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Angst vor türkischen Konflikten in Deutschland

Der Streit zwischen Ankara und Berlin hat Besorgnis über mögliche Folgen für die Sicherheitslage in Deutschland ausgelöst. Eine Polizeigewerkschaft warnt vor Anschlägen. Die Union sieht den Verfassungsschutz am Zug.

Der Streit zwischen Deutschland und der Türkei spitzt sich gefährlich zu. Politiker und Sicherheitsexperten fürchten, dass innertürkische Konflikte in Deutschland ausgetragen werden könnten. Auslöser ist eine Bombendrohung gegen das Rathaus von Gaggenau (Baden-Württemberg), nachdem die Stadt einen Wahlkampfauftritt des türkischen Justizministers Bekir Bozdag untersagte. Auch wenn die Polizei inzwischen Entwarnung gegeben hat, ist die Sorge groß, dass sich solche Fälle wiederholen – und es womöglich dann nicht mehr bei Drohungen bleibt.

Inzwischen ist auch ein weiterer Auftritt eines türkischen Ministers geplatzt. Wirtschaftsminister Nihat Zeybekci kann am Sonntag nicht wie geplant in Frechen bei Köln auftreten. Der Betreiber habe den Veranstalter informiert, dass er ihm die vorgesehene Halle nicht zur Verfügung stellen werde, teilte die Polizei mit. Nach wie vor wird er am Sonntagnachmittag in Leverkusen bei einer kleineren Veranstaltung erwartet.

Für die Polizei sind solche Auftritte ein Sicherheitsrisiko. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan treibe sein „rechtsstaatlich bedenkliches Spiel nicht nur in der Türkei, er agitiert auch in Deutschland gezielt gegen Kurden, Aleviten und andere System-Gegner“, sagte der Vorsitzende des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK), André Schulz, dem Handelsblatt. „Dadurch kann es passieren, dass es hier bei uns außer zu friedlichen Demonstrationen jederzeit auch zu gewalttätigen Auseinandersetzungen und auch zu Anschlägen kommen kann.“

Die Stadt Gaggenau hatte am Donnerstag eine Veranstaltung mit dem türkischen Justizminister wegen Sicherheitsbedenken in ihrer Veranstaltungshalle abgesetzt. Die türkische Seite reagierte mit massivem Protest. Der Minister wollte für Zustimmung bei dem Referendum über das von Erdogan angestrebte Präsidialsystem werben.

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Die Bundesregierung verteidigte das Verbot des Minister-Auftritts. Die Entscheidung der Kommune sei „ganz sicher im Einklang mit Recht und Gesetz ergangen“, sagte der Sprecher des Auswärtigen Amtes, Martin Schäfer, am Freitag in Berlin. Vize-Regierungssprecherin Ulrike Demmer sagte, die Bundesregierung werde die Entscheidung der Kommune nicht kommentieren, respektiere diese aber.

Schäfer warnte vor einer Eskalation des Streits über Wahlkampfauftritte türkischer Politiker in Deutschland. „Niemand kann ein Interesse daran haben und darf ein Interesse daran haben, dass wir mit der Türkei in Sprachlosigkeit, in einen Dialog nur noch über Medien und in offene Konfrontation verfallen.“ Trotz Meinungsverschiedenheiten dürfe kein Öl ins Feuer gegossen werden.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Patrick Sensburg mahnte die Türkei zur Zurückhaltung. Zugleich plädierte er dafür, notfalls den Verfassungsschutz auf Erdogan-Anhänger anzusetzen. „Die türkische Regierung hat zu akzeptieren, dass auf deutschem Boden zwar die Meinungsfreiheit garantiert ist, eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit aber nicht hingenommen wird“, sagte Sensburg dem Handelsblatt. „Wenn durch die türkische Regierung auf deutschen Boden verfassungsgefährdende Äußerungen getätigt werden, hat auch der Verfassungsschutz die Teilnehmer solcher Veranstaltungen intensiv zu beobachten.“


