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Merkel kämpft um Amt und Erbe – doch das Zeitfenster für einen würdevollen Abgang schließt sich

  • Vor welchen Herausforderungen Merkel in den kommenden Wochen und Monaten steht

  • Die Debatte ist eröffnet – mögliche Merkel-NachfolgerInnen im Überblick

  • Repräsentative Umfrage: Was die Wahlbevölkerung denkt

  • Peter Altmaier im Interview: „Das darf uns nicht noch einmal passieren“

Eine wirklich schwere Brandkatastrophe erkennt man daran, dass selbst notorischen Pyromanen die Lust am Zündeln vergeht. Gemessen an dieser Erkenntnis herrscht im politischen Berlin seit Dienstag Waldbrandwarnstufe fünf.

Noch vor drei Wochen hat Horst Seehofer lustvoll Öl ins Feuer gegossen, hat die Flüchtlingskrise als „Mutter aller Probleme“ bezeichnet, und alle haben verstanden: Die wahre Mutter aller Probleme heißt für den Innenminister Angela Merkel. Doch am Dienstagnachmittag eilt der CSU-Vorsitzende ins Kanzleramt. Nicht um Merkel mal wieder das politische Überleben schwerzumachen, sondern um sich an den Löscharbeiten zu beteiligen.

Unter vier Augen besprechen Seehofer und Merkel kurz vor der Unionsfraktionssitzung das Unfassbare. Die Abgeordneten könnten den Aufstand wagen und sich dem gemeinsamen Vorschlag der beiden Parteivorsitzenden verweigern, Volker Kauder im Amt des Vorsitzenden zu bestätigen.

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Als das Ergebnis verkündet wird, wirkt nicht nur Ralph Brinkhaus überrascht. Im Fraktionssaal der Union herrscht zunächst ungläubiges Schweigen. Manche scheinen gar ein wenig erschrocken über das, was da gerade passiert ist. Als die Abgeordneten dem abgewählten Kauder dann Applaus spenden, verlässt der wortlos den Fraktionssaal. Merkel gratuliert Brinkhaus kühl. Keiner weiß so richtig, mit der Situation umzugehen. Dann beantragt Haushaltsexperte Eckhardt Rehberg eine Unterbrechung. Der Fraktionsvorstand müsse sich sortieren.

Draußen vor dem Saal gibt Brinkhaus zusammen mit CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt ein kurzes Statement. Es fehlt: Merkel. Zusammen mit Brinkhaus will sie offensichtlich nicht vor die Kameras. Die Kanzlerin wird kurze Zeit später eine Erklärung abgeben. „Das ist eine Stunde der Demokratie, in der gibt es auch Niederlagen, und da gibt es nichts zu beschönigen“, räumt Merkel ein.

Gut zwei Stunden zuvor hatte sie noch gekämpft, hatte zu Beginn der Fraktionssitzung emotional für Kauder geworben. Es seien unsichere Zeiten, der Brexit, die Weltlage, die Zukunft Europas. Deutschland und die Bundesregierung bräuchten nun Stabilität und Ruhe: „Sie alle tragen mich. Dieser Zeitpunkt wäre der falsche Weg für einen Wechsel.“

Mit dem Verweis auf die nötige Stabilität hat Merkel ihre Abgeordneten wieder und wieder zu unliebsamen Entscheidungen drängen können. Doch dieses Mal nicht. Die Abgeordneten könnten es nicht mehr hören, meinte später einer. Und Brinkhaus hat das offenbar gespürt. In seiner Ansprache griff er Merkels Argument auf und wandte es gegen sie: Stabilität und Ruhe seien nicht genug, sagte er. Man müsse auch handeln, es brauche einen Aufbruch. Jetzt.

Ultimatum an die Kanzlerin

„Manche Kolleginnen und Kollegen haben sich sicher auch Luft verschafft angesichts des schlechten Bildes, das die Große Koalition bei wichtigen Themen in den letzten Wochen abgegeben hat“, analysiert Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier das Ergebnis im Handelsblatt-Interview. Doch es war nicht nur ein Warnschuss, der da am Dienstag gefallen ist. Warnschüsse für den Amtsinhaber bedeuten in solchen Abstimmungen, bei denen es normalerweise gar keine Gegenkandidaten gibt, dass der freche Außenseiter mit 25 oder 35 Prozent belohnt wird.

Die 52 Prozent für Brinkhaus sind kein Warnschuss, sondern ein Ultimatum an die Kanzlerin: Sorge endlich dafür, dass diese Regierung funktioniert – oder leite deinen Rückzug ein! Dass die Große Koalition bisher einen desaströsen Eindruck hinterlassen hat, belegt eine aktuelle Onlineumfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov im Auftrag des Handelsblatts. Demnach sind 58 Prozent der Deutschen mit der bisherigen Arbeit der Bundesregierung eher unzufrieden oder sehr unzufrieden.

Merkel kämpft nun um ihr Amt und Erbe. Für sie geht es jetzt um jene Aufgabe, an der bisher noch jeder Kanzler der Bundesrepublik gescheitert ist: den eigenen Abschied vom Amt selbst gestaltet und in Würde zu vollziehen.

Noch hat Angela Merkel die Chance, es besser zu machen als ihre Vorgänger und gemeinsam mit Partei und Fraktion einen Fahrplan für ihre Nachfolge als Kanzlerin und Parteivorsitzende zu erarbeiten. Noch kann Angela Merkel in die Geschichte eingehen als Kanzlerin, die den sanften Entzug von der Droge Macht hinkriegt. Und nicht dem rauschhaften Gefühl der eigenen Unersetzlichkeit erliegt, das noch nahezu jeden Kanzler in der Spätphase seiner Macht ergriffen und getrogen hat.

Doch das Zeitfenster, innerhalb dessen Merkel ihren Abschied selbst gestalten kann, droht sich in den kommenden Monaten zu schließen.

Debatte über Nachfolge

Die Wahlniederlage von Volker Kauder, getreuer Paladin der Kanzlerin seit 13 Jahren, hat in der Union die Debatte über die Nachfolge Merkels eröffnet. Mittendrin Wolfgang Schäuble. Der Bundestagspräsident und dienstälteste Abgeordnete im deutschen Parlament sorgt sich seit Wochen um den katastrophalen Zustand der Großen Koalition. Vertraute von Schäuble berichten, dass dieser die koalitionsinternen Streitereien als einen der Hauptgründe für das Erstarken der Protestpartei AfD sieht.

Der Bundestagspräsident fürchte demnach nicht nur ein miserables Ergebnis von CDU und CSU bei den anstehenden Landtagswahlen in Bayern und Hessen, sondern vor allem einen „Denkzettel“ für die Konservativen bei der Europawahl im kommenden Mai. Die Europawahl drohe zum Siegeszug der Populisten zu werden, wenn sich das Erscheinungsbild der Bundesregierung nicht schnell ändere, soll Schäuble in kleiner Runde gesagt haben.

Einige Unionspolitiker fragen sich vor diesem Hintergrund, ob und wann der richtige Zeitpunkt für einen Wechsel an der Parteispitze ist. Um die Landtagswahlen nicht zusätzlich zu belasten, will man die CDU-Vorsitzende Merkel weiter unterstützen. Sollten CSU und CDU bei den Wahlen allerdings deutliche Verluste hinnehmen müssen, und danach sieht es in den Umfragen aktuell aus, müsse Merkel Konsequenzen ziehen.

„Wenn Merkel ihren Abgang noch selbstbestimmt gestalten will, müsste sie einen Tag nach der Hessen-Wahl ihren Verzicht auf den Parteivorsitz erklären“, sagt ein führender CDU-Politiker. Mindestens aber sollte die Kanzlerin offenhalten, ob sie auf dem Bundesparteitag in Hamburg im Dezember noch einmal als Vorsitzende antritt: „Die Partei ist in einem toxischen Zustand, wir brauchen eine Erneuerung an der CDU-Spitze.“

Jene Angela Merkel, die in früheren Jahren immer wieder beteuert hat, dass sie als Kanzlerin auf keinen Fall enden will wie Helmut Kohl, ähnelt in mancher Hinsicht inzwischen ihrem Vorgänger. Typisch für späte Kanzler, mögen sie nun Kohl oder Merkel heißen, ist die Flucht aus der Innen- in die Außenpolitik. Statt mit den Niederungen des Koalitions-Klein-Kleins sind es nun die ganz großen weltpolitischen Linien, die den Regierungschef umtreiben. Angenehmer Nebeneffekt: Späte Kanzler stehen meist im Ausland im Zenit ihres Ansehens, während man sie daheim auf den Marktplätzen der Republik bereits mit Buhrufen empfängt.

