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„Barfuß im Winter“: Wie Heidelberg zum weltweiten Pionier für Passivhäuser wurde

Eine Stadt in China überholt Heidelberg – als Standort für die größte Passivhaussiedlung der Welt. Doch um die Klimaziele zu erreichen, reichen solche Vorzeigeprojekte nirgendwo mehr aus.

Besucher begrüßt Yayoi Matsusaka mit einer Verbeugung. Die zierliche Rentnerin, knapp 1,60 Meter groß, trägt eine Maske über Mund und Nase. Im Eingang stehen Hausschuhe parat und zwei Desinfektionsmittel. Der Rundgang durch ihre 98-Quadratmeter-Wohnung offenbart vor allem Dinge, die nicht da sind: kaum Einrichtung, keine Geräusche – und keine Heizkörper.

Das ist der Clou der Wohnung und des Stadtteils, in dem Matsusaka seit 2016 wohnt. In der Heidelberger Bahnstadt stehen ausschließlich Passivhäuser, die wenig CO2 ausstoßen. Herkömmliches Heizen ist hier die absolute Ausnahme.

Statt Heizkörpern sind im Boden und oben in den Wänden Lüftungsschächte eingelassen. Sie regeln die Frischluftzufuhr und den Luftaustausch. 30 Zentimeter dicke Wände und dreifachverglaste Fenster sorgen dafür, dass durch sie keine Energie entweicht. Matsusaka zahlt 1200 Euro warm. Ihre Nebenkosten seien im Vergleich zu vorher, als sie noch in einem herkömmlichen Haus wohnte, um zwei Drittel gesunken.

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Passivhäuser heißen so, weil sich der Wärmebedarf der Gebäude überwiegend aus passiven Quellen wie Sonneneinstrahlung und Körperwärme speist. Laut dem weltweit forschenden und beratenden Passivhaus-Institut in Darmstadt verbraucht ein Objekt 75 Prozent weniger Heizwärme als andere Neubauten und 90 Prozent weniger als ältere Gebäude.

Das Prinzip überzeugt: Architekten und Stadtplaner auf der ganzen Welt orientieren sich daran. In Frankfurt entsteht das erste Krankenhaus. Die Stadt Freiburg baut so seit 2009 alle öffentlichen Gebäude, andere Kommunen sind dem Beispiel gefolgt. Doch das Projekt in Heidelberg ist wesentlich umfangreicher: 116 Hektar misst die Siedlung, bald werden 6800 Menschen hier wohnen.

Zögerliche politische Unterstützung

Die Bahnstadt war lange die größte Passivhaussiedlung der Welt. Bis vor Kurzem mit dem Bau der Bahnstadt Gaobeidian im Norden Chinas begonnen wurde. Dort orientierte man sich nicht nur an der Bauweise, sondern übernahm den Namen gleich mit. Über 20 Hochhäuser sowie mehrere Mehrfamilienhäuser entstehen hier.

Im Kampf gegen den Klimawandel reichen diese Vorzeigeprojekte aber noch lange nicht, sagen Experten wie Wolfgang Feist, Chef des Darmstädter Passivhaus-Instituts. Es müsse noch deutlich mehr Nachahmer geben, um wirklich einen Unterschied auszumachen.

Heidelbergs Oberbürgermeister Eckart Würzner pflichtet ihm bei: Das Projekt Bahnstadt allein werde den Anstieg niemals verhindern, fürchtet er. „Wenn es uns nicht gelingt, ein Modell einer Zukunftsstadt mit zu entwickeln, die klimaneutral ist, bringt unser großartiger Sparansatz global wenig“, sagt er.

Von politischer Seite kommt nur zögerlich Unterstützung. So ging der Passivhaus-Standard jahrelang weit über die gesetzlichen Vorgaben hinaus.

2021 soll sich das ändern: Dann müssen alle Neubauten in der EU, Niedrigstenergiegebäude genannt, laut Gesetzesvorschrift „eine sehr gute Gesamtenergieeffizienz aufweisen“ und den Energiebedarf „soweit möglich, zu einem ganz wesentlichen Teil durch Energie aus erneuerbaren Quellen decken“. Der Brüsseler Beschluss dazu stammt aus dem Jahr 2010. Da waren die Beschlüsse für den Bau der Bahnstadt längst gefasst.

Stillgelegter Güterbahnhof macht Weg für Bahnstadt frei

Oberbürgermeister Würzner ist seit 14 Jahren das Stadtoberhaupt in Heidelberg. Er hat entscheidenden Anteil an der Siedlung. Deswegen nimmt er sich trotz seiner vielen Arbeit Zeit, um zwischen Corona-Besprechungen und Videobotschaften an die Bevölkerung über das Projekt zu sprechen.

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Viele Menschen, sagt er, würden nur allzu gern „einen Beitrag zum Umweltschutz leisten“. Sie wollten vielleicht „nicht gleich zum Bauingenieur werden, aber sie wollen die Nebenkosten reduzieren“. Das sei nicht nur vorteilhaft für Mieter und Eigentümer, sondern ein bisschen auch für die Umwelt. 1997 wird die Bahnstadt möglich: In dem Jahr entscheidet die Deutsche Bahn, ihren Heidelberger Güterbahnhof stillzulegen.

Jahrelang überlegten die Politiker, was mit dem Areal geschehen soll. 2008 beschließt der Gemeinderat auf Initiative des neuen, parteilosen Oberbürgermeisters Würzner, eine Entwicklungsgesellschaft einzurichten, um die Bahn-Flächen zu kaufen. Es habe damals „eine große Aufbruchstimmung“ gegeben unter denen, die sich aus Umweltschutzgründen mit der Thematik befasst haben, erinnert sich Würzner.

Das Problem: Vielen Investoren sei der Aufwand für den Passivhaus-Standard zu hoch und der Ertrag zu niedrig gewesen. Also entscheidet die Stadtverwaltung, selbst „Großentwickler zu werden, das, was normalerweise nur Großkonzerne machen“, sagt Würzner. „Gigantische Summen“ sind im Spiel, das Finanzvolumen übersteigt die Gesamtverschuldung Heidelbergs um das Doppelte.

Insgesamt sind nach Angaben des Oberbürgermeisters bis heute rund zwei Milliarden Euro in das Areal investiert worden, davon 300 Millionen Euro von der Stadt. Ein Passivhaus gilt als teurer als ein herkömmlicher Neubau, wie viel genau, darüber sind sich Experten uneins. Das Passivhaus-Institut spricht von bis zu acht Prozent.

Die Bahnstadt ist das jüngste und kinderreichste Quartier der 15 Stadtteile der baden-württembergischen Studentenstadt. Für junge Familien biete sie „ein perfektes Feld, in dem alle neue Netzwerke suchen“, sagt Würzner.

„Im tiefsten Winter barfuß laufen“

Das hat auch Madeleine und Clemens Kühne überzeugt. Sie gehören zur ersten Bahnstadt-Generation, konnten vor acht Jahren noch den Rohbau ihrer späteren Eigentumswohnung besichtigen. Jetzt wachsen die beiden Kinder der Kühnes auf 140 Quadratmetern und drei Etagen im Passivhaus-Stil auf.

Ihre Entscheidung bereut das Paar nicht. Madeleine sagt, anders als bei ihren Eltern im 70er-Jahre-Bau ziehe es nicht, es sei warm und „im tiefsten Winter kann man barfuß laufen“. Nur die Fußbodenheizung unter den Fliesen im Bad haben sie sich gegönnt.

Der Wert ihres Eigentums hat sich vervielfacht. Inzwischen zahle man fast 5000 Euro pro Quadratmeter, sagt Clemens. Für das Geld, das sie bezahlt haben, bekämen sie heute noch 90 Quadratmeter. Beim Einzug bekommen Neu-Bahnstädter eine Einführung in die Technik – und wie man sie am besten in Ruhe lässt. Schließlich muss man die „Technik einfach arbeiten“ lassen, wie Würzner sagt, und dürfe nicht dauernd das Fenster auf- und wieder zumachen.

Die Bahnstadt erfüllt die Richtlinien des Passivhaus-Instituts, das den global gültigen Standard gesetzt hat. Wer das entsprechende Zertifikat will, muss in erster Linie ein Hauptkriterium einhalten: Der Heizwärmebedarf muss unter 15 Kilowattstunden liegen.

Die Bahnstädter bekommen das hin. Laut einer Untersuchung des Instituts für Energie- und Umweltforschung Heidelberg verursachten sie zuletzt 94 Prozent weniger CO2 für Strom und Fernwärme als die Einwohner Heidelbergs im Durchschnitt. Der Primärenergiebedarf lag bei 80 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr. Darmstadt erlaubt 95.

Kritik an Hitze im Sommer

Trotzdem muss sich auch Würzner Kritik anhören. Wie bei so vielen Bauprojekten sind in der Bahnstadt die Kosten gestiegen. Das neue Konferenzzentrum nimmt statt 65 Millionen Euro nun mindestens 100 Millionen in Anspruch. Das Budget für eine Brücke verdreifachte sich fast.

Ein weiterer Einwand lautet: Die Bahnstadt halte die Hitze im Sommer nicht ab. Heidelberger Umweltforscher belegen in einer im August erschienenen Studie, dass sich die Hitze in der Bahnstadt im Sommer 2018 stärker staute als in der historischen Altstadt. Es gebe zu viele versiegelte, zugepflasterte Flächen in dem neuen Stadtteil und zu wenige, zumal trockene Grünflächen. Der Deutschlandfunk bezeichnete das Modell sogar als „gescheitert“, weil Anwohner über die Hitze klagten.

Passivhaus-Pionier Feist kennt dieses Problem. Helle Flächen, Schatten und viel Grün würden angesichts des fortschreitenden Klimawandels immer wichtiger. In der Bahnstadt habe man das aber weit mehr berücksichtigt als in anderen Neubausiedlungen. Die Folgen des Klimawandels seien nun mal nicht so leicht zu neutralisieren.

Ohnehin erzielt das Heidelberger Projekt global gesehen kaum eine Wirkung – es ist zu klein. In China werde etwa in so „gigantischem Umfang gebaut“, sagt Feist, dass „unsere paar Passivhäuser nicht die Trendwende“ brächten. Vor allem die bevölkerungsreichen Länder, in denen die Energieversorgung teilweise noch gar nicht voll entwickelt ist, müssten bei derartigen Projekten mitmachen.

Und immerhin: In Gaobeidian, knapp 100 Kilometer südlich von Peking, entsteht nun die Bahnstadt nach deutschem Vorbild. Dessen Gesamtwohnfläche beträgt rund 750.000 Quadratmeter. In Heidelberg sind es gut 200.000 Quadratmeter. Das Passivhaus-Institut berät die Chinesen, und eine Delegation von dort hat sich die Heidelberger Bahnstadt angeguckt.

Doch eine Megastadt, wie sie an anderen Stellen in China entstehen, ist Gaobeidian längst nicht. In zehn Jahren werde es weltweit 135 neue Megastädte mit jeweils mehr als zehn Millionen Einwohnern geben, sagt Würzner. Und genau diese Megastädte würden „global darüber entscheiden, wo wir hinsteuern“.