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„Sputnik-Moment“? Russland lässt ersten Corona-Impfstoff zu

Laut Wladimir Putin wurde seine Tochter bereits mit dem Wirkstoff gegen Covid-19 geimpft. Aber selbst russische Experten warnen vor der Anwendung.

Eine der beiden Töchter des Präsidenten stellte sich wohl für einen Test zur Verfügung. Foto: dpa
Eine der beiden Töchter des Präsidenten stellte sich wohl für einen Test zur Verfügung. Foto: dpa

In Russland gibt es nun einen zugelassenen Impfstoff gegen Sars-CoV-2. „Das russische Vakzin gegen das Coronavirus ist effektiv und bildet eine beständige Immunität“, sagte Präsident Wladimir Putin. Seine Tochter habe das Serum bereits an sich selbst ausprobiert.

Allerdings hat der Impfstoff noch nicht alle drei Erprobungsstufen durchlaufen, und die Daten dazu sind nicht transparent publiziert. Für eine Zulassung in Europa oder den USA kommt das Mittel damit nicht infrage. Die russische Vereinigung für klinische Forschungen hat die Regierung daher aufgefordert, die Zulassung noch zurückzustellen. Auch westliche Politiker sind skeptisch und warnen vor hohen Risiken des Impfstoffs.

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Denis Logunow, Forschungsdirektor des Forschungszentrums Gamaleja, an dem das Serum entwickelt wurde, verweist auf gute Erfahrungen bei der Entwicklung eines Vakzins gegen das mit Corona verwandte Mers-Virus. Finanziert wird die russische Impfstoffforschung vom russischen Staatsfonds RDIF. Dessen CEO Kirill Dmitriew sprach gegenüber dem Handelsblatt von einem „Sputnik-Moment“.

Das ebenfalls an einer Sars-CoV-2-Impfung forschende deutsche Biotechunternehmen Curevac bereitet derweil einen Börsengang an der US-Technologiebörse Nasdaq vor. Curevac will dabei 345 Millionen Dollar zusätzliches Kapital einwerben. Mehrheitseigner Dietmar Hopp hat zugesagt, für zusätzliche 100 Millionen Euro Curevac-Aktien zum Emissionspreis zu erwerben. Die vorbörsliche Bewertung des Unternehmens liegt bei knapp 2,7 Milliarden Dollar.

Der Stolz war dem russischen Präsidenten deutlich anzusehen, auch wenn er versuchte, sachlich zu klingen: „Soweit mir bekannt ist, wurde heute erstmals in der Welt ein Impfstoff gegen die neue Corona-Infektion zugelassen“, sagte Putin bei einer Onlinesitzung der russischen Regierung. Seine Tochter habe nach der Impfung 38 Grad Fieber gehabt, am zweiten Tag 37 Grad. „Und das war es. Nach der zweiten Impfung hat sich die Temperatur auch etwas erhöht, aber dann ist alles zurückgegangen, sie fühlt sich gut und hat viele Antikörper“, so Putin.

Das Onlineformat der Regierungssitzung verdeutlicht, wie sehr Covid-19 immer noch das öffentliche und politische Leben in Russland unter Kontrolle hat. Am Dienstag wurden erstmals seit April weniger als 5000 Neuinfizierte pro Tag gemeldet. Die Opferzahlen steigen zudem unerbittlich weiter. Am Dienstag kamen laut dem Corona-Operationsstab 130 Tote dazu – insgesamt sind es demnach schon mehr als 15.000. Wobei die Statistikbehörde aufgrund einer anderen Zählweise sogar noch deutlich höhere Zahlen ausweist.

Russisches Gesundheitsministerium weist Kritik zurück

Seit Monaten forscht Russland daher – wie andere Länder auch – an einem Impfstoff gegen die Pandemie und will nun einen Durchbruch geschafft haben: Das nationale Forschungszentrum für Epidemiologie und Mikrobiologie, benannt nach dem russisch-sowjetischen Arzt Nikolai Gamaleja, hat einen Impfstoff entwickelt, der von der Gesundheitsbehörde zugelassen wurde.

Wegen der stark verkürzten Testphase hatte sich die russische Assoziation für klinische Forschungen (Aoki) – wozu auch viele internationale Pharmakonzerne gehören – unmittelbar vor der Zulassung noch an das Gesundheitsministerium gewandt und gefordert, die Registrierung des Impfstoffs zurückzustellen. Der Wettlauf darum, wer als Erster einen solchen Impfstoff herstelle, sei ein „Relikt des Heldenparadigmas“ früherer Zeiten, warnte Aoki. „Die beschleunigte Registrierung macht Russland nicht zum Führenden in diesem Wettlauf, sondern gefährdet nur unnötig die Endverbraucher des Impfstoffs, die Bürger der Russischen Föderation“, heißt es in dem Schreiben.

Das russische Gesundheitsministerium wies die Kritik brüsk zurück. „Es ist offensichtlich, dass Aoki, ohne irgendwelche Ergebnisse zu kennen, hier seine Schlussfolgerungen zieht“, sagte die Vizechefin der Gesundheitsbehörde, Walentina Kosenko, den Einwand der Pharmavereinigung.

