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IfW-Chef: „Das Brexit-Drama ist noch nicht beendet“

Felbermayr sieht trotz der Einigung „großes Misstrauen“ zwischen der EU und Großbritannien. Er warnt vor den ökonomischen Langfristfolgen der Trennung – für beide Seiten.

Der IfW-Chef sieht in dem Brexit-Vertrag kein Ende des Chaos Rund um den Austritt Großbritanniens. Foto: dpa
Der IfW-Chef sieht in dem Brexit-Vertrag kein Ende des Chaos Rund um den Austritt Großbritanniens. Foto: dpa

Der Willen ist da - das ist schon eine sehr positive Nachricht, sagt der Chef des Instituts für Weltwirtschaft, Gabriel Felbermayr im Gespräch mit dem Handelsblatt. Aber viele Probleme blieben ungelöst. „Für die deutsche Wirtschaft wurde das schlimmste mit diesem Vertrag verhindert“, so Felbermayr.

Trotzdem werde es Schwierigkeiten in den Lieferketten geben: „Zollfreiheit heißt ja mitnichten, dass es keine Zollformalitäten gibt. Zollfrei darf nur gehandelt werden, was den sogenannten Ursprungsregeln genügt. Nur eine Zollunion hätte dieses Problem ausgeräumt.“

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Lesen Sie hier das ganze Interview:

Vier Jahre Brexit-Drama scheint mit dem jetzigen Kompromiss ein Ende zu haben. Es gibt einen Freihandelsvertrag. Was halten Sie von der Lösung?
Ich bin sehr erleichtert. Es wird keine Zölle und mengenmäßige Beschränkungen geben. Das ist klar besser als ein Zustand, in dem nach WTO-Regeln gehandelt worden wäre. Aber wie gut die Lösung wirklich ist, hängt von den Details ab. Hier muss die Analyse erst beginnen. Und ob das Drama nun wirklich zu Ende ist, muss man sehen.

Was konkret befürchten Sie? Wo könnte es noch Probleme geben?
Nordirland verbleibt ja de facto in der EU Zollunion. Das wird innenpolitisch im Vereinigten Königreich für Diskussionen sorgen; Streitigkeiten mit Brüssel über Interpretation und Implementierung des Textes sind vorprogrammiert.
Auch innerhalb der EU ist die Sache noch nicht ausgestanden, weil die Kosten des Deals für unterschiedliche Länder ganz Unterschiedliches bedeutet. Alle EU-Länder müssen zustimmen; und wenn gemischte Kompetenzen berührt sind, müssen auch die nationalen Parlamente zustimmen. Ob dies der Fall ist, ist noch gar nicht klar. Auf jeden Fall sind weitere Verhandlungen mit London sehr wahrscheinlich.

Das klingt nicht so euphorisch. Der jetzige Kompromiss ist also doch nicht der Durchbruch, als der er gefeiert wird – und damit womöglich doch noch keine gute Basis für die künftigen bilateralen Beziehungen.
Es wurde viel Porzellan zerschlagen. Das gegenseitige Misstrauen ist hoch. Drohungen, notfalls die Marine gegen EU-Fischerboote einzusetzen, und dann die französische LKW-Blockade als Antwort auf die Coronavirus-Mutation in England: solche Dinge wirken nach. Das ist für die zukünftige Zusammenarbeit sicher eine Belastung.

Was bedeutet die jetzige Einigung für die deutsche Wirtschaft?
Für die deutsche Wirtschaft wurde das schlimmste mit diesem Vertrag verhindert. Die Belastung bei manchen deutschen Schlüsselprodukten wie beiderseitig Zölle von zehn Prozent auf Autos wäre hoch gewesen. Trotzdem wird es Probleme in den Lieferketten geben: Zollfreiheit heißt ja mitnichten, dass es keine Zollformalitäten gibt. Zollfrei darf nur gehandelt werden, was den so genannten Ursprungsregeln genügt. Neben neuen Bürokratiebelastungen wird es hier für manche deutsche Unternehmen zu einer erzwungenen Umgestaltung von Lieferketten kommen, um die Ursprungsregeln einzuhalten.
Das wird die Kosten erhöhen. Nur eine Zollunion hätte dieses Problem ausgeräumt. Ex-Premierministerin Theresa May war dafür offen. Hier hätte die EU rechtzeitig Zugeständnisse machen müssen. Nach der Übernahme des Dossiers durch Boris Johnson war die Zollunion vom Tisch. Leider.

