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Ein zweifelhafter Kandidat fürs EU-Parlament

Der Italiener Antonio Tajani soll nächster Präsident des Europäischen Parlaments werden. Er gilt als inkompetent - und ist hoch belastet durch den VW-Skandal.

Kein Zweifel, dieser Mann kann sich auf sein Publikum einstellen. Als Antonio Tajani Mitte Dezember zur christdemokratischen EVP-Fraktion im Europäischen Parlament sprach, schwärmte er von den glorreichen Taten verdienter Staatsmänner wie Konrad Adenauer und Charles de Gaulle. Die, wie der Zufall so will, natürlich Christdemokraten waren. Der Italiener versprach zudem feierlich, die Parlamentsverwaltung in ihre Schranken zu weisen, damit sich die Europaabgeordneten voll und ganz auf ihre so wichtige Arbeit konzentrieren könnten. „Das war schlicht und einfach Populismus für Abgeordnete“, erinnert sich einer, der im Raum war.

So gut gefiel den EVP-Abgeordneten Tajanis Schmeichelei, dass sie das 63 Jahre alte Mitglied der Forza Italia prompt zu ihrem Spitzenkandidaten für die Wahl des EU-Parlamentspräsidenten am kommenden Dienstag kürten. Da die EVP die größte Faktion stellt, ist er damit Favorit für das Amt. Zwar tritt mit Gianni Pittella ein weiterer Italiener für die Sozialdemokraten an, zwar kandidiert der eloquente Liberale Guy Verhofstadt. Doch Tajani bleibt Favorit, auch weil der EVP-Fraktionsvorsitzende Manfred Weber, ein Deutscher, verzweifelt für ihn kämpft. Am Montagabend hat der CSU-Politiker gar ein lange geheim gehaltenes Dokument aus dem Jahr 2014 publik gemacht, laut dem EVP und Sozialdemokraten einen „glasklaren“ Deal geschlossen hätten: Der deutsche Sozialdemokrat Martin Schulz wird mithilfe der Konservativen zum Parlamentspräsidenten gewählt – und macht Anfang 2017 einem Vertreter der EVP-Platz. Hieße konkret: Tajani.

Aber was für ein Mann soll da Europas Gesicht werden? Und Nachfolger von Schulz, über dessen Geltungssucht manche spotteten – dem aber selbst Gegner zubilligen, dass er dem Europaparlament neue Aufmerksamkeit und Geltung verschafft hat. Der trotz eigener Eitelkeit ernsthaft an Europa glaubte statt nur an nationale oder gar eigene Interessen – und entschieden gegen Populisten und Europafeinde auftrat.

Tajani hingegen verdankt seine politische Karriere ausgerechnet Silvio Berlusconi, jenem ehemaligen italienischen Regierungschef, der wegen Korruption zu drei Jahren Haft verurteilt wurde und lange vor Donald Trump in Europa den Populismus und die Clowneske einführte. Tajani steht stur an dessen Seite: „Silvio Berlusconi“, sagt er, „ist die einzige italienische Führungsfigur von Weltrang, in Europa und den USA geschätzt.“

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Damit nicht genug: Tajani war einst EU-Kommissar von Berlusconis Gnaden, fiel aber nur durch Nichtstun und Parteilichkeit auf – und hat durch sträfliche Nachlässigkeit den VW-Abgasskandal erst möglich gemacht.

Den Whistleblower verpfiffen, die Vorwürfe ignoriert

Denn als EU-Industriekommissar wurde Tajani schon 2012 von einem Manager eines Autozulieferers über genau jene Manipulationsmethoden bei Abgasmessungen informiert, die drei Jahre später den VW-Dieselskandal auslösen sollten. Tajani versäumte jedoch, den Vorwürfen nachzugehen. „Dafür trägt er gemeinsam mit dem damaligen Umweltkommissar die Verantwortung“, sagt die grüne Europaabgeordnete Rebecca Harms.

Diese unrühmliche Rolle im Abgasskandal hatte die WirtschaftsWoche Ende 2015 aufgedeckt. Doch erst jetzt, Tage vor der Wahl des neuen Parlamentspräsidenten, wird klar, mit welchen fragwürdigen Methoden der Jurist sich aus dem Dieselskandal winden wollte.

