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In der Schweiz arbeiten Mütter Teilzeit - und zahlen drauf

(Bloomberg) -- Nach der Geburt ihrer Kinder tat Kerstin Röthlisberger das, was Mütter in der Schweiz mehr als irgendwo sonst in der entwickelten Welt tun: Sie stieg auf Teilzeitarbeit um.

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Für die heute 52-jährige Lehrerin war das damals eine “Traumlösung”. Aber es war auch so ziemlich die einzige Lösung, da ihr Mann Vollzeit arbeitete und es keine bezahlbare Kinderbetreuung gab.

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Röthlisbergers Beispiel ist in der Schweiz nach wie vor der Normalfall. Im Vergleich zu anderen OECD-Ländern ist die Eidgenossenschaft das Land mit dem höchsten Anteil an erwerbstätigen Müttern, die Teilzeit arbeiten. Auffallend groß ist auch das Lohngefälle zwischen den Geschlechtern.

Weniger Arbeitsstunden bedeuten weniger Lohn, weniger Berufserfahrung und geringere Renten, was die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern verschärft und Frauen schlechter stellt, wenn sie eine Partnerschaft beenden.

Der Schweizer Arbeitsmarkt hat sich zwar auf einige Bedürfnisse von Eltern eingestellt und kompensiert damit die weitgehend fehlende Unterstützung durch den Staat teilweise — doch er verfestigt gleichzeitig die traditionellen Familienmodelle.

“Wenn ich die Mädchen hier anschaue, oder?”, sagt Röthlisberger in einem Interview in ihrem 4.000-Einwohner-Heimatort Berneck, unweit dem Bodensee. “Die wachsen natürlich auch alle noch mit diesen Rollenbildern auf. Mama ist oft zu Hause, Papa geht grundsätzlich voll arbeiten, Mama arbeitet ein bisschen.”

Eine Folge dieser Praxis ist die beeindruckende Frauenerwerbsquote der Schweiz, die zu den Top 10 innerhalb der OECD gehört. Doch der Schein trügt. Durch das geringe Beschäftigungsausmaß bei einer hohen Teilzeitquote gehen viele potenzielle Lohnarbeitsstunden verloren.

Das Spannungsverhältnis zeigt die Grenzen des schweizerischen Ansatzes auf. Wie alle entwickelten Industriestaaten kämpft auch die reiche Eidgenossenschaft mit einer demografischen Entwicklung, die Sozial- und Rentensysteme unter Druck setzt und zu Maßnahmen anhält, Familie und Beruf in Einklang zu bringen und die Geburtenrate zu fördern.

Am Land zwischen Genf und St. Gallen zeigt sich, dass es nicht ausreicht, sich nur auf die Flexibilität der Arbeitgeber zu verlassen. Teilzeitstellen sind ein struktureller Bestandteil des Schweizer Arbeitsmarktes. Die Kehrseite: Im Durchschnitt verdienen Schweizerinnen 18% weniger als ihre männlichen Landsleute. Diese Lücke ist im internationalen Vergleich eine der größten, wenn auch immer noch weniger als in Südkorea (31%) oder Israel (24%).

Auffallend ist der Unterschied, den der Familienstand macht. Unverheiratete Frauen verdienen in der Schweiz nur 5% weniger als unverheiratete Männer. Doch bei Verheirateten wächst der Abstand auf 25% — und das ist bereits bereinigt um den Beschäftigungsgrad. Würden die teilzeitbeschäftigten Frauen ungewichtet berücksichtigt, wäre der Unterschied noch größer.

Diese Zahlen verdeutlichen die Dominanz des traditionellen Familienmodells in der Schweiz, bei dem der Mann seiner Karriere nachgeht und die Frau zu Hause bleibt und sich um die Kinder kümmert.

Die Stundenpläne in den Schulen verschärfen das Problem. Während andere europäische Länder immer mehr Ganztagsschulen mit Mittagessen einrichten, essen Schweizer Kinder vielfach noch zu Hause. Bis zur sechsten Klasse waren Röthlisbergers Kinder jeden Tag von 12 bis 13 Uhr daheim, bevor sie zum Nachmittagsunterricht gingen.