Manche beklagen, die Briten profitierten weiter fast ohne Einschränkungen vom großen Binnenmarkt, ohne Verpflichtungen zu übernehmen. Ist das gerecht? Was meinen Sie?
Es gibt keinen objektiven Maßstab dafür, was gerecht ist. Mir scheint aber, dass man kaum als gerecht verkaufen hätte können, wenn man den Briten Rechte vorenthält, die man den Kanadiern oder den Japanern oder auch der Ukraine eingeräumt hat.

Und außerdem gibt es Einschränkungen. Die Ursprungsregeln habe ich schon genannt. Im für das Vereinigte Königreich so wichtigen Dienstleistungshandel bietet das Abkommen relativ wenig. Alle Studien zeigen, dass das Königreich auch durch einen Freihandelsvertrag im Vergleich zur Vollmitgliedschaft ökonomische Verluste tragen muss. Aber klar, weil das Vereinigte Königreich durch einen harten Brexit wohl mehr verloren hätte, als die EU, sind die Gewinne durch die Abwendung eines vertragslosen Zustands auch höher. Aber das ist immer so, wenn ein großer Block wie die EU mit einer kleineren Volkswirtschaft einen Handelsvertrag schließt. Ökonomisch ist klar, dass beide Seiten gegenüber dem harten Brexit profitieren.

Johnson prophezeite immer einen großen Post-Brexit-Boom, inklusive attraktiver bilateraler Handelsabkommen in aller Welt. Könnte er am Ende sogar recht behalten?
Durch Freihandelsabkommen allein wird er keinen Boom herbeiführen. Selbst Abkommen mit den USA und den Commonwealth Ländern ersetzen die Vollmitgliedschaft in der EU nicht. „Global Britain“ mildert die ökonomischen Schäden, macht sie aber nicht ungeschehen. Studien zeigen, dass das Königreich in den Jahren seit dem Referendum bereits zwei bis drei Prozentpunkte Wirtschaftswachstum gegenüber einer Vergleichsgruppe verloren hat, das muss erstmal wieder aufgeholt werden. Aber es ist natürlich denkbar, dass London die neu gewonnenen Freiheitsgrade in der Regulierungspolitik nutzt, den ehemaligen EU-Partnerländern davonzuwachsen. Das Gegenteil ist allerdings auch denkbar.

Vor allem Berlin hat die EU-Partner seit dem Brexit-Referendum gedrängt, einen pragmatischen, oder sogar versöhnlichen Weg einzuschlagen, während die Franzosen hart blieben, um auch ein abschreckendes Exempel zu statuieren. Welches war die bessere Strategie?
Der pragmatische Weg ist eindeutig der bessere. Europa kann man nicht durch Abschreckung zusammenhalten. Es wäre auch nicht gut für die inneren Prozesse der Union. Jedes Mitglied muss als Ultima Ratio glaubwürdig mit dem Austritt drohen können. Das ist eine wichtige Versicherung gegen eine etwaige Ausbeutung durch die anderen Länder. Je stärker Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit getroffen werden, umso wichtiger ist dies.

Glauben Sie, dass die jüngste Blockade wegen des mutierten Corona-Virus den Briten die Augen geöffnet hat, was ein chaotischer Austritt bedeutet?
Die Fernsehbilder hatte den Briten sicher ihre Verwundbarkeit vor Augen geführt. Aber es war wohl eher ein symbolischer Vorgang, denn auch ein harter Brexit hätte ja nicht eine Handelsblockade bedeutet.

