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Das Präsidialsystem könnte zum Stolperstein für Erdogan werden

In der Diskussion um die für Sonntag anstehenden Wahlen in der Türkei fehlt es nicht an Dramatik. Die Regierung droht, schon ihre Schwächung gefährde den Fortbestand des Staates sowie die Einheit des Vaterlandes, und die Opposition warnt vor einem Ende der Demokratie. