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Raus aus der Kohle – Ist die Lausitz noch zu retten?

Wenn Hannelore Wodtke abends aus dem Fenster schaut, geht ihr Blick zu dem hell erleuchteten Tagebau, in dem sich der riesige Kohlebagger nur 400 Meter von ihrem Haus entfernt durch die Erde gräbt. Während sie in dem holzvertäfelten dunklen Gastraum des City Hotels in Welzow sitzt, fahren die Hände der 69-Jährigen immer wieder nervös über die Ränder des kleinen Papiertaschentuchs zwischen ihren Fingern.

„Hier in Brandenburg regiert die Kohle, nicht die Politik“, sagt die Rentnerin, deren kurz geschnittene braune Haare ihr rundes Gesicht umrahmen. Trotzdem, betont die gebürtige Cottbusserin, „wir müssen aus der Kohle raus“. Für sie bedeutet der Ausstieg ein Neuanfang, den die Region dringend braucht.

Welzow ist ein 3500-Einwohner-Ort an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen, der im Nordosten fast komplett von dem Tagebau Welzow Süd 2 umgeben ist. Auf einem Schild über dem Kreisverkehr in der Ortsmitte sind Schlägel und Eisen abgebildet, das internationale Symbol für den Bergbau. Viele hier arbeiten für den Leag-Konzern, der den Kohleabbau in der gesamten Lausitz verantwortet.

Aber Lärm, Schmutz und die ständige Erweiterung des Tagebaus haben über die Jahre auch einige aus Welzow vertrieben. Viele Geschäfte stehen leer, Häuser sind verlassen, und außer in drei, vier Gaststätten und Imbissen findet man hier kaum Arbeit.

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Bis zur nächsten größeren Stadt braucht man selbst mit dem Auto eine halbe Stunde. Seit der Wende hat sich die Einwohnerzahl nahezu halbiert. Ende 2020 entscheidet die Leag, ob für die Erweiterung der Abbaustätte der nächste Teil des Ortes weichen muss. 36 Dörfer sind für den Tagebau bereits abgebaggert worden. Jetzt droht weiteren 800 Menschen die Umsiedlung – trotz Kohleausstieg.

Bis 2038 soll in Deutschland das letzte Kohlekraftwerk endgültig vom Netz gehen. 40 Milliarden Euro will der Bund bis dahin in die Braunkohlereviere der Lausitz, im Rheinland und in Mitteldeutschland pumpen. Das erste Soforthilfeprogramm beläuft sich auf über 260 Millionen Euro. Mehr als 40 Prozent davon gehen an die Lausitz. Für neue Straßen und Schienen, den Ausbau der Breitbandnetze und die Ansiedlung von Forschung, Hochschulen und Behörden.

Schon bis September soll der Bundestag das Gesetz beschließen, denn die Zeit drängt. Das Ende der Kohle in der Lausitz ist ein Politikum, das weit über ihre Grenzen hinausreicht. Am 1. September wird in Brandenburg und Sachsen gewählt, den Bundesländern, die die Lausitz verbindet. In beiden Ländern könnte die AfD, die gegen den Kohleausstieg polemisiert, stärkste Kraft werden. Der Frust der Menschen über das Ende der Kohle befeuert den Wahlkampf der Rechtspopulisten.

Eigentlich ist der Abschied von der Kohle nichts Neues für die Lausitz, eigentlich steigt sie seit 30 Jahren aus: Einst galt die Region als Energiemotor der DDR. Mehr als 80.000 Menschen waren zu Hochzeiten in der Kohleindustrie beschäftigt, heute sind es nur noch rund 8000. Mit den Arbeitsplätzen gingen die Menschen. Lebten 1995 noch 1,4 Millionen Bewohner zwischen Spree und Neiße, sind es heute noch knapp eine Million. Und gegangen sind größtenteils die Jungen.

Außer der Leag gibt es kaum große Arbeitgeber in der Region, die rund fünfmal so groß ist wie das Saarland. Arcelor Mittal kocht Stahl in Eisenhüttenstadt, BASF stellt in Schwarzheide Polyurethane her, Bombardier S-Bahnen in Bautzen. Und Siemens hätte sein Turbinenwerk in Görlitz im vergangenen Jahr fast geschlossen.