Merkel hat sich von den Bürgern entfremdet

Die Flucht aus der kalten Heimat in die warme Ferne paart sich mit der Überzeugung, dass die Welt gerade an einem Scheidepunkt stehe, in der die Bundesrepublik keinesfalls auf eine erfahrene Spitzenkraft im Kanzleramt verzichten könne. Merkels Ansprache vor der Fraktion am Dienstag war ein Musterbeispiel für diese Haltung.

Ermöglicht wird der Realitätsverlust typischerweise durch einen Verlust des Frühwarnsystems, weil man sich in solchen Spätphasen im Kanzleramt bevorzugt mit Getreuen umgibt, nach dem Motto: Alle anderen verstehen ja eh nicht, um welche gewaltigen Aufgaben es gerade geht. Kritische Journalisten werden als Nörgler abgetan, was in den Fällen Kohl und Merkel besonders leicht fällt, weil beiden Kanzlern quasi vom Tag eins ihrer Amtszeit das baldige Ende geweissagt wurde. Immer wieder lagen die Medien damit falsch.

Auch Merkels Frühwarnsystem funktioniert nach 13 Jahren Kanzlerschaft und 18 Jahren an der Parteispitze nicht mehr. Die Ereignisse häufen sich, bei denen Merkel, wie die Amerikaner in der Politik sagen, „out of touch“ ist.

Nicht nur bei der Wahl von Ralph Brinkhaus hat Merkel zu spät erkannt, wie einsam es um sie auch in der Unionsfraktion geworden ist. Wie weit sich Merkel von den Bürgern entfernt hat, war bereits am Jahrestag des Terroranschlags auf dem Berliner Breitscheidplatz zu sehen. Viele Opfer fühlten sich von der Politik allein gelassen. Erst nachdem die öffentliche Aufregung groß war, reagierte die Kanzlerin und fuhr zum Ort des grausamen Geschehens.

In Chemnitz zeigte sich vor Kurzem ebenfalls die Entfremdung der Kanzlerin von den Bürgern. Statt selbst zu kommen, schickte sie die Familienministerin Franziska Giffey. Im Kanzleramt gibt es mittlerweile immerhin einen Termin, zu dem auch Merkel nach Chemnitz reist. Das ist der 16. November, drei Monate nachdem ein rechter Mob dort Ausländer über die Straße jagte.

Ist es objektiv wichtig, dass Merkel an den Breitscheidplatz geht, dass sie nach Chemnitz fährt? Nein, aber gerade in solchen symbolischen Handlungen manifestiert sich politischer Instinkt. Wer als Politiker nicht mehr spürt, welchen Orten und Ereignissen er seine persönliche Referenz zu erweisen hat, dessen Machterosion hat bereits eingesetzt. Im Wahlkampf 2002 stapfte Bundeskanzler Gerhard Schröder in Parka und Gummistiefeln durch das Hochwasser an der Elbe. Gegenkandidat Edmund Stoiber verachtete solchen „Hochwassertourismus“ – und verlor auch deshalb, weil ihn die Wähler als entrückt und kaltherzig wahrnahmen.

Der Elefant steht im Raum

Der Parteiorganismus der CDU spürt, dass die Ära Merkel zu Ende geht, aber noch wagt es niemand auszusprechen. „Die Nachfolgedebatte steht wie ein Elefant im Raum, über den sich niemand zu sprechen traut“, sagt ein CDU-Präsidiumsmitglied bereits vor der Fraktionssitzung. Es sei das große Tabuthema in der CDU. Das liegt auch daran, dass Merkels politische Überlebensfähigkeit lange Zeit chronisch unterschätzt wurde. Immer wieder hat sie es geschafft, über Gegner innerhalb wie außerhalb der Partei zu triumphieren.

Horst Seehofer spottet gerne über den Friedhof hinter dem Kanzleramt, der voll sei mit Männern, die Merkel unterschätzt hätten. Friedrich Merz, Roland Koch, Norbert Röttgen, Thomas de Maizière, Edmund Stoiber und letztlich auch Wolfgang Schäuble sind die Männer innerhalb der Union, die Merkel aus dem Weg geräumt, kaltgestellt oder fallen gelassen hat.

Doch viele Gegner und Schlachten überlebt zu haben ist nicht gleichbedeutend mit Unsterblichkeit. Irgendwann geht jede Kanzlerschaft zu Ende. Und auch wenn Journalisten dieses Ende seit 13 Jahren fälschlicherweise prophezeien, so wird es doch irgendwann kommen. Die Zeichen mehren sich, dass dieses „irgendwann“ sich nun zum „bald“ verdichtet. Kauders Abwahl ist schließlich nicht das erste Mal, dass Merkel die Union in letzter Zeit vergeblich um ihr Vertrauen bittet.

Dezember 2016. Parteitag in Essen. Die Kanzlerin appelliert an die Delegierten: „Ihr müsst, ihr müsst mir helfen.“ Die Bundestagswahl, das fürchtet sie da schon, wird keine einfache Wahl werden. Doch die Delegierten erhören sie schon damals nicht. Im Leitantrag findet sich nichts von ihrer Willkommenskultur.

Der Parteitag wird eher zur Abrechnung mit ihrer Flüchtlingspolitik. Als Jens Spahn auch noch gegen ihren Willen den Antrag zur doppelten Staatsbürgerschaft durchbringt, bringt das selbst die so nüchtern wirkende Merkel auf die Palme. Noch auf der Parteitagsbühne stellt Merkel den Jungstar minutenlang zur Rede. Später berichten einige, sie habe ihn zusammengefaltet. Im März 2018 muss sie Spahn dann doch zum Gesundheitsminister ernennen, um ihre konservativen Kritiker zu besänftigen.

Es geht längst nicht mehr um die Person Merkel. Es geht um die ganze Linie, die sie und ihre Getreuen in der Union durchgesetzt haben. Seit 2005 hat Merkel die Union konsequent nach links gerückt. Diese tektonische Plattenverschiebung in der Parteienlandschaft wird für immer mit ihrem Namen verbunden sein. Unter ihrer Kanzlerschaft wurde die Wehrpflicht abgeschafft, wurde der Atomausstieg beschlossen, der Mindestlohn eingeführt, die Ehe für Schwule und Lesben erlaubt.

All diese Schritte ist die Partei mitgegangen, teilweise widerwillig, aber immer gelockt von dem inhärenten Versprechen Merkels: Der Linksschwenk der Union sichert den eigenen Machterhalt, weil er die SPD kleinhält. Doch mit Merkels Willkommenspolitik in der Flüchtlingskrise ging dieses Kalkül erstmals schief. Viele in der Union sind inzwischen der Meinung, Merkel habe mit ihrem Linksschwenk, insbesondere aber mit ihrer Entscheidung zur Grenzöffnung 2015 die AfD erst groß gemacht.

Die AfD als Erbe der Kanzlerschaft Merkels? Das wäre eine tragische Hinterlassenschaft für eine Frau, die mit dem Begriff „konservativ“ nie wirklich etwas anfangen konnte. Der vieles von dem fremd ist, was das traditionelle Unionsmilieu umtreibt: die Liebe zu Nation und Leitkultur, zu traditionellen Familienbildern und Geschlechterrollen, zu Fahne, Hymne und Armee. Und nun triumphiert ausgerechnet eine rechte Partei, indem sie jene ideologischen Depots plündert, die Merkels CDU geräumt hat.

Der Abgang misslingt allen

Täglich kann Merkel im Kanzleramt an den Porträts ihrer Vorgänger vorbeilaufen. Keiner von ihnen, von Adenauer bis Schröder hat es geschafft, seinen Abgang selbst und in Würde zu bestimmen. Ein Schicksal, das nun auch die Kanzlerin ereilen könnte.

Die Porträtreihe beginnt mit Konrad Adenauer, der sich als unersetzlicher Garant der Westbindung der jungen Bundesrepublik dünkte und gegen heftigen Widerstand von der eigenen Partei aus dem Amt genötigt werden musste. Zum Zeitpunkt seines widerwilligen Abschieds war Adenauer 87 Jahre alt. Die letzten 14 davon hatte er als Bundeskanzler verbracht. Und noch immer hielt er sich für unersetzlich.

Nachfolger Ludwig Erhard, legendärer Vater von Wirtschaftswunder und Sozialer Marktwirtschaft, war als Bundeskanzler von Tag eins an überfordert und wurde nur drei Jahre später von dem ebenfalls glück- und profillosen Kurt Georg Kiesinger abgelöst. Kiesinger verlor sein Amt, als die SPD nach der Wahl 1969 lieber mit der FDP als mit der Union koalierte.

Es folgten vier furiose Reformjahre unter Willy Brandt, gekrönt von einem sensationellen Wahlsieg der SPD, die 1972 auf 45,8 Prozent kam. Doch dieses breite Mandat wusste Brandt nicht zu nutzen. Er verlor sich in Melancholie, war oft tagelang nicht in der Lage, sein Amt auszuüben.

Am Ende nutzte er die peinliche, aber sonst eher belanglose Affäre um einen enttarnten DDR-Spion im Kanzleramt als Anlass für seinen Rücktritt. Es ist der einzige Fall, in dem sich der Amtsinhaber nicht an seinem Schreibtisch im Kanzleramt festklammerte, sondern aus dem Job floh. Doch souverän und selbstbestimmt war Brandts Abschied ganz sicher nicht.

Auf den entrückten Träumer Brandt folgte der ehemalige Wehrmachtsleutnant Helmut Schmidt, für den Visionen ein Krankheitsbild waren. Doch auch der große Pragmatiker Schmidt konnte sich der Sklerose seiner Macht nicht entziehen. Tatsächlich zeigt sein politisches Ende die vielleicht augenfälligsten Parallelen zur derzeitigen Machterosion Merkels.

Schmidt war eingeklemmt zwischen einer immer aufsässigeren SPD-Fraktion, die ihm beim Nato-Doppelbeschluss die Gefolgschaft zu verweigern drohte, und einem Koalitionspartner FDP, der um sein wirtschaftsliberales Profil bangte. Nach quälenden Monaten der wechselseitigen Entfremdung beendet schließlich die FDP die Kanzlerschaft Schmidts, indem der liberale Koalitionspartner die Fronten wechselt und Helmut Kohl an die Macht verhilft.

Auch Kohl überstand Wahlkampf auf Wahlkampf

Es folgen 16 Jahre Kanzlerschaft Kohls, in denen ihm quasi von Tag eins an das baldige Aus geweissagt wurde – eine augenfällige Parallele zu Merkel, die in den Medien ebenfalls permanent als Kanzlerin auf Abruf gehandelt wurde und wird. Doch wie Merkel überstand auch Kohl Wahlkampf auf Wahlkampf, schlug 1989 einen parteiinternen Putsch nieder, stieg mit der Deutschen Einheit zu neuer Größe auf – und scheiterte im Abgang.

Statt wie geplant vor der Bundestagswahl 1998 die Macht an den damaligen Fraktionsvorsitzenden Wolfgang Schäuble zu übergeben, trat Kohl noch einmal an. Und wurde von seinem Gegenkandidaten Gerhard Schröder aus dem Amt gefegt.

Schröder selbst hätte es beinahe geschafft, ein Musterbeispiel für den selbstbestimmten, würdevollen Abschied von der Macht zu liefern. Als er mit seiner Reformagenda auf zunehmenden partei- und faktionsinternen Widerstand stieß, verlor er 2005 absichtlich die Vertrauensfrage im Bundestag, um so Neuwahlen herbeizuführen. Die sollten zugleich eine Abstimmung über seine Reformen darstellen.

Zu Beginn des Wahlkampfs lag Schröder in den Umfragen weit hinter der Union unter der jungen Spitzenkandidatin Angela Merkel zurück. Doch Schröder nutzte die Wahlkampffehler der Union, startete eine furiose Aufholjagd und lag am Wahlabend mit der SPD nur noch einen Prozentpunkt hinter der Union.