Am 26. November 2015 veröffentlichte Tajani bei Twitter ein Schriftstück mit dem Namen und den Kontaktdaten jenes Automanagers, der ihn über die Abgasmanipulationen informiert hatte. Als langjähriger Verkehrs- und Industriekommissar musste Tajani wissen, was er tat: Er machte einen Zulieferer öffentlich, der seine Kunden – die Autohersteller – bei der Politik angeschwärzt hatte. Ein derart an den Pranger gestellter Zulieferer muss fürchten, niemals wieder einen Auftrag zu bekommen.


Als Kommissar nur heiße Luft produziert

Der Manager wurde prompt von Kollegen aus der Autobranche beschimpft, von VW-Angestellten sogar persönlich bedroht. In seiner Not wandte er sich an Tajanis Straßburger Büro und bat einen Mitarbeiter des Abgeordneten, seinen Namen, den Firmennamen und die Telefonnummer bei Twitter zu löschen. Der damalige Vizepräsident des Europaparlaments reagierte mit einer dreisten Gegenforderung: Der Autozulieferer solle eine Pressemitteilung veröffentlichen, die Berichte der WirtschaftsWoche über Tajanis Rolle im Abgasskandal seien falsch gewesen. Mehrfach erhob Tajani diese Forderung, jedes Mal lehnte der Manager das unmoralische Angebot ab.

Und so ist Tajanis Twitter-Attacke auf den Whistleblower, der sich vertrauensvoll an den damaligen Industriekommissar gewandt hatte, bis heute online. „Veröffentlicht ein EU-Parlamentarier ein vertraulich übersandtes Schriftstück mit Name und Telefonnummer eines Dritten ohne Einverständnis dieser Person, ist das ein Verstoß gegen europäisches Datenschutzrecht“, sagt Rolf Schwartmann, Rechtsprofessor an der Technischen Hochschule Köln. Und fügt hinzu: „Wie kann ein Politiker einen Informanten öffentlich machen, der ihn auf Missstände hinweist?“

Chaotisch als Kommissar

Tajani wollte sich auf Anfrage zu den neuen Vorwürfen gegen ihn nicht äußern. Fraktionschef Weber soll sich einen anderen EVP-Kandidaten gewünscht haben, heißt es in Brüssel. Qua Amt muss er Tajani nun aber verteidigen. Weber warnt vor „Vorverurteilungen“ der Kandidaten, die bislang vor allem aus Deutschland kämen. Aber selbst EVP-Mitgliedern bangt vor dessen Kandidatur. Wegen Tajanis Bande zu Berlusconi, dem er als Sprecher diente, und seiner Verstrickung in den VW-Skandal. Aber auch wegen dessen Bilanz als EU-Kommissar, zuständig erst für Verkehr, danach für die Belange der Industrie.

Da produzierte Tajani nämlich vor allem heiße Luft. Sein Aktionsplan für den Stahlsektor verpuffte genauso wie eine Initiative für mehr Tourismus. Unternehmensvertreter erinnern, wie er oft in letzter Minute Treffen schwänzte, sogar mit Daimler-Boss Dieter Zetsche. Zählen konnten auf Tajani nur Landsleute, sie bekamen meist rasch einen Termin.

So auch jener italienische Automanager, auf den Tajani am 4. Juli 2012 um elf Uhr in einem Straßburger Büro der EU-Kommission traf. Thema: Manipulationen von Autoherstellern bei Emissionsmessungen. So steht es in einem Briefing, das der Manager am Tag zuvor Tajanis Büro zuschickte. „Im Bereich der Fahrzeugemissionen“, hieß es warnend in dem Schreiben, gebe es die Praxis des „Cycle Beating“ (den Zulassungstest austricksen). Und weiter: „Moderne Technologie bietet viele Wege, um Zulassungstests zu manipulieren. Etwa durch Verwendung spezieller Software, die den Start eines Zulassungstests erkennt.“ Nur dann funktionierten die Autos korrekt. Später auf der Straße jedoch funktioniere die Technik nur noch eingeschränkt. Die Kommission müsse ein klares Signal senden, dass solche Tricksereien nicht toleriert würden.

