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Brasiliens tiefer Fall: Corona und ein überforderter Präsident lassen Wirtschaft abstürzen

Das Vertrauen der Brasilianer schwindet, ebenso wie ihr Wohlstand – beides in atemberaubendem Tempo. Auch deutsche Mittelständler im Land stellen sich die Existenzfrage.

Das Virus und die Krise haben die Brasilianer tief erschüttert. Foto: dpa
Das Virus und die Krise haben die Brasilianer tief erschüttert. Foto: dpa

Vor fünf Jahren kam der deutsche Investmentbanker Julian Stippig nach São Paulo, um seinen Traum zu verwirklichen. Zusammen mit seiner Frau Alessandra wollte er ein eigenes Unternehmen aufbauen. Sie gründeten Sissa, ein Mode-Luxuslabel.

Die studierte Architektin und Textildesignerin kommt aus Brasilien und kennt die Modebranche gut. Von London und New York aus hatte sie bereits erfolgreich eine andere brasilianische Modemarke gegründet und verkauft. „Das Gefühl der unternehmerischen Freiheit war mir das Wichtigste“, sagt Stippig, der aus der Finanzbranche Sieben-Tage-Wochen gewohnt war. In São Paulo sollte es nicht weniger werden – aber immerhin war es für die eigene Sache.

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Der Start war schwierig: Die Jungunternehmer launchten Sissa inmitten der schweren Rezession 2015. Es dauerte länger, den Break-even zu erreichen, als erwartet. Doch bei der gesellschaftlichen Elite São Paulos kam die exquisite Mode gut an. Letztes Jahr fanden erste Verhandlungen mit Finanzinvestoren statt. Anfang März hatten sie gerade zwei Boutiquen in den teuersten Shopping-Malls der brasilianischen Metropole eröffnet.

Doch dann wurde am 20. März der allgemeine Shutdown wegen Corona verkündet. „Wir haben von einem Tag auf den anderen nur noch einen Bruchteil verkauft“, sagt der 41-jährige Münchener.

Er und seine Frau beschlossen, das Unternehmen zu schließen. Der Grund für den radikalen Schritt: Sie erwarten nicht, dass sich Brasiliens Wirtschaft bald erholen wird. „Es war vorher schon schwierig“, sagt er. „Doch der Konsum in Brasilien wird sich auf einem deutlich niedrigeren Niveau einpendeln.“

Sie entließen die 22 Mitarbeiter, verkauften die Textilmaschinen, kündigten das Atelier und die Boutiquen. Die Koffer sind schon gepackt für den Umzug nach München.

Vertrauen der Brasilianer schwindet

Die Coronakrise und Präsident Jair Bolsonaro – das ist eine Kombination, die auch dem größten Optimisten seinen Unternehmergeist raubt. Bolsonaro, der angebliche Reformer und Kämpfer gegen die Korruption, hat inzwischen den Justizminister entlassen, der für den Kampf gegen die Korruption stand.

Dann hat er seinen liberalen Wirtschaftsminister entmündigt und dessen zentrales Infrastrukturprogramm an die Militärs ausgelagert. Mit denen hat er alle Schlüsselstellen seiner Regierung besetzt, inzwischen auch das Gesundheitsministerium inmitten der Pandemie.

Der rechtsnationale Ex-Hinterbänkler hat damit klar gezeigt: Nicht nur das Wohlergehen seiner Bevölkerung, sondern auch Staatsreformen oder saubere Praktiken im Staat und in der Wirtschaft interessieren ihm nicht im Geringsten.

Und so steht sie nun da, die größte Volkswirtschaft Südamerikas. Das Vertrauen der Brasilianer schwindet, ebenso wie ihr Wohlstand – beides in einer atemberaubenden Geschwindigkeit.

In zehn Jahren ist Brasiliens Ökonomie nach Wirtschaftskraft von Platz sechs auf Platz zwölf abgerutscht. Lag das Durchschnittseinkommen vor sechs Jahren noch fast ein Zehntel über dem mittleren weltweiten Einkommen, dürfte es bis Ende des Jahres fast 20 Prozent darunterliegen, prognostiziert die Economist Intelligence Unit. Nach Angaben des renommierten Wirtschaftsinstituts Ibre/FGV aus São Paulo steht Brasilien inzwischen nach dem Pro-Kopf-Einkommen unter 192 Staaten nur noch auf Platz 85.

Der Abstieg zeigt sich besonders krass im Vergleich mit China: Noch 2016 war das Pro-Kopf-Einkommen (gemessen nach Kaufkraft) in China und Brasilien gleich. Heute liegt es in Brasilien 30 Prozent unter dem der Chinesen.

Das ist ein tiefer Fall – nach einem kometenhaften Aufstieg zuvor. Zur Erinnerung: Vor zehn Jahren stand Brasilien kurz davor, Frankreich als die fünftgrößte Ökonomie weltweit zu überholen. 30 Millionen Brasilianer waren in die Mittelschicht aufgestiegen.

Vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen und der Dienstleistungssektor trieben die Entwicklung – und sorgten für einen rasanten Anstieg der Kaufkraft. Der Markt der 210 Millionen konsumfreudigen Brasilianer, die im Zweifel lieber ausgeben als sparen, lockte alle Konsumartikelhersteller weltweit an. Im Durchschnitt kauften die Brasilianer mehr Handys, Fernseher, Kühlschränke, Kosmetik und Körperpflegeprodukte als Inder, Russen und Afrikaner – oder eben Kleider, Kostüme und Accessoires von einheimischen Labels wie Isso.