Bis zu diesem Punkt hätte es für Schröder ein Abgang mit Grandezza sein könne, doch dann sprach er in der sogenannten „Elefantenrunde“ seiner Gegenkandidatin Angela Merkel rundheraus das Recht auf die Kanzlerschaft ab („Jetzt lassen wir mal die Kirche im Dorf“).

Das Tragische an Angela Merkel: Sie kennt all diese tragischen Fälle. Sie saß bei der Elefantenrunde 2005 perplex dem testosteronberauschten Schröder gegenüber. Sie erlebte als Umweltministerin am Bonner Kabinettstisch den Mehltau der späten Ära Kohl. Sie weiß um all die charakterlichen Deformierungen, die Macht den Menschen mit der Zeit verpasst. Sie ist wahrscheinlich die reflektierteste und analytischste Bundeskanzlerin, die Deutschland je hatte.

Zwei Nackenschläge in Folge

Doch all diese Eigenschaften scheinen ihr nichts zu nützen, wenn es um den eigenen Abschied von der Macht geht. Dann ist sie wie alle anderen auch. Ein Machtjunkie, der alles tut, um nur ja noch an den nächsten Schuss zu kommen.

Merkel unternimmt in diesen Tagen Dinge, die sie normalerweise nie macht und die auch andere Kanzler vor ihr nicht machten. Normalerweise geht Merkel nach einer Sitzung des CDU-Präsidiums vor die Presse, um die Beschlüsse des obersten Parteigremiums mitzuteilen. Am Montag vergangener Woche dreht sie das Ritual um, erklärt sich bereits vor der Sitzung den Journalisten und entschuldigt sich für den Koalitionsstreit um Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen.

Sie zeigt damit Schwäche, auch um ihre Gegner zu besänftigen. In ihrem eigenen Technokratensprech räumt sie ein, sich „zu sehr mit der Funktionalität und den Abläufen im Bundesinnenministerium beschäftigt, aber zu wenig an das gedacht zu haben, was die Menschen zu Recht bewegt“. Das bedauere sie sehr. Beim Tag der Deutschen Industrie in dieser Woche dann wieder das gleiche Bild. Merkel gibt sich auf offener Bühne wieder zerknirscht über die schlechte Performance der Regierung.

Um dem Volk wieder näherzukommen, setzt Merkel nun auf den sogenannten Bürgerdialog. Das sind Gesprächsrunden zwischen der Kanzlerin und rund 50 ausgewählten Bürgern im Land. Die Menschen sollen dabei zu Wort kommen, wieder das Gefühl haben, von der Politik gehört und vor allem ernst genommen zu werden. Ein Format, das auf Merkel zugeschnitten ist. Am Ende ist es aber kein Bürgerdialog, weil er nicht repräsentativ ist.

Es ist eine Merkel’sche Filterblase, die ihre Mitarbeiter für sie aufgebaut haben. Die Konfrontation in der großen Menge, wie ihre Vorgänger Helmut Kohl und Gerhard Schröder sie wagten, unternimmt sie nicht mehr. An die breite Öffentlichkeit geht sie nur, wenn die Not am größten ist. Am liebsten setzt sich Merkel dann ins Erste zu Anne Will zum Einzelgespräch. Da fühlt sie sich offenbar am wohlsten.

Bei solchen Gesprächen offenbart sich, dass Merkel ihre anfangs so emotionale Reaktion auf die Flüchtlingskrise inzwischen rhetorisch eingehegt hat. Am Anfang kamen Sätze wie „Das ist nicht mein Land“, wenn es Kritik an ihrer Flüchtlingspolitik gab. Heute lautet ihr Mantra, 2015 dürfe sich nicht mehr wiederholen.

Die Kanzlerin braucht Erfolge – und zwar jetzt

Ihre Mission lautet nun: Fluchtursachen bekämpfen. In den vergangenen Wochen reiste Merkel aus diesem Grund in den Kaukasus, nach Westafrika und Algerien. Ende August tourt Merkel mit einer Wirtschaftsdelegation durch Westafrika. Fast sieben Stunden ist sie von Berlin aus geflogen. Der Tross der Kanzlerin kann auf der Fahrt vom Flughafen in den Präsidentenpalast von Dakar in Hunderte junge Gesichter an den Straßenrändern und in Hinterhöfen blicken.

Doch die Debatten über die Ausschreitungen in dem 4850 Kilometer entfernten Chemnitz lassen Merkel auch hier nicht los. „Ich glaube nicht, dass Europa sich abschotten kann“, sagt der Präsident Senegals, Macky Sall, auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Merkel. Als er aber die Frage eines Journalisten beantworten soll, wie er seine rund 1000 in Deutschland ohne legalen Aufenthaltstitel lebenden Staatsbürger zurückholen will, gibt er sich schmallippig. Die Kanzlerin kann nur danebenstehen. Ihre Macht ist auch hier begrenzt.

Merkels Bemühen, in den Herkunftsländern der Flüchtlinge für Verbesserungen zu sorgen, werden höchstens langfristig Früchte tragen. Doch die Kanzlerin braucht jetzt und sofort Erfolge, die sie in Deutschland vorweisen kann.

Auch bei den anderen Sachthemen, die sich die Große Koalition vorgenommen hat, sind keine Quick Wins in Sicht. Keine schnellen Erfolge, mit denen Merkel die Herzen von Partei und Fraktion zurückgewinnen könnte. Bei der Dieselnachrüstung gibt es keine Lösung. Beim Einwanderungsgesetz liegen nur Eckpunkte vor, die noch nicht einmal im Kabinett waren. Bei der Rentenreform beraten die Gremien. Bei all diesen Themen droht Streit zwischen den Koalitionspartnern.

Dass Merkel ohne Blessuren durch die nächsten Monate kommt, glaubt kaum einer in der CDU. In gut zwei Wochen finden in Bayern und in vier Wochen in Hessen Landtagswahlen statt. In Bayern steht die CSU bei 35 Prozent, in Hessen gab es schon eine Umfrage, bei der die 30-Prozent-Grenze unterschritten war. Noch hat kein CDU-Mann die Schmerzgrenze für Merkel formuliert, was die Wahlergebnisse angeht.

Nachfolger gesucht

„Die Partei muss also laufen lernen, muss sich zutrauen, in Zukunft ohne ihr altes Schlachtross den Kampf mit dem politischen Gegner aufzunehmen“, schrieb Merkel im Dezember 1999 in der „FAZ“. Gemeint war damals Helmut Kohl. Fünf Monate später griff Merkel nach dem Parteivorsitz. Sie selbst sieht fast 19 Jahre später keine Notwendigkeit, die Vertrauensfrage im Parlament zu stellen. Doch in der CDU gibt es nun erste Stimmen, ihr Grenzen zu setzen.

Die Kanzlerin habe jetzt die Chance, „diese Zeit der Wachablösung, des Übergangs in die Zukunft“ aktiv zu moderieren, sagt CDU-Innenexperte Armin Schuster. Die CDU/CSU müsse 2020 eine hervorragende Aufstellung haben für das Wahlkampfjahr 2021.

Hoffnungsträger gibt es viele. Im Grunde heißt es Nordrhein-Westfalen gegen das Saarland. Das größte Bundesland tritt gegen den kleinsten Flächenstaat an. Auf der NRW-Seite stehen Ministerpräsident Armin Laschet und der ehrgeizige Jens Spahn bereit. Auf der anderen Seite finden sich der joviale Wirtschaftsminister Peter Altmaier und die in der Partei hochgeschätzte Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer.

Aber Kramp-Karrenbauer steht für ein Weiter-so mit der Großen Koalition. In der FDP ist unvergessen, dass sie das Jamaika-Bündnis im Saarland platzen ließ. Anders ihr Landsmann Peter Altmaier, der bis heute den Kontakt zu den Liberalen pflegt und ohnehin ein Herzensgrüner ist. Sein Malus könnte sein, dass er zu merkeltreu ist. Bleiben noch Jens Spahn und Armin Laschet.

Spahn hat starke Unterstützer in der Anti-Merkel-Bewegung, zu der auch der frühere Kanzlerkandidat Edmund Stoiber zählt. Stoiber hat schon öffentlich erklärt, dass er Spahn die höchsten Ämter zutraut. Mit FDP-Chef Christian Lindner verbindet Spahn eine Freundschaft. Die größten Chancen werden allerdings Armin Laschet eingeräumt.