Der Abteilungsleiter für die Gütekontrolle bei der Behörde, Sergej Glagoljew, ging noch einen Schritt weiter, indem er den Kritikern unterstellte, als Konkurrenten die Entwicklung behindern zu wollen: „Das ist eine Vereinigung, zu der vor allem ausländische Pharmakonzerne gehören. Meiner Information nach entwickeln einige von ihnen ihre eigenen Impfstoffe“, sagte der Beamte.

Laut der russischen Gesundheitsbehörde wurden bereits Hunderte Testpersonen geimpft. Das widerspricht allerdings den Angaben von Denis Logunow, dem Forschungsdirektor des Forschungszentrums Gamaleja. Logunow sprach in einem Interview Ende Juli von insgesamt 76 Testpersonen, die bislang erfolgreich geimpft worden seien.

Sein Ziel sei es nie gewesen, Erster zu sein, sagte der 43-jährige Mediziner. Er ist aber überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Dass die Forscher so schnell vorangekommen seien, erklärte er damit, dass sein Institut drei Jahre an einem Impfstoff gegen das mit Sars-CoV-2 verwandte Virus Mers gearbeitet habe. Dabei sei sein Team zum Ergebnis gekommen, dass ein sogenannter Vektorimpfstoff am effektivsten sei.

Für einen solchen Impfstoff wird Erbmaterial des neuen Virus mithilfe eines bekannten, harmlosen Virus in die menschlichen Zellen eingeschleust. Daraufhin produzieren die Zellen die gewünschten Antigene. Erfolge mit dieser Methode lassen sich vergleichsweise leicht auf ähnliche Viren übertragen, was laut Logunow schon ab Februar geschah.

Zwei Wochen habe die Entwicklung des Impfstoffs selbst nur gekostet. Anschließend sei Zeit in Tests investiert worden. Nach Einschätzung Logunows sind „Abkürzungen“ in der Erprobungsphase möglich. Allerdings könne eine Zulassung in dem Fall nur begrenzt sein, um die Untersuchungen auf eine größere Gruppe an Testpersonen – mehrere Tausend – auszuweiten. Für den Fall hielt Logunow eine begrenzte Zulassung im September für möglich. Die Zulassung Anfang August dürfte demnach eine politische Entscheidung sein, nochmals abzukürzen.

Aus europäischem und amerikanischem Blickwinkel hat die Impfstoffzulassung in Russland nur begrenzte Aussagekraft und Bedeutung. Denn bisher sind für das Projekt kaum Daten publiziert. Zudem waren die bisherigen klinischen Tests nach westlichen Kriterien bei Weitem zu klein. In der Datenbank clinicaltrials.gov sind bisher nur zwei Phase-1-Studien für zwei Produktkandidaten des Gamaleja-Instituts mit jeweils 38 Teilnehmern gelistet.

Das Paul-Ehrlich-Institut (PEI), das in Deutschland Impfstoffe zulässt, erneuerte seine Warnung vor zu großer Eile in der Impfstoffzulassung. „Aus Sicht des PEI ist es auch in der aktuellen Pandemiesituation zwingend erforderlich, dass alle Prüfungen und Bewertungen mit der gleichen Sorgfalt erfolgen wie bei anderen Impfstoffen“, sagte Präsident Klaus Cichutek.

Für eine Zulassung in Europa oder den USA verlangen die Behörden umfangreiche, sogenannte Phase-3-Wirksamkeits- und Sicherheitsstudien an einem repräsentativen Personenkreis. Diese Studien sollen zum Beispiel auch Tests an älteren und vorbelasteten Personen umfassen. Die US-Zulassungsbehörde FDA fordert dabei, dass ein Impfstoff sicher sein muss und das Risiko für Covid-Infektionen oder schwere Krankheitsverläufe um mindestens 50 Prozent reduziert.

Die führenden westlichen Impfstoff-Entwickler, darunter die Mainzer Biontech, die US-Firma Moderna und der britische Pharmakonzern Astra-Zeneca, haben große Studien mit rund 30.000 Teilnehmern gestartet, deren Resultate im Herbst vorliegen werden. Weitere Firmen wie der Gesundheitskonzern Johnson & Johnson, der französische Sanofi-Konzern und auch die Tübinger Curevac wollen entsprechende Studien im Laufe des Jahres starten. Auch die chinesischen Impfstoffentwickler Sinopharm, Sinovac und Cansino Biologics testen ihre Vakzine an großen Patientengruppen mit jeweils mehr als 10.000 Personen oder haben solche Tests in Planung.

Für den in Russland entwickelten Impfstoff soll die dritte Phase der klinischen Studien noch anlaufen. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums mit 2000 Probanden.

Kein Wirksamkeitsnachweis nach westlichen Standards

Bislang liegt noch für keinen der zahlreichen Impfstoffkandidaten ein Wirksamkeitsnachweis nach westlichen Standards vor. Offen ist bei praktisch allen Projekten unter anderem die Frage, ob die bisher gemessenen Immunreaktionen wirklich ausreichen, um Corona-Infektionen abzuwehren, und wie lange ein solcher Schutz in der Praxis anhält. Neben der Bildung von Antikörpern kommt es dabei auch auf die zelluläre Immunabwehr an, also etwa darauf, wie stark ein Impfstoff T-Zellen des Immunsystems gegen Sars-CoV-2 aktiviert.

