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Nach dem langen Abschied vom Atom setzt Deutschland jetzt auf grünen Strom

(Bloomberg) -- Zur selben Zeit, da heute Abend gegen 22 Uhr das Finale der 20. Staffel von Deutschland sucht den Superstar auf seinen Höhepunkt zusteuert, beginnt 15 Minuten flussabwärts des niederbayrischen Landshut ein weniger spektakuläres, aber weitaus folgenreicheres Finale: Im Atomkraftwerk Isar-2 wird der Schalter umgelegt, der nach sechs Jahrzehnten die Nuklearenergie in Deutschland endgültig herunterfährt.

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Rund 45 Minuten später wird die Stromerzeugung auf 30% der Kapazität gesunken sein und der Meiler sich automatisch vom nationalen Stromnetz abmelden. Bei den anderen beiden noch laufenden Anlagen — Neckarwestheim-2 nahe Heilbronn und Emsland im gleichnamigen nordwestdeutschen Landkreis — werden zu diesem Zeitpunkt ähnliche Abschaltprozesse eingeleitet worden sein. Bis Mitternacht, so ist es geplant, sind alle drei ausgeknipst. Schicht im Schacht, wie man bei der Vorgängertechnologie Kohle gesagt hätte.

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In jenen sechs Jahrzehnten wogte die öffentliche Meinung in Deutschland vielleicht mehr noch als anderswo zwischen Hoffnung auf fast grenzenlose saubere Energie und Todesangst vor dem Super-Gau hin und her — bis zum Schluss. Nun lautet die Herausforderung für Industrie und Haushalte, ohne Atomstrom und russisches Gas auszukommen — während der Ausbau erneuerbarer Energieproduktion zu langsam vorankommt.

Der Ausstieg aus der Atomkraft — gesetzlich festgeschrieben unter der ersten rot-grünen Bundesregierung 2002 und finalisiert unter Angela Merkel 2011 — liegt international nicht wirklich im Trend. Im Gegenteil erlebt die Kernenergie fast so etwas wie eine Renaissance.

Die Sorge um die Erderwärmung übertrumpft inzwischen bei vielen die um den Strahlentod, was manchen die CO2-Ausstoß-freie Kernenergie als die bessere Übergangstechnologie erscheinen lässt. Putins Krieg gegen die Ukraine lastet zusätzlich auf der Alternative Erdgas. Schon sorgen sich Kritiker der Abschaltung, dass nun tonnenweise der Klimasünder Kohle verfeuert werden muss, allen voran ausgerechnet die Ikone der Klimaschützer, Greta Thunberg.

Für einen kurzen Moment im vergangenen Jahr, als die russische Invasion Bundeskanzler Olaf Scholz dazu brachte, an einigen Tabus der deutschen Politik zu rütteln, schien die Idee gar nicht einmal so verwegen, dass auch der Atomausstieg wackeln könnte. In seiner “Zeitenwende”-Rede drei Tage nach Kriegsbeginn verkündete Scholz eine massive Erhöhung der Rüstungsausgaben und brach öffentlich mit Moskau. Da Frieden und Stabilität Europas auf dem Spiel standen, schien sogar die lange gehegte Abneigung gegen die Kernenergie zur Debatte zu stehen.

Doch daraus wurde nichts. Alles, worauf sich die Ampel mit Ach und Krach einigen konnte, war eine Gnadenfrist von gut 100 Tagen für die letzten drei Reaktoren. Der Beschluss war so schwierig, dass keiner der Koalitionspartner ernsthaft versuchte, ihn noch einmal aufzumachen.

Die Gründe dafür sind politischer und logistischer Natur. Nach fast zwei Jahrzehnten in der Opposition sind die Grünen nun wieder in der Regierung vertreten. Und für die Ökopartei gehört der Widerstand gegen die Kernenergie nach wie vor zum Gründungsmythos. Wirtschaftsminister Robert Habeck wehrte sich bis zum Schluss gegen die auch nur kurzzeitige Verlängerung der Laufzeit.

Habeck und die grüne Umweltministerin Steffi Lemke halten nach wie vor die Risiken der Kernkraft für weitaus größer als die möglichen Vorteile. Lemke hob in einem Interview mit Bloomberg hervor, dass die Abkehr von der “hochriskanten Energieform” nicht die Energieversorgung gefährde. Die Beseitigung des Risikos “verheerender Umweltkatastrophen” durch die Kernkraft mache das Land letztlich sicherer.

Die Abschaltung der drei Atommeiler zieht den Schlussstrich unter einen jahrzehntelangen Prozess der Abkehr von der Atomenergie. Auf dem Höhepunkt im Jahr 2000 machte sie fast 30% der deutschen Stromerzeugung aus. Im letzten Jahr waren es noch 6% und jetzt, kurz vor der Abschaltung weniger als 4% — ein Betrag, der laut Mario Ragwitz, Leiter der Fraunhofer-Einrichtung für Energieinfrastrukturen und Geothermie, “in etwa dem entspricht, was im nächsten Jahr an Solar- und Windenergie hinzukommen wird”.