„Trotzdem geht es der Lausitz heute gar nicht mehr so schlecht“, sagt der Wirtschaftswissenschaftler Stefan Zundel von der TU Cottbus. Die Arbeitslosigkeit sei deutlich gesunken, allerdings auch, weil viele, die nach der Wende geblieben sind, nun in Rente gehen.

Das Pro-Kopf-Einkommen des Lausitzer Reviers ist in den vergangenen 19 Jahren um 70 Prozent gestiegen – schneller als im Rest Deutschlands, aber mit rund 28.500 Euro noch 10.000 Euro unter dem Durchschnitt. Es hat sich viel getan in der einstigen Problemregion. Aber die Fortschritte stehen auf wackeligen Beinen.

„Die Lausitz hat mittlerweile eine selbsttragende Dynamik entwickelt“, sagt Zundel. Aber jetzt müsse auch etwas passieren, um wieder mehr Menschen in die Region zu holen. 18 Milliarden Euro an Strukturmitteln haben die Landesregierungen von Brandenburg und Sachsen für die Lausitz im Kohlekompromiss ausgehandelt. Das Geld soll größtenteils in den Ausbau der Infrastruktur, die Ansiedlung von Behörden und Forschungseinrichtungen sowie den Bau von Hochschulen fließen.

In die Zukunft einer Region, die lange keine zu haben schien. Experten begrüßen die geplanten Investitionen. „Wenn man so viel Geld in die regionale Entwicklung pumpt, dann wird das auch etwas bringen“, ist Zundel überzeugt. Aber das Geld müsse eben auch wirklich kommen.

Vom Erfolg der Strukturförderung hängt für die Lausitz alles ab: Von den verbliebenen drei Revieren trifft der Ausstieg die Lausitz am härtesten. Das Rheinland prosperiert ohnehin, das Mitteldeutsche Revier hat Leipzig als zugkräftige Großstadt.

Nur die Lausitz ist eine Ansammlung von Dörfern und einigen wenigen Kleinstädten, die oft schlecht angebunden sind. Selbst von Cottbus, mit seinen knapp 100.000 Einwohnern die Metropole der Lausitz, braucht man eine Autostunde zum nächsten Flughafen und anderthalb Zugstunden nach Berlin. Eine „periphere Region“ nennen das Wirtschaftsforscher.

Ein Kulturzentrum in einer Glasfabrik

Wer die Landstraße von Welzow nach Weißwasser entlangfährt, dem begegnet dazwischen nicht besonders viel, außer riesige Felder und unendlich wirkende Wiesen und Wäldern. Wenig bis gar kein Handyempfang ist zwischen den einzelnen Ortschaften in der Lausitz mehr Regel als Ausnahme. Direkt neben dem Tagebau Nochten liegt dann Weißwasser, die einstige Glashauptstadt der Welt.

Die roten und gelben Ziegelsteinhäuser der alten Anlagen bestimmen auch heute noch das Straßenbild, auch wenn sie am Stadtrand von Plattenbauten eingerahmt werden. Der Marktplatz vor dem Rathaus ist wie ausgestorben, als Oberbürgermeister Torsten Pötzsch über die Pflastersteine eilt. Seine dunkelblonden Locken wippen bei jedem Schritt auf und ab. Seit zehn Jahren waltet der 48-Jährige in der kleinen Stadt, die schon mehr als einen Wandel hinter sich hat.

Weißwasser war Anfang des 20. Jahrhunderts führend in der Glasindustrie, auch Pötzschs Eltern arbeiteten als Ingenieure in einer Manufaktur. Heute gibt es nur noch eine einzige Manufaktur in Weißwasser. Die Braunkohle sichert hier immerhin noch mehrere Hundert Jobs. „Wir sind hier sehr abhängig von der Kohle. Nicht nur was die direkten Beschäftigten, sondern auch die Zulieferer und Maschinenbauer betrifft“, sagt Pötzsch.

