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„Prinzip Gießkanne funktioniert nicht“: Ärztebündnis stellt sich gegen Merkels Corona-Kurs

Ein Teil der organisierten Ärzteschaft fordert in einem Positionspapier einen Strategiewechsel in der Pandemie. Zahlreiche Verbände warnen vor einem neuen Lockdown.

Die Ärzteverbände halten den Ansatz der Politik, „reflexartig“ wieder auf Lockdowns zu setzen, für falsch. Foto: dpa
Die Ärzteverbände halten den Ansatz der Politik, „reflexartig“ wieder auf Lockdowns zu setzen, für falsch. Foto: dpa

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzt auf harte Einschränkungen des öffentlichen Lebens, um die steigenden Infektionszahlen in der Corona-Pandemie wieder in den Griff zu bekommen. Dieser Kurs stößt in der deutschen Ärzteschaft auf deutliche Kritik.

In einem am Mittwoch veröffentlichten Positionspapier fordern zahlreiche Berufsverbände einen Strategiewechsel in der Pandemiepolitik und einen Verzicht auf weitere Lockdowns. Der Schwerpunkt müsse künftig auf dem Schutz von Risikogruppen liegen, die Bevölkerung mit Geboten statt Verboten mitgenommen werden.

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Initiatorin des Papiers ist die Kassenärztliche Bundesvereinigung (KBV) – die Vertretung aller in der gesetzlichen Krankenversicherung tätigen niedergelassenen Mediziner. Auf der Liste der Unterstützer stehen rund 50 weitere Verbände, vom Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte über die Bundespsychotherapeutenkammer bis zum Spitzenverband der Fachärzte.

KBV-Chef Andreas Gassen sagte bei der Vorstellung des Papiers, die Pandemie müsse ernst genommen und dürfe nicht verharmlost werden. Falsch sei aber, „nur mit düsterer Miene apokalyptische Bedrohungsszenarien aufzuzeigen“. Statt eines „Überbietungswettbewerbs“ bei den Maßnahmen sei ein „realistisches, medizinisch begründetes“ Vorgehen nötig.

Gassen forderte „zielgerichtete Maßnahmen“ zum Schutz von Hochbetagten und Menschen mit Vorerkrankungen, die ein größeres Risiko eines schweren Krankheitsverlaufs haben. „Das Prinzip Gießkanne funktioniert nicht. Eine pauschale Lockdown-Regelung ist weder zielführend noch umsetzbar.“

FDP-Chef Christian Lindner forderte eine „ernsthafte Debatte“ über das Ärztepapier. „Die Corona-Strategie der Regierung ist offensichtlich nicht alternativlos“, sagte Lindner dem Handelsblatt.

„Die jetzigen Freiheitseinschränkungen sind sehr pauschal und sehr weitgehend. Wenn Gesundheitsschutz mit größeren Freiräumen und geringeren sozialen Folgeschäden möglich ist, sollte das daher dringend geprüft werden.“

Kritik an dem Papier kam vom SPD-Gesundheitsexperten Karl Lauterbach. „Es erweckt den Eindruck, dass man das normale Leben ungeschützt laufen lassen könne, wenn wir uns auf die Risikogruppen konzentrieren.“ Das sei falsch.

„Wir wissen aus Studien, dass Sars-CoV-2 auch bei Menschen mit mittelschweren Verläufen Langzeitschäden etwa an Nieren und Lunge verursachen kann. Es geht um mehr, als nur den Tod von Risikogruppen zu verhindern“, sagte Lauterbach dem Handelsblatt. Es werde auch nicht möglich sein, die Risikogruppen in einem Land wie Deutschland dauerhaft zu isolieren oder wirksam zu beschützen.

„Wenn man die für einen schweren Verlauf relevanten Altersgruppen und Vorerkrankungen zusammennimmt, dann sprechen wir über 40 Prozent der Bevölkerung. Das kann nicht dargestellt werden“, so der SPD-Politiker. Der zusätzliche Schutz für Risikogruppen sei notwendig, könne den Schutz der restlichen Bevölkerung aber nicht ersetzen.

Große Probleme für Gesundheitsämter

Seit dem frühen Mittwochnachmittag berät Merkel mit den Ministerpräsidenten über neue Maßnahmen in der Pandemie. Das Kanzleramt strebt einen Teil-Lockdown an: Freizeiteinrichtungen und Gastronomie sollen dichtgemacht, die Kontaktbeschränkungen verschärft werden.


Die Gesundheitsämter haben zunehmend Probleme, alle Kontakte von Infizierten nachzuverfolgen und die Infektionsketten zu unterbrechen. Die Sorge im Kanzleramt ist: Ein unkontrolliertes Ausbruchsgeschehen könnte mit etwas Verzögerung auch zu überfüllten Intensivstationen und steigenden Todeszahlen führen.

Die Ärzteverbände halten den Ansatz der Politik, „reflexartig“ wieder auf Lockdowns zu setzen, für falsch. Bereits im Sommer habe bei niedrigen Fallzahlen das Infektionsgeschehen nicht vollkommen nachverfolgt und eingedämmt werden können, steht in dem Positionspapier. „Bedingt durch die Saisonalität des Infektionsgeschehens, die Verlagerung der Aktivitäten von draußen nach drinnen sowie die erhöhte Infektanfälligkeit in den Herbst- und Wintermonaten ist mit höheren Fallzahlen als im Frühjahr und Frühsommer zu rechnen.“

Der Rückgang der Fallzahlen sei politisch zwar eine „dringende Aufgabe, aber nicht um jeden Preis“. Andere dringliche medizinische Behandlungen würden unterlassen. Auch gebe es „ernst zu nehmende Nebenwirkungen bei Kindern und Jugendlichen durch soziale Deprivation und Brüche in Bildungs- und Berufsausbildungsgängen, den Niedergang ganzer Wirtschaftszweige, vieler kultureller Einrichtungen und eine zunehmende soziale Schieflage als Folge“.

Virologe: Gebote statt Verbote

Der Hamburger Virologe Jonas Schmidt-Chanasit, der an dem Papier mitgearbeitet hat, sagte, dass „Basisregeln“ wie Abstand, Hygiene und Alltagsmasken eigentlich „vollkommen ausreichend“ seien, um die Pandemie gut zu überstehen. Die Kooperation der Bevölkerung erreiche man dabei eher mit Geboten als mit Verboten. Schmidt-Chanasit sieht Versäumnisse der Politik, die Menschen über die Regeln aufzuklären, „gerade auch in den Zielgruppen, die nicht so gut Deutsch sprechen“.

„Ein vierwöchiger Lockdown wird unter großen Nebenwirkungen dazu führen, dass die Fallzahlen nach unten gehen“, sagte Schmidt-Chanasit. Danach sei man aber wieder am gleichen Punkt wie vorher, es fehle an einer langfristigen Perspektive.

Die Aussagen einiger Politiker, mit den neuen Einschränkungen solle ein Weihnachtsfest im Familienkreis ermöglicht werden, hält der Virologe für unsinnig. „Weihnachten ist aus Pandemiesicht an den Haaren herbeigezogen.“ Das Virus werde nicht verschwinden und auch im nächsten Jahr zu Weihnachten noch eine Herausforderung sein.

Im Positionspapier heißt es: „Wir müssen uns ehrlich eingestehen: Dieses Virus wird uns die nächsten Jahre begleiten.“ Auch ein Impfstoff werde nur ein Mittel unter vielen zur Bekämpfung der Pandemie sein. Bisher sei erst einmal ein Virus durch einen Impfstoff über jahrzehntelange Impfkampagnen ausgerottet werden.

Eine langfristige Strategie muss nach Ansicht der unterzeichnenden Ärzteverbände die Risikogruppen stärker in den Fokus nehmen. „Aus unserer Sicht wurde es über die Sommermonate leider versäumt, analog zu den Konzepten der Arztpraxen maßgeschneiderte und allgemeingültige Präventionskonzepte für vulnerable Gruppen zu entwickeln“, steht in dem Papier.

Ein Beispiel für Schutzmaßnahmen sei, dass Besucher in Seniorenheimen, Pflegeheimen und Krankenhäusern nur nach negativem Antigen-Schnelltest Zutritt erhalten. Zudem sollten dort FFP2-Masken mit hoher Schutzwirkung getragen werden.

Förderung von Hygienekonzepten

Auch außerhalb von Einrichtungen könnten diese Masken an Menschen mit einem erhöhten Covid-Risiko verteilt werden. Wichtig seien auch staatliche Unterstützungsangebote oder Nachbarschaftshilfen für Menschen, die sich möglichst wenig in die Öffentlichkeit begeben wollen.

Eine weitere Forderung in dem Papier lautet: Statt Ausgangssperren zu verhängen oder Veranstaltungen zu verbieten, müssten Hygienekonzepte stärker gefördert werden. „Gesellschaftlich und infektionsepidemiologisch ist es besser, wenn Menschen sich in öffentlichen Räumen mit Hygienekonzepten unter optimalen Bedingungen treffen, als dass sich die sozialen Begegnungen in vergleichsweise weniger sichere private Innenräume verlagern.“

Die Ärzteschaft spricht sich auch für einen bundesweit einheitliches Ampelsystem aus, um die Gefahrenlage in der Pandemie bis auf Kreisebene besser einzuschätzen. Damit nehmen die Verbände einen Vorschlag des Bonner Virologen Hendrik Streeck auf, der ebenfalls an dem Papier mitgewirkt hat.

Statt nur auf Neuinfektionen zu schauen, müssten „alle relevanten Kennzahlen wie Infektionszahlen, Anzahl der durchgeführten Tests, stationäre und intensivmedizinische Behandlungskapazitäten“ in die Bewertung einfließen.

Nordrhein-Westfalen ist in Deutschland am stärksten von der Pandemie betroffen. Foto: dpa
Nordrhein-Westfalen ist in Deutschland am stärksten von der Pandemie betroffen. Foto: dpa