Die ländliche deutschsprachige Schweiz, wo sie lebt, ist besonders konservativ. Kinderbetreuung ist dort knapp, teuer und traditionell verpönt. Doch in vielen Städten sieht es kaum besser aus.

Meghan O’Donnell, eine in Basel lebende kanadische Mutter, ist auf Tagesbetreuung für ihre dreijährige Tochter angewiesen, da sie Vollzeit arbeitet. Das kostet sie 2.500 Franken (2.561 Euro) im Monat. Nachmittagsaktivitäten, Krankenversicherung und der gelegentliche Babysitter schlagen mit weiteren 1.000 Franken zu Buche.

“Es hat schon Gründe, dass ich in diesem Land nur ein Kind habe”, sagt die 36-jährige O’Donnell. Es wäre “unglaublich schwierig”, ohne Großeltern vor Ort ihren Job mit mehreren Kindern unter einen Hut zu bringen.

Freilich spiegelt eine Demokratie — und im Falle der Schweiz sogar eine sehr direkte — eben auch die Präferenzen ihrer Bürger wider.

Erst im vorletzten Jahr haben die Schweizer einen zweiwöchigen Urlaub für frischgebackene Väter eingeführt. Während die Genfer diesen Monat für eine 24 Wochen dauernde Elternzeit stimmten, die sich Vater und Mutter teilen können, lehnten die Berner einen entsprechenden Vorschlag für 40 Wochen ab. In Zürich scheiterte im vergangenen Jahr eine Initiative, die 18 Wochen für beide Elternteile vorsah.

Als Motiv für die Ablehnung wurden oft Kostengründe genannt, aber auch zugrundeliegende Einstellungen könnten eine Rolle gespielt haben.

Einige Frauen tragen den Kampf für gleichen Lohn auf die Straße. Anfang Juni löste die Zürcher Polizei mit Pfefferspray einen so genannten “Feministischen Streik” gegen die Lohnunterschiede auf.

Die dort angeprangerten Missstände für Schweizer Frauen wurden diese Woche auch in einem Bericht des Weltwirtschaftsforums hervorgehoben. Im sogenannten Global Gender Gap Index des WEF ist die Schweiz um acht Plätze zurückgefallen. Besonders schlecht schnitt das Land bei der wirtschaftlichen Teilhabe ab, wo es auf Platz 63 liegt.

Die vorherrschenden Einstellungen ändern sich nur schwer. Eine im November letzten Jahres durchgeführte Umfrage unter fast 10.000 Studierenden und Juniorprofessoren an den beiden größten Schweizer Universitäten ergab, dass die meisten jungen Frauen das bestehende Teilzeitmodell befürworten und dass sie “ihre Bildungs- und Berufswahl von den Karrierewegen ihres tatsächlichen oder potenziellen Partners abhängig machen”, heißt es in einer daraus hervorgegangenen Studie.

Das geringere Kinderbetreuungsangebot reflektiert nach Ansicht der Sozialökonomin Melanie Häner eine geringere Nachfrage. Sie zitierte eine Umfrage unter Haushalten, bei der 78 % der Befragten angaben, dass sie keine externe Kinderbetreuung benötigen. Teilzeitarbeitende Mütter betreuen ihre Kinder in der Regel selbst oder verlassen sich auf die Großeltern.

Aber ein Mangel an Optionen verstärkt die bestehenden Strukturen und wird kaum dazu beitragen, die Geburtenrate von 1,51 Kindern pro Frau zu steigern, die unter dem OECD-Durchschnitt liegt.

“Wenn man für die Kinderbetreuung bezahlen muss, lohnt es sich für beide Partner überhaupt nicht, zu arbeiten”, sagt Röthlisberger in Berneck. “Wenn man bedenkt, dass Kinder die Zukunft sind, finde ich die Schweiz extrem rückständig.”

Überschrift des Artikels im Original:Switzerland’s Labor-Market Model for Families Comes at a Cost

--Mit Hilfe von Caroline Alexander.

©2023 Bloomberg L.P.