Seit der Wende hat Weißwasser mehr als die Hälfte seiner Einwohner verloren, 16.500 Menschen leben hier noch. Anfang der 2000er-Jahre ließ die Kommune 5000 Wohnungen abreißen, um den Leerstand zu kompensieren. „Wir mussten die Stadt von außen nach innen zurückbauen“, erzählt Pötzsch.

In den letzten Jahren habe es sich allerdings etwas gebessert. „Langsam bekommen wir wieder mehr Anfragen für Bauland. Es verändert sich was zum Positiven“, sagt der Bürgermeister. Sogar den ein oder anderen Rückkehrer gebe es mittlerweile in Weißwasser.

Erst vor Kurzem hat Pötzsch ein neues Kulturzentrum auf dem Gelände einer alten Glasfabrik am Stadtrand eröffnet. Hier sollen sich die Weißwasseraner treffen, Theater spielen, essen oder einen Kinofilm schauen. Aber Menschen wie Pötzsch haben es vielerorts schwer. Der Mut zur Veränderung fehlt vielen von denen, die schon so viel Wandel in ihrem Leben mitmachen mussten.

Und so ist auch die kleine Stadt in der Oberlausitz ein Beispiel für den Erfolg der Rechtspopulisten. Bei der Kommunalwahl stimmten hier 22 Prozent für die AfD, die nach Pötzschs lokaler Wählervereinigung „Klartext“ zweitstärkste Kraft wurde. Bei der Europawahl kam die AfD sogar auf 30 Prozent der Stimmen.

Für den Bürgermeister ist eines überdeutlich: „Wenn die Landesregierung nicht hält, was sie verspricht, dann verlieren sie alles. Dann wird es einen Rechtsruck geben, der sich nicht mehr zurückhalten lässt.“ Nach dem ersten Strukturbruch haben sich die Leute hier vernachlässigt gefühlt, und das sei eben größtenteils auch heute noch so, sagt Pötzsch. „Der Kohleausstieg kann eine Chance für uns sein, wenn man es gut macht. Aber es läuft schon wieder vieles schief.“

Schon den ersten Strukturwandel verstanden viele hier nicht. Damals wurde zwar der Solidaritätszuschlag eingeführt, und viele der über Fördermittel genehmigten Hilfsgelder für den Wiederaufbau strukturschwacher Regionen wurden in die Sanierung von Häusern und Infrastruktur gesteckt.

So sind auch die Landstraßen in der Lausitz meist gut befahrbar und die Gebäude im Ortskern hübsch renoviert. „Aber die Lausitz ist aufgrund ihrer Situation vernachlässigt worden“, erklärt Jochen Dehio vom Wirtschaftsforschungsinstitut RWI in Essen.

Die teuren Verkehrsinfrastrukturmaßnahmen wurden bevorzugt dort investiert, wo sie den höchsten direkten Nutzen brachten – also in Dresden, Leipzig und anderen größeren Zentren. Deren bessere Anbindung hätte einen unmittelbareren Nutzen gebracht. „Dadurch ist die Lausitz im Grunde genommen doppelt bestraft worden“, sagt Dehio.

Das drängendste Problem, so sehen es fast alle hier, ist die Infrastruktur: fehlende Schnellstraßen und Fernzüge, die noch ausstehende Elektrifizierung der bisher nur eingleisig befahrbaren Strecke zwischen Cottbus und Görlitz, den beiden größten Städten der Region. Kurz: die Anbindung an den Rest der Welt. Nur, wenn man aus der Lausitz auch wegkommt, zieht man überhaupt hin.

„Uns vergessen se doch wieder“

Auch Pötzsch kämpft für die Renovierung des alten Bahnhofs in Weißwasser. „Das zweite große Problem ist der Fachkräftemangel“, sagt der Politiker. Selbst wenn er mal ein Unternehmen von dem Standort überzeugen konnte, die benötigten 200 Fachkräfte konnte er dazu nicht bieten.

Auch auf den Investorenkonferenzen, die der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) und sein Brandenburger Pendant Dietmar Woidke (SPD) veranstalten, stellen laut Kretschmer alle Interessenten immer wieder die Frage: Wie lange fahre ich dahin, wie viele Minuten sind es bis zur Autobahn? In Weißwasser muss Pötzsch dann antworten: Bis zu einer halben Stunde, wer Richtung Berlin will. Wer nach Dresden muss, fährt noch länger.