Doch das wird nicht reichen, um den Strombedarf in Deutschland zu decken. Um einen Engpass zu vermeiden, muss Deutschland dann aus Nachbarländern wie Frankreich importieren — Atomstrom natürlich. Im kommenden Winter dürfte Frankreich, das seit mehr als einem Jahr mit Reaktorreparaturen und -ausfällen zu kämpfen hat, aber kaum genug liefern können, womit, wie in diesem Winter auch, die Kohleverbrennung wieder ins Spiel kommen könnte.

Im Vergleich zum letzten Jahr, so Ragwitz, verfügt Deutschland jetzt über “mehr gespeichertes Gas, mehr Gas-Importkapazitäten und zusätzliche Kohlekraftwerke”.

Tatsächlich hat die Bundesregierung nach dem russischen Angriff in Rekordzeit mehrere neue Flüssiggasterminals aus dem Boden gestampft. Doch beim Bau neuer Solar- und Windkraftanlagen beklagen die Betreiber weiterhin zu viel Bürokratie, langwierige Verfahren und rechtliche Hürden.

Die notwendige Abwägung zwischen einerseits sauberen, andererseits sicheren Energiequellen zeigt, wie Deutschland an mehreren Fronten um seine emissionsfreie Zukunft ringt. Zusätzlich zu den Kernkraftwerken will die Ampel auch die Emissionsschleudern Kohlekraftwerke bis zum Ende des Jahrzehnts abschalten und damit acht Jahre früher als geplant. Neu gebaut werden sollen vor allem solche Gaskraftwerke, die später auf Wasserstoff umgestellt werden können.

​Deutschland ist nicht das einzige Land, das sich zum Ausstieg aus der Kernenergie entschlossen hat — Italien hat die Technologie 1990 aufgegeben. Litauen hat kürzlich den Rückbau seiner Reaktoren aus der Sowjetzeit auf den Weg gebracht, die seit über einem Jahrzehnt stillstehen. Österreichs einziger Reaktor — baugleich mit Isar-2 — ging nach einer Volksabstimmung 1978 nie in Betrieb und dient seitdem als Museum.

Doch in vielen entwickelten Ländern erlebt die Kernkraft einen Aufschwung.

Am Sonntag wird der neueste und größte Reaktor Europas in Finnland die reguläre Produktion aufnehmen. Der 1.600-Megawatt-Block Olkiluoto-3, dessen Fertigstellung sich um Jahre verzögert hatte, sollte ursprünglich am Montag in Betrieb gehen. Frankreich plant mindestens sechs neue Reaktoren bis 2050 und experimentiert auch mit kleinen modularen Anlagen. Großbritannien hat ähnliche Pläne. Und selbst in Japan erwärmt sich die Öffentlichkeit ein Jahrzehnt nach dem verheerenden Unfall in Fukushima wieder für die Kernenergie. Die Regierung in Tokio will die Reaktoren, die seit der Katastrophe stillstehen, wieder in Betrieb nehmen und ihre Lebensdauer verlängern.

In vielen Fällen laufen Kernkraftwerke freilich vor allem deshalb weiter, weil es so schwer ist, sie abzustellen. Wenn die Deutschen am Sonntag mit einem neuen Superstar, aber ohne Kernenergie aufwachen, stehen sie auch vor der Frage, was mit den stillgelegten Anlagen selbst passieren soll. Der Rückbau der nuklearen Infrastruktur - und die Suche nach geeigneten Standorten für die Lagerung radioaktiver Abfälle - ist ein komplizierter Prozess, dessen Umsetzung Jahrzehnte dauern kann, und bisher gibt es nicht viele erfolgreiche Beispiele.

Eine Ausnahme ist das unterfränkische Großwelzheim, das nun drei Generationen industrielle Energiegeschichte miteinander verbindet. Auf die Braunkohlegrube Zeche Gustav folgte 1960 das erste kommerzielle deutsche Atomkraftwerk Kahl, das 2010 nach 25 Jahren Betrieb vollständig abgebaut wurde. Nun ist der Standort wieder im Geschäft: Er beherbergt Hersteller von Batterien für E-Autos und Komponenten für Ladestationen. Bei deren eigener Stromversorgung helfen Solarpaneele auf den Dächern.

Überschrift des Artikels im Original:

Germany Retires Nuclear Plants in Hopes of Greener Pastures (1)

--Mit Hilfe von Jan-Patrick Barnert.

(Neu: Finnland zieht Einschaltung von Olkiluoto-3 vor. Eine frühere Version korrigierte Details zu französischen Plänen für modulare Reaktoren.)

©2023 Bloomberg L.P.