Und dass eine Einigung am Ende an einer ökonomisch eher marginalen Branche wie dem Fischfang zu drohen scheiterte, ist das nicht symptomatisch für diese quälend langen Verhandlungen?
Ja, der Streit um den Fisch passt leider ganz und gar ins Bild. Ganz überraschend ist das aber nicht. Dass auf beiden Seiten des Ärmelkanals Politiker bereit gewesen sind, das Abkommen am Fisch scheitern zu lassen, zeigt einmal mehr, welche enorme symbolische ökonomisch fast irrelevante, aber politisch wirkmächtige Sektoren haben. Die Verhandlungen der EU mit den USA zum TTIP-Abkommen sind schließlich am Chlorhühnchen gescheitert.

Wenn Sie Bilanz ziehen aus dieser jahrelangen Brexit-Tragödie. Ist eine Europäische Union ohne die Briten nicht ein schwerer Verlust an politischer, kultureller und vor allem marktwirtschaftlicher Tradition?
Ja sicher. Durch den Verlust Großbritanniens wird die EU in Summe zentralistischer und planwirtschaftlicher. Andere Länder werden die marktwirtschaftliche Tradition jetzt hochhalten müssen. In den Verhandlungen zum EU-Haushalt hat sich bereits eine Gruppe rund um die Niederlande formiert. Es hat sich aber auch gezeigt, dass ohne die Briten Dinge möglich sind, die bisher undenkbar waren, etwa eine gemeinsame Verschuldung.

Was bedeutet der Verlust der zweitgrößten Volkswirtschaft für die geopolitische Rolle der EU. Wird sie im handelspolitischen und auch technologischen Kampf den Supermächten China und USA auf Augenhöhe gegenüber treten können?
Der europäische Binnenmarkt schrumpft durch den Ausstieg der Briten um 16 Prozent. In Verhandlungen mit China und den USA kann die EU letztlich nur mit dem Zugang zu diesem Binnenmarkt punkten. Die Verhandlungsmacht schrumpft also, und damit auch die globalen Gestaltungsmöglichkeiten. Darum wird es extrem wichtig sein, dass die EU mit allen Ländern in ihrer Peripherie, dazu gehört neben dem Vereinigten Königreich auch die Schweiz, die Türkei oder die Ukraine, Partnerschaftsabkommen entwickelt, die die Länder möglichst stark in den Binnenmarkt integriert. Das wird nicht einfach sein, ist aber strategisch unabdingbar. Das Abkommen mit London ist hier sicher nicht der Weisheit letzter Schluss.

Sehen Sie etwa Chancen für eine Wiederauflage von TTIP nach dem Machtwechsel in Washington?
Frau Malmström, die ehemalige EU Handelskommissarin hat einmal gesagt, TTIP liegt nach Amtsantritt von Trump im Tiefkühler. Ich denke, dort ist es erfroren. Wiederbelebung in der alten Form als sehr umfassendes, sehr ambitioniertes Abkommen unmöglich. Das heißt freilich nicht, dass man in einzelnen Bereichen mit den USA nicht erfolgreich Verhandlungen führen kann. Industriezölle sind ein Anachronismus und schaden beide Seiten. Bei technischen Standards, gerade für neue Technologien, sollten Brüssel und Washington zusammenarbeiten.
Ebenso beim Wettbewerbsrecht und der Besteuerung globaler Unternehmen. Und das Thema Klimaschutz, das bei den TTIP-Verhandlungen fehlte, muss auch transatlantisch angegangen werden, um nicht durch CO2-Grenzausgleichsregime neue Zwistigkeiten entstehen zu lassen. Spannend wird es allerdings, wenn London und Washington ein tiefes Abkommen schließen. Das würde Brüssel unter Zugzwang stellen.

Manche fordern sogar den Beitritt der EU zur neuen asiatischen Freihandelszone RCEP. Macht das Sinn?
Nein. Mit vielen Mitgliedsstaaten der RCEP-Zone hat die EU bereits Abkommen, etwa mit Korea, Japan oder Vietnam. Diese sind umfassender und tiefer als das RCEP-Abkommen. Mit Neuseeland, Australien und einigen anderen Ländern laufen bereits Verhandlungen über ähnliche Abkommen. Und selbst mit China scheint ein Abkommen zum Investitionsschutz in greifbare Nähe gerückt.