„Unsere Probleme in der Region sind seit vielen Jahren bekannt. Aber bislang konnte man sich ja immer noch auf die Kohleindustrie verlassen. Jetzt, wo der Ausstieg schneller bevorsteht als geplant, kommt auf einmal das große Erwachen“, ärgert sich Pötzsch.

Es brauche jetzt ein Symbol, dass den Leuten zeige, dass sich wirklich etwas verändere. Der einzige Weg ist die Flucht nach vorn, davon sind Experten wie Dehio überzeugt. „Die Braunkohle hat keine Zukunft, das Festhalten daran lähmt auch vieles. Jetzt hat man ein klares Ende vor Augen und kann andere Dinge ans Laufen bringen“, sagt der Essener Ökonom. „Wenn das klappt, dann kann die Lausitz das auch schaffen.“

Aber die Menschen haben Angst, dass sich die Geschichte wiederholt. Sie sind misstrauisch gegenüber der Politik und glauben nicht an die Versprechungen der Regierung. Zwar verstehen viele, warum das Ende des schmutzigen Energieträgers kommen muss, aber richtige Perspektiven und einen Plan für die Zeit nach der Kohle sehen die meisten hier nicht.

„Uns vergessen se doch wieder hier oben. Sobald die Kohle weg ist, geht es mit der Lausitz bergab“, schnauft ein junger Mann vor seinem Haus in dem Städtchen Spremberg zwischen Welzow und Weißwasser.

35 Kilometer gen Westen ist die Stimmung eine andere. Hier liegt Senftenberg mit seinen knapp über 25.000 Einwohnern. Die Kleinstadt hat das, was dem Rest der Region bevorsteht, schon vor 20 Jahren durchgemacht. Die ehemalige „Braunkohle-Hauptstadt“ der DDR war bis in die 90er-Jahre fast vollständig von Tagebauten umschlossen.

1999 schloss mit Meuro der letzte aktive Tagebau. Heute sind die ehemaligen Gruben geflutet und Senftenberg hat eine Seenlandschaft, die jedes Jahr mehr Touristen in die Gegend zieht.

Bürgermeister Andreas Fredrich (SPD) ist stolz auf den gelungenen Wandel. Die Arbeitslosenquote fiel seit der Wende von fast 30 auf knapp acht Prozent, in den letzten fünf Jahren sind Fredrich zufolge mehr als 1300 Arbeitsplätze entstanden – viele im Tourismus. Es gibt einen Stadthafen, einen neuen Campus der Uni Cottbus und gleich vier Gewerbegebiete.

„Wir mussten uns schon vor 20 Jahren mit der Frage beschäftigen, was wir den Leuten außer der Kohle hier oben noch bieten können“, erklärt der Politiker. So habe es früher an der Universität Studiengänge für Bergbau und Maschinenbau gegeben, das habe man vor einigen Jahren auf Medizintechnik und Biochemie umgestellt, „außerdem haben wir mehr auf kleine Unternehmen als auf die ganz Großen gesetzt“.

Neben dem Callcenter einer Bertelsmann-Tochter haben sich in den vergangenen Jahren mehrere Medizintechnikfirmen in Senftenberg niedergelassen. Allerdings hängt der Erfolg der kleinen Stadt auch mit ihrer günstigen Lage zusammen: Von Senftenberg sind es nur acht Kilometer bis zur A13 und nur etwas über eine Stunde bis nach Dresden.

Fredrich sieht die Erfolge seiner Kleinstadt gefährdet, wenn jetzt nicht endlich etwas passiert. Es brauche vor allem einen langfristigen Plan. „Der Kohleausstieg wird kommen. Deswegen müssen wir den Wandel schaffen, uns bleibt ja gar nichts anderes übrig“, meint Fredrich. Es klingt wie der Mut der Verzweiflung. Aber immerhin: Es ist Mut.

Mehr: Das Ende für den Kohlestrom trifft neben RWE vor allem den Braunkohle-Förderer Leag. Konzernchef Helmar Rendez warnt im Interview davor, den Ausstieg zu überstürzen.