Der Brief und das anschließende Gespräch in Straßburg waren die weltweit frühesten Hinweise auf die Manipulationsmethode, die sich VW zunutze gemacht hat und die später zum VW-Skandal führen sollte.

Nachdem die WirtschaftsWoche dies enthüllt hatte, twitterte Tajani in Trump-Manier los. „wiwo lügt schon wieder“, schrieb er und fügte als Beleg besagtes Schreiben des italienischen Informanten bei. Dieses beziehe sich „auf Reifendrucksensoren, nicht VW“.


Entscheidung der Europafeinde?

Doch wie Trump nimmt Tajani es mit Fakten nicht so genau. Der Informant hatte über 300 Wörter lang Manipulationen von Autoherstellern bei Emissionen beschrieben. In gerade mal zwei Sätzen sprach er das Thema Reifendrucksensoren an. Und zwar als „klares Beispiel“ für Manipulationen bei Zulassungstests.

Was Tajani bei seinem Versuch, sich mit dem Verweis auf das Reifenthema aus der Affäre zu stehlen, verschweigt: Der Reifendruck steht in direktem Zusammenhang mit Emissionen. Autos, die mit zu geringem Reifendruck unterwegs sind, weil die Sensoren einen Druckverlust nicht zuverlässig anzeigen, verbrauchen mehr Sprit. Deshalb sicherte die EU Autobauern mehr Spielraum bei Grenzwerten zu, wenn sie Autos mit Reifendrucksensoren ausstatten.

Außerdem: Bei etwa jedem zweiten Autounfall, der wegen technischer Mängel passiert, sind platte Reifen schuld. Reifendrucksensoren können solche Unfälle verhindern. Allein aus Sicherheitsgründen hätten die Schilderungen des Whistleblowers den damaligen Industriekommissar alarmieren müssen. Der aber ließ die Dinge laufen.

Tajani spielte das Unschuldslamm

Erst im November 2016 offenbarte ein Test der europäischen Umweltorganisation Transport & Environment (T&E), dass Reifendrucksensoren bei Volkswagen und Fiat oft nur in Zulassungstests funktionieren, in fast allen getesteten Alltagssituationen dagegen versagten sie. Offenbar gibt es neben dem Dieselskandal auch einen ganz ähnlich gelagerten Reifenskandal – und beides war Tajani schon 2012 bekannt.

Das hielt den Forza-Italia-Mann aber nicht davon ab, im Dieselgate-Untersuchungsausschuss des Europaparlaments das Unschuldslamm zu geben: „Ich wurde niemals über betrügerische Technik oder Strategien, mit denen Autohersteller Emissionswerte manipulieren, informiert“, gab er zu Protokoll. Ausschussmitglieder nehmen ihm das nicht ab. „Mir ist absolut unverständlich, warum Tajani keine Untersuchungen in Auftrag gegeben hat“, sagt der sozialdemokratische Abgeordnete Ismail Ertug.

Kann ein so belasteter Mann wirklich Präsident des Europäischen Parlaments werden? Selbst Herbert Reul, Vorsitzender der CDU/CSU-Gruppe im Parlament, ist sich nicht mehr sicher, er beziffert Tajanis Chance nur auf 50 Prozent. Freilich bietet sich dem noch ein Ausweg an. Im vierten Wahlgang, wenn die einfache Mehrheit genügt, könnten die Stimmen von Extremisten und Europafeinden wie Marine Le Pen oder Nigel Farage den Italiener ins Amt hieven. Ein Präsident von deren Gnaden? Ausgerechnet in einem Jahr, in dem voraussichtlich in den fünf größten Ländern der Euro-Zone gewählt wird und Populisten und Extremisten überall auf Stimmenzuwachs hoffen?

EVP-Fraktionschef Weber betont zwar, seine Gruppierung werde keine Stimmen von Radikalen akzeptieren. Doch das Versprechen ist leicht dahingesagt. Denn die Abstimmung ist geheim – wer für wen gestimmt hat, wird am Ende niemand wissen.