Pipeline - die bereits fertiggestellt war und auf die Genehmigung zur Inbetriebnahme wartete - um ein “rein kommerzielles Projekt” handele, doch Scholz deutete an, dass er seine Unterstützung im Falle eines Angriffs zurücknehmen könnte.

Wenige Tage später stoppte Scholz das Projekt, nachdem Putin die von Russland unterstützten Provinzen Luhansk und Donezk im Osten der Ukraine als unabhängige Staaten anerkannte. Der Stopp von Nord Stream 2 veranlasste Putins Mitstreiter dazu, düstere Warnungen auszusprechen, und bald darauf rollten Panzer auf Kiew.

Selbst nach der Invasion tat sich Berlin mit einer Reaktion schwer. Die lange verfolgte Politik der Annäherung an Russland und die Abhängigkeit der Industrie von billigem Gas bremsten die Entschlossenheit, wie an den EU-Gesprächen beteiligte Offizielle berichten. Doch diese Ära scheint nun endgültig vorbei.

“Gazprom hat mit seinen Lieferunterbrechungen und -kürzungen das Vertrauen in Russland als zuverlässigen Energielieferanten zerstört”, sagt Mario Mehren, Vorstandsvorsitzender des deutschen Ölkonzerns Wintershall Dea AG. “Das ist eine sehr deprimierende Nachricht.”

Dass es jetzt Deutschland ist, dass Unterstützung braucht, weil es sich nicht an EU-Richtlinien zur Diversifizierung der Energiequellen gehalten hat, reißt alte Bruchlinien in der Union wieder auf. Die Erinnerungen an die Finanzkrise, als Berlin die südlichen Mitgliedstaaten über ihre unverantwortliche Schuldenpolitik belehrte, seien noch sehr lebendig, sagen die EU-Offiziellen.

Italien etwa hat wie Deutschland mehr als die Hälfte seines Erdgases aus Russland bezogen, aber es hat sich schneller um alternative Quellen bemüht, und seine Terminals für den Import von Flüssiggas (LNG) geben dem Land Flexibilität. Das notorisch unter Regierungskrisen leidende Land kann den Winter wohl mit nur geringfügigen Einschnitten überstehen, selbst wenn Russland die Lieferungen vollständig einstellt.

Deutschland ist wegen fehlender LNG-Kapazitäten und höherem Bedarf in einer ungleich schwierigeren Lage. In der Industriestadt Ludwigshafen prüfen die Behörden bereits, welche Infrastruktur im schlimmsten Fall aufrechterhalten werden kann. Die Friedrich-Ebert-Halle, in der normalerweise Messen, Konzerte und Sportevents stattfinden, könnte in eine Wärmehalle umfunktioniert werden, so Bürgermeisterin Jutta Steinruck.

“Wir wissen, dass sich viele Menschen im Moment Sorgen machen”, so Steinruck. “Jeder kann schon von sich aus etwas tun und Energie sparen, wo immer es geht. Jede Kilowattstunde, die wir jetzt sparen, wird uns im Herbst und Winter helfen.”

Überschrift des Artikels im Original:

Germany Has Three Months to Save Itself From a Winter Gas Crisis

(Neu: Covestro-Warnung)

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