Damals steckte Brasilien in der Middle-Income-Trap fest, wie die Ökonomen das nennen: Mit seinen gestiegenen Pro-Kopf-Einkommen war das Land kein Niedriglohnland mehr. Es fehlte an einer wettbewerbsfähigen Industrie, die den Brasilianern bessere Jobs und Aufstiegsmöglichkeiten bot.

Doch das ist vorbei. „Brasiliens Problem ist nicht mehr die Mittelstandsfalle“, sagt Nilson Teixeira, langjähriger Chefökonom von Credit Suisse in Brasilien. „Brasiliens Risiko ist, wieder abzusteigen.“

Beschleunigter Verarmungsprozess

Inzwischen ist auch die deutsche Regierung auf das Problem aufmerksam geworden. Im Auswärtigen Amt sorgt man sich, dass Schwellenländer wie Brasilien und auch ganz Lateinamerika wieder absteigen könnten zu Entwicklungsländern. Denn die Einnahmen der Menschen dort sinken bereits seit Jahren wegen der Rezession.

Die Pandemie beschleunigt den Verarmungsprozess. Das geschieht genauso in Argentinien oder Mexiko, ebenfalls wichtige Partnerländer Deutschlands in der Region.

Berlin hat seine Hilfsleistungen für Lateinamerika und die Karibik in diesem Jahr bereits verdoppelt. Doch Sorge bereiten vor allem die Wirtschaftsbeziehungen: Das Handelsvolumen mit Lateinamerika sei im Vergleich zu Afrika oder Indien doppelt so hoch, gemessen an den Einwohnern, heißt es im Auswärtigen Amt.

Viele deutsche mittelständische Unternehmer in Brasilien stellen sich die Existenzfrage, so wie Stippig. Brasilien ist einer der wichtigsten ausländischen Standorte deutscher Unternehmen. Nach China ist Brasilien das Land mit den höchsten deutschen Investitionen außerhalb Europas. Zehn Prozent tragen Unternehmen mit deutschem Kapital zum industriellen Bruttoinlandsprodukt (BIP) des Landes bei. Das sind vor allem die großen deutschen Konzerne aus den Branchen Auto, Chemie und Technologie.

Doch gekommen sind auch viele mittelständische Unternehmen. Die Deutsch-Brasilianische Industrie- und Handelskammer in São Paulo hat über tausend Mitgliedsunternehmen, die Mehrheit aus dem Mittelstand.

Die wurden jetzt von der Krise schwer erwischt. „Die traditionellen Mittelstandsbranchen sind in Brasilien die Covid-Verlierer“, sagt Philipp Klose-Morero von Rödl & Partner South America in São Paulo. Die wenigsten Mittelständler würden Gewinn machen. „Die meisten werden bereits länger finanziell von den Muttergesellschaften getragen.“

Zusammen mit dem Lateinamerika-Verein in Hamburg veranstaltete Klose-Morero gerade ein Webinar unter dem vielsagenden Titel: „Should I stay or should I go?“ Der Wirtschaftsanwalt empfiehlt den Firmen zu bleiben. Nicht etwa, weil der Markt sich bald erholen wird, sondern, weil eine Firmenschließung extrem aufwendig sei – und teuer. Aber die Unternehmen sollten die Krise nutzen, um sich auf ein „profitables Minimum“ zu trimmen, damit sie auch ohne Hilfe der Mutterunternehmen überleben können.

Schlechte Aussichten für verarbeitende Industrie

Martin Duisberg von der DZ Bank in São Paulo ist skeptischer: Er schätzt, dass die Mutterhäuser die Kredite an ihre brasilianischen Filialen abschreiben müssen. Der Banker mit langer Brasilien-Erfahrung empfiehlt den deutschen Firmen, genau zu prüfen, ob es überhaupt noch Sinn macht zu bleiben.

Dennoch sieht es nicht für alle Branchen in Brasilien schwarz aus. Nach einer Umfrage im Vorstand der AHK São Paulo hätte rund die Hälfte der Unternehmen die Geschäftsaussichten als gut bis zufriedenstellend beurteilt, sagt Philipp Schiemer, Präsident der Deutsch-Brasilianischen Industrie- und Handelskammer in São Paulo und CEO von Mercedes in Brasilien und Lateinamerika.

Vor allem die Branchen Agro, Chemie, Energie, sowie Bau könnten weiterhin auf Brasiliens Rolle als Lebensmittel-, Rohstoff- und Energielieferant in der Weltwirtschaft setzen. Die großen deutschen Konzerne hätten in Brasilien in den vergangenen Jahren massiv investiert.

Aber manche Fabriken würden nach der Krise wohl nicht mehr öffnen. Schlecht sehe es aus für die gesamte verarbeitende Industrie, etwa die Autobranche, die Maschinenbauer und alle konsumnahen Branchen.

Deswegen sieht Stippig auch keine besseren Zeiten auf Brasilien zukommen, auch wenn das Land wieder wächst. Die brasilianischen Unternehmer seien zu genügsam. Sie würden sich hinter hohen Zöllen abkapseln und seien nicht wirklich an Wettbewerb interessiert „Die wollen nichts ändern“, sagt er.

Nur Investitionen in Bildung und Produktivität könnten den Lebensstandard der Brasilianer sichern. Auch den der Oberschicht. „Es sind zu viele große Fische für einen zu kleinen Teich.“