Deutschland ist wichtigster Handelspartner der Türkei

Der CDU-Innenpolitiker Wolfgang Bosbach plädierte ebenfalls für eine härtere Gangart gegenüber der Türkei. Wenn es jetzt wegen Gaggenau-Entscheidung massive Proteste oder gar Bombendrohungen gebe, „zeigen diese dramatischen Vorgänge erneut, dass wir einen kapitalen Fehler machen, wenn wir es zulassen, dass massive innenpolitische Konflikte zu uns importiert werden“, sagte Bosbach dem Handelsblatt. „Auch wenn knapp 1,5 Millionen türkische Staatsangehörige hier leben, ist Deutschland kein Außenposten der Türkei.“

Bosbach rief die Bundesregierung zum Handeln auf. Erdogan „braucht jetzt eine klare Ansage“, forderte der CDU-Bundestagsabgeordnete. Die Bundesregierung sollte ihm „klarmachen, dass weitere Wahlkampfauftritte türkischer Politiker nicht erwünscht sind“.

Ähnlich äußerte sich der CSU-Innenexperte Hans-Peter Uhl. „Die Politik von Erdogan hin zu einem absolutistisch-autoritären Sultanat muss letztlich zu bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in der Türkei führen. Diese Konflikte dürfen nicht in Deutschland ausgetragen werden“, sagte Uhl dem Handelsblatt. „Dies muss der türkischen Regierung unmissverständlich deutlich gemacht werden.“

Der CDU-Politiker Sensburg gab überdies zu bedenken, was nun auf dem Spiel steht. Die Türkei und Deutschland verbinde eine „große Schnittmenge an Interessen“, sagte er mit Blick auf die wirtschaftlichen Beziehungen beider Länder.

Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Das bilaterale Handelsvolumen erreichte Angaben der Bundesregierung zufolge im Jahr 2015 mit 36,8 Milliarden Euro einen neuen Rekordwert. Die türkischen Exporte nach Deutschland erhöhten sich dabei im Vergleich zu 2014 um 8,4 Prozent auf 14,4 Milliarden Euro, während die Importe aus Deutschland sogar um 16 Prozent auf 22,4 Milliarden Euro anstiegen. Trotz der nachlassenden Dynamik der türkischen Wirtschaft ist das bilaterale Handelsvolumen auch von Januar – August 2016 um etwa 5 Prozent gestiegen.

Die Zahl deutscher Unternehmen beziehungsweise türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei ist inzwischen auf über 6.800 gestiegen. Die Betätigungsfelder reichen von der Industrieerzeugung und dem Vertrieb sämtlicher Produkte bis zu Dienstleistungsangeboten aller Art sowie der Führung von Einzel- und Großhandelsbetrieben. In Deutschland beschäftigen rund 96.000 türkischstämmige Unternehmer etwa 500.000 Mitarbeiter und erwirtschaften einen Jahresumsatz von etwa 50 Milliarden Euro.

Deutschland stand 2015 auch beim Fremdenverkehr in die Türkei an erster Stelle mit einem Anteil von etwa 15 Prozent aller Touristen. Mit 5,5 Millionen Besuchern wurde ein neuer Rekordwert erreicht. Im Zuge des Abschwungs im türkischen Tourismussektor im Jahr 2016 mit einem Besucherrückgang von fast 25 Prozent ist auch die Anzahl der Besucher aus Deutschland zurückgegangen.


Ankara bedrängt deutsche Sicherheitsbehörden

Sensburg betonte, dass auch Europa und die Türkei gemeinsame Interessen hätten, etwa bei der Eindämmung der Flüchtlingskrise. Zudem arbeiteten die deutschen und türkischen Nachrichtendiensten gut zusammen. „Insbesondere die Türkei sollte daher auf Entspannung setzen und nicht auf Konfrontation“, sagte der CDU-Politiker.

Der Polizeigewerkschafter Schulz ist indes überzeugt, dass Deutschland durch den Flüchtlingsdeal „erpressbar“ geworden sei und die türkische Regierung diesen Trumpf natürlich auch ausspiele. Das spüren auch die Sicherheitsbehörden.

„Wir müssen seit einiger Zeit feststellen, dass sich die türkische Botschaft mit impertinenten Schreiben an die hiesige Polizei wendet und sich beschwert, dass wir zu wenig gegen die ‚regierungsfeindlichen Kräfte‘ türkischer Nationalität täten“, sagte Schulz. „Man erwartet von Seiten der türkischen Regierung, dass wir rechtswidrig gegen Oppositionelle und Regierungskritiker in Deutschland vorgehen.“ Aber, betonte Schulz: „Wir lassen uns selbstverständlich nicht vor Erdogans Karren spannen und prüfen jeden Einzelfall sorgfältig.“ Bisher habe sich die Bundesregierung „diplomatisch und sehr verhalten“ zu den Vorfällen geäußert. „Es ist aber an der Zeit, sich deutlich zu positionieren und Erdogan und seine Helfershelfer in Deutschland in ihre Schranken zu weisen“, mahnte der Gewerkschaftschef.

Auch der Chef der Linkspartei, Bernd Riexinger, fordert von der Bundesregierung entschieden Haltung zu zeigen. Er nahm dabei Bezug auf den Fall des „Welt“-Korrespondenten Deniz Yücel. „Den Vorwurf, Propaganda für eine terroristische Vereinigung zu betreiben, setzt die türkische Regierung nicht nur gegen Deniz Yücel sondern massenhaft gegen Presse und Opposition ein“, sagte Riexinger dem Handelsblatt. Die Bundesregierung müsse daher ein klares Zeichen für Demokratie und Menschenrechte setzen. „Sie darf sich nicht weiter zum Komplizen Erdogans machen und muss das PKK-Verbot endlich aufheben.“

Die Bundesregierung ist angesichts der aktuellen Entwicklungen höchst alarmiert. Er sei in „großer Sorge um die deutsch-türkische Freundschaft“, schrieb Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) in einem Brief an seinen türkischen Kollegen Bozdag. Maas warnt Bozdag in dem Schreiben, aus dem der „Spiegel“ zitierte, vor einem „Abbau der Rechtsstaatlichkeit“ in der Türkei. Die Inhaftierung Yücels habe ihn „erschüttert“. „Den Umgang mit Herrn Yücel halte ich für unverhältnismäßig, zumal er sich der türkischen Justiz für Ermittlungen freiwillig zur Verfügung gestellt hatte“, schreibt der SPD-Politiker.


Erdogan-Minister nennt Gaggenau-Absage „faschistisches Vorgehen“

Der SPD-Minister rief die türkische Regierung demnach auf, den Umgang mit Grundrechten und die Verhaftungen zu überdenken. „Wenn sich die Türkei nicht an die europäischen Grundwerte hält, wird eine Annäherung an die Europäische Union immer schwieriger bis unmöglich.“ Bozdag hatte, nach dem sein Auftritt in Gaggenau abgesagt wurde, ein Treffen mit Maas platzen lassen.

Die Entscheidung der Stadt brandmarkte er zudem als „faschistisches Vorgehen“. „Wir dachten, die Berliner Mauer sei schon lange gefallen. Aber wir sehen, dass es in manchen Köpfen in Deutschland immer noch ideologische Berliner Mauern gibt, und es werden neue gebaut“, sagte Bozdag am Freitag bei einer Veranstaltung im ostanatolischen Malatya.

Außenminister Mevlüt Cavusoglu warf Deutschland nach der Absage von Wahlkampfauftritten türkischer Minister vor, ein Präsidialsystem in der Türkei verhindern zu wollen. „Sie wollen nicht, dass die Türken hier Wahlkampf führen, denn auch sie arbeiten auf ein Nein hin“, sagte Cavusoglu in Ankara mit Blick auf Deutschland. „Sie wollen einer starken Türkei den Weg versperren.“

Cavusoglu warnte Deutschland vor Konsequenzen. „So kann es nicht weitergehen“, sagte er. „Wenn Sie mit uns arbeiten wollen, müssen Sie lernen, wie Sie sich uns gegenüber zu verhalten haben.“ Die Türkei werde die Behandlung ansonsten „ohne Zögern mit allen Mitteln“ erwidern. „Dann müssen Sie an die Folgen denken.“ Welche Folgen das sein könnten, sagte er nicht.

KONTEXT

Die schwierigen deutsch-türkischen Beziehungen

Flüchtlingspakt

Ankara droht immer wieder damit, die Zusammenarbeit mit der EU in der Flüchtlingskrise aufzukündigen. Hintergrund ist unter anderem eine EU-Forderung, die Türkei müsse ihre Anti-Terror- Gesetze reformieren, damit diese nicht politisch missbraucht würden. Ohne diese Reform will die Europäische Union die Visumpflicht für Türken nicht aufheben - ohne Visumfreiheit aber fühlt sich Staatschef Recep Tayyip Erdogan nicht an das Flüchtlingsabkommen gebunden.

Militärputsch

Die Türkei ist verärgert darüber, dass sich nach dem gescheiterten Putschversuch im Juli 2016 zunächst keine hochrangigen Mitglieder der Bundesregierung zum Solidaritätsbesuch haben blicken lassen. Im November reiste dann Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) nach Ankara. Er kritisierte aber auch Maßnahmen in dem Ausnahmezustand, unter anderem die Einschränkung der Pressefreiheit.

Auslieferung

Ankara fordert die Auslieferung mutmaßlicher Anhänger des Predigers Fethullah Gülen in Deutschland, gegen die in der Türkei ermittelt wird. Die türkische Regierung macht Gülen für den Putschversuch verantwortlich.

Verhaftungen

Elf Parlamentarier der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP sitzen in Untersuchungshaft, darunter deren Chefs Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag. Erdogan hält sie für den verlängerten Arm der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK. Die Bundesregierung sieht mit dem Vorgehen gegen die Parlamentarier "alle internationalen Befürchtungen" bestätigt. Apropos PKK: Ankara fordert ein härteres Vorgehen gegen PKK-Anhänger in der Bundesrepublik und wirft Deutschland sogar vor, deren Anhänger zu schützen. In Deutschland ist die PKK ebenfalls verboten und gilt als Terrororganisation.

Pressefreiheit

Auf der Rangliste der Pressefreiheit von Reporter ohne Grenzen lag die Türkei schon vor dem Putschversuch und dem anschließend verhängten Ausnahmezustand auf Platz 151 von 180 Staaten. Seitdem sind Dutzende weitere Medien geschlossen worden. Zahlreiche regierungskritische Journalisten sitzen in Haft, darunter zehn Mitarbeiter der "Cumhuriyet".

Asylanträge

Erst vor wenigen Tagen haben etwa 40 in Nato-Einrichtungen stationierte türkische Soldaten - größtenteils ranghohe Militärs - in Deutschland Asyl beantragt. Die Türkei hat Deutschland aufgefordert, die Asylanträge abzulehnen, ansonsten würde das "sehr ernste Folgen mit sich bringen". Nach türkischen Angaben werden die Soldaten beschuldigt, Teil einer Organisation zu sein, die für den Putschversuch verantwortlich sein soll.

Präsidialsystem

Das Parlament in Ankara stimmte einer Verfassungsänderung für ein Präsidialsystem zu, das Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan mehr Macht verleihen und das Parlament schwächen würde. Die Reform muss in einer Volksabstimmung Ende März oder Anfang April noch eine einfache Mehrheit bekommen. Mit der Reform würde auch der Einfluss des Präsidenten auf die Justiz zunehmen. Nach Ansicht des Deutschen Anwaltvereins (DAV) gibt es schon jetzt faktisch keine unabhängige Justiz mehr in der Türkei.

Armenier-Resolution

Im Juni 2016 beschloss der Bundestag eine Resolution, die die Gräuel an den Armeniern im Osmanischen Reich vor 100 Jahren als Völkermord einstuft. Die Türkei reagierte erbost und unter anderem mit einem Besuchsverbot für deutsche Parlamentarier für die Militärbasis Incirlik, wo Bundeswehrsoldaten stationiert sind. Kanzlerin Angela Merkel erklärte im September, die Resolution sei für ihre Regierung rechtlich nicht bindend - das war aus Sicht Ankaras die geforderte Distanzierung von dem Beschluss und aus Sicht von Bundestagsabgeordneten ein Einknicken Merkels vor Erdogan. Das Besuchsverbot wurde aufgehoben, vergessen ist die Resolution nicht.

DITIB-Affäre

Die Türkisch-Islamische Anstalt für Religion (Ditib) soll Gülen-Anhänger in Deutschland bespitzelt haben. Die Ditib hat inzwischen eingeräumt, dass Imame des Verbands Informationen über Gülen-Anhänger nach Ankara geschickt haben. Die Spitzelaffäre hat in Deutschland Empörung ausgelöst.

KONTEXT

Die Türkei und die EU - (Kein) weiter so?

Was verlangt das EU-Parlament?

Eine breite Mehrheit der Europaabgeordneten will, dass die Gespräche mit der Türkei über einen Beitritt zur Europäischen Union (EU) "vorübergehend eingefroren" werden. Das heißt: "Wir hören auf, über offene Verhandlungskapitel (Politikbereiche) zu sprechen und öffnen keine neuen", erklärt die Türkei-Berichterstatterin des Europaparlaments, Kati Piri. Führt die Türkei die Todesstrafe wieder ein, sollen die Gespräche automatisch suspendiert werden.

Für wie lange sollen die Gespräche auf Eis gelegt werden?

Sobald die Türkei den Ausnahmezustand aufgehoben hat, wollen die Abgeordneten neu bewerten, ob das Land zu Rechtsstaatlichkeit und Respekt der Menschenrechte zurückgekehrt ist. Den massenhaften Festnahmen und Entlassungen in der Folge des Putschversuchs von Mitte Juli wollen die Abgeordneten jedenfalls nicht tatenlos zusehen.

Was haben die EU-Abgeordneten in der Sache überhaupt zu sagen?

Ihre Aufforderung bindet die EU-Kommission, die die seit 2005 laufenden Beitrittsgespräche führt, nicht. Eigentlich wäre es aber an der Brüsseler Behörde, bei einem "schwerwiegenden und anhaltenden Verstoß" der Türkei gegen europäische Grundwerte eine Suspendierung zu empfehlen. Am Ende liegt die Entscheidung bei den EU-Staaten.

Werden die Mitgliedstaaten der Aufforderung nachkommen?

Wahrscheinlich nicht. "Die Mitgliedstaaten (sind) bislang nicht gewillt (...), drastische Schritte zu setzen", sagte der für die Beitrittsverhandlungen zuständige EU-Kommissar, Johannes Hahn, während der Plenardebatte. Ein Grund für die Zurückhaltung dürfte die Flüchtlingspolitik sein. Die enge Zusammenarbeit mit der Türkei ist neben der Abschottung der Balkanroute ein Grund dafür, dass derzeit vergleichsweise wenige Menschen nach West- und Mitteleuropa kommen.

Hätte das Europaparlament noch weiter gehen können?

Es hätte auf wirtschaftlichen Druck ausüben können. Mögliche wäre etwa, die Gespräche über eine Erweiterung der Zollunion auszusetzen. Das Parlament warnt Ankara in der Resolution ausdrücklich davor.

Welche Reaktion der Türkei ist zu erwarten?

Erdogan hat gar nicht erst auf die Abstimmung über die Resolution gewartet. "Ich rufe allen, die uns vor den Bildschirmen zusehen, und der ganzen Welt zu: Egal wie das Resultat ausfällt, diese Abstimmung hat für uns keinen Wert", sagte er am Mittwoch. Ohnehin hegt Erdogan eine tiefe Abneigung gegen das Europaparlament, dem er Unterstützung der verbotenen kurdischen Arbeiterpartei PKK vorwirft.

Rechnet Erdogan überhaupt noch mit einem EU-Beitritt?

In absehbarer Zeit sicherlich nicht. Erst kürzlich forderte er von der EU eine Entscheidung über einen Abbruch oder eine Fortsetzung der Beitrittsverhandlungen bis zum Ende des Jahres. Sonst will er in einem Referendum darüber entscheiden lassen, ob die Gespräche fortgeführt werden sollen. Zudem hat er deutlich gemacht, dass die EU aus seiner Sicht nicht alternativlos ist - und eine Annäherung an Russland und China ins Spiel gebracht.