Er führt eine schwarz-gelbe Koalition, ist aber genauso wie Altmaier ein Mitglied der legendären Pizza-Connection, die die ersten informellen Kontakte zu den Grünen hergestellt hat. Laschet hält sich wie alle anderen öffentlich bedeckt. Im Gegenteil, er sprang nach dem Horror-Dienstag Angela Merkel bei, indem er behauptete, sie müsse keine Vertrauensfrage stellen, sie habe das Vertrauen der Koalition.

Und dann ist da natürlich noch Merkel selbst. Die Frage, ob sie freiwillig wenigstens den Parteivorsitz vorzeitig abgibt, ist noch lange nicht ausgemacht. Sie selbst hat immer gesagt, die Trennung von Parteivorsitz und Kanzlerschaft sei der größte Fehler ihres Vorgängers Gerhard Schröder gewesen. Merkel sagt gern nach Fehlern, man müsse die Lage neu bewerten. Man darf gespannt sein, ob das auch für ihre Einschätzung zur Trennung von Kanzleramt und Parteivorsitz gilt.

An vorgezogenen Neuwahlen haben weder Union noch SPD Interesse

Noch hat es Merkel in der Hand. Sie kann den Parteivorsitz zum Parteitag im Dezember niederlegen oder zumindest vor dem Parteitag einen klaren Termin nennen, wann sie als Vorsitzende abtritt. Merkels Nachfolger oder Nachfolgerin im Parteivorsitz wäre dann auch der natürliche Kanzlerkandidat der Union. Regulär findet die nächste Bundestagswahl im Herbst 2021 statt, und selbst wenn die Koalition vorher zerbricht: An vorgezogenen Neuwahlen könnten derzeit weder Union noch SPD Interesse haben, denn alle Koalitionspartner müssten mit weiteren Stimmenverlusten rechnen.

Und was wird aus Merkel nach dem Ende ihrer Kanzlerschaft? Auf den Fluren in Berlin und Brüssel erzählt man sich, dass Merkel damit liebäugelt, sich auf den Posten des EU-Ratspräsidenten zu retten, der heute von dem Polen Donald Tusk eingenommen wird. Es hält sich das Gerücht, dass sie diesen Deal mit Jean-Claude Juncker bei ihrem letzten Treffen in Meseberg vorbesprochen hat.

Jener Mann, der diese Merkeldämmerung mit ausgelöst hat, ist auch zwei Tage nach seinem Abstimmungstriumph noch nicht umgezogen. Zwar hat Vorgänger Kauder sein Büro schon ausgeräumt. Doch noch residiert der 50-jährige Brinkhaus in seinem alten Bundestagsbüro. Seinen Schreibtisch mit dem weißen Porzellan-Geißbock darauf nutzt der Fan des 1. FC Köln derzeit allerdings nur selten.

Am Donnerstag reihte sich ein Gesprächstermin an den nächsten. Brinkhaus traf die Chefs der anderen Fraktionen, führte fraktionsinterne Gespräche. Das bisherige Kauder-Team um den parlamentarischen Geschäftsführer Michael Grosse-Brömer will Brinkhaus behalten. Bloß keine weitere Unruhe schüren, davon gibt es seit Dienstag genug.

Am Mittwoch um halb zwei hatte Brinkhaus die Mitarbeiter der Unionsfraktion in den Fraktionssaal geladen. Brinkhaus hielt eine kurze Ansprache. Seine „Vorfreude auf die neue Aufgabe“ sei groß, sagte er. Aber nun müsse man sich an die Arbeit machen, es gebe „viel zu tun“. Er wolle, so Brinkhaus, das Regierungsbündnis drei Jahre erfolgreich fortsetzen. Ein Bekenntnis zur Großen Koalition, aber auch zur Kanzlerin Angela Merkel. So kam das bei den Unionsleuten an.

Zuvor hatte Brinkhaus am Mittwochmorgen vor der wöchentlichen Kabinettssitzung an der Vorbesprechung der Unionsminister teilgenommen. Später traf er dann Kanzlerin Merkel noch mal unter vier Augen. Irgendwie muss ein normales Arbeitsverhältnis hergestellt werden. Auch wenn das natürlich schwierig wird, nachdem Brinkhaus gegen Merkels Willen ihren getreuesten Paladin gestürzt hat.