Die Technologie, die das Moskauer Gamaleja-Institut nutzt, ist dabei auch bei westlichen Impfstoffherstellern geläufig. Auf einer ähnlichen Technik basieren auch die Impfstoffkandidaten der chinesischen Cansino Biologics und der britischen Astra-Zeneca.

Eine Herausforderung für diese Art der Vektor-Impfstoffe besteht unter anderem darin, dass die Adeno-Viren, die dafür genutzt werden, relativ weit verbreitet sind. Dadurch besteht das Risiko, dass Patienten eine Grundimmunität gegen Adeno-Viren mitbringen und deren Immunsystem das Transportvehikel abfängt, bevor die Reaktion auf das Corona-Protein erfolgt. Dass solche Einschränkungen nicht ungerechtfertigt sind, hat sich unter anderem in den ersten Testdaten von Cansino Biologics angedeutet.

Westliche Beobachter werfen Russland Verantwortungslosigkeit vor. Der Gesundheitspolitiker im Europaparlament, Peter Liese (CDU), bezeichnete das Vorgehen als „höchst problematisch“. Dass die Russen die dritte Testphase überspringen, sei „nach EU-Recht nicht zulässig und kann im schlimmsten Fall dazu führen, dass viele Menschen Nebenwirkungen haben, aber keinerlei Wirkung“.

Der FDP-Obmann im Bundestags-Gesundheitsausschuss, Andrew Ullmann, sagte: „Wissenschaftliche Ergebnisse bedürfen der Veröffentlichung. Wenn Russland seine Ergebnisse nicht veröffentlicht und somit die Wirkung und Sicherheit international nicht bewiesen wird, ist eine Zulassung des Impfstoffs gefährlich.“

Experten rechnen in den kommenden Wochen noch nicht mit einem Impfstoff, der westeuropäische Zulassungsbehörden zufriedenstellt. EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides gab am Wochenende die optimistische Prognose ab, der erste Impfstoff werde in rund sechs Monaten zur Verfügung stehen. „Auch wenn Vorhersagen zum jetzigen Zeitpunkt noch riskant sind, haben wir doch gute Hinweise, dass der erste Impfstoff gegen Ende dieses oder Anfang nächsten Jahres verfügbar sein wird“, sagte sie dem Handelsblatt.

Einen Weg, der mit Sicherheit zu einem Impfstoff führt, gibt es nicht. Außerdem ist nicht jeder Impfstoff gleich wirksam. Manche schützen nicht ein Leben lang, sondern nur für einige Jahre. Andere haben starke Nebenwirkungen und eignen sich deswegen zum Beispiel für vorerkrankte Menschen nicht. Um solche Risiken abzuschätzen, braucht es das lange Testverfahren.

Dass Russland diese Zeit nicht aufwenden will, zeigt, wie groß der Druck ist. Ein funktionierender Impfstoff könnte viele Menschenleben retten. Und gleichzeitig könnte er Infektionsschutzmaßnahmen überflüssig machen, unter denen die Wirtschaft leidet und die Arbeitsplätze kosten.

„Der Sputnik-Moment ist wieder da“

Finanziert wird die russische Impfstoffforschung vom Staatsfonds RDIF (Russian Direct Investment Fund), der nach eigenen Angaben Beteiligungen an den Unternehmen hält, die den Impfstoff erforscht haben und diesen produzieren sollen. Beim RDIF seien bereits Orders für eine Milliarde Impfdosen aus 20 Ländern eingegangen, teilte der Fonds mit. „Gemeinsam mit ausländischen Partnern sind wir bereit, die Produktion von über 500 Millionen ‧Impfstoffdosen pro Jahr in fünf Ländern bereitzustellen, und wir planen, die Produktionskapazität noch weiter zu erhöhen“, sagte Fonds-Chef Kirill Dmitriew.

Schon vor Wochen schwärmte er von dem Impfstoff, der nun zugelassen wurde. „Ich weiß, dass er wirkt“, sagte er. Nun zog er wieder eine Parallele zu 1957, als das Land mit seinen Satelliten im Rennen um die Beherrschung des Weltraums einen entscheidenden Schritt weiter war als die USA. „Der Sputnik-Moment ist wieder da“, sagte Dmitriew dem Handelsblatt.

Auch jetzt sei Russland weltweit führend. Das werde, „wie damals auch“, nicht nur zu Konkurrenz, sondern auch „zu mehr Zusammenarbeit“ in der Zukunft führen. Nun sei es wichtig, meint Dmitriew, „dass keine politischen Barrieren errichtet werden, um die bestmögliche Technologie für alle Länder zu blockieren“. Anzeichen dafür gebe es bereits, da westliche Politiker und Medien die Wirksamkeit des russischen Impfstoffs in Zweifel zögen, ohne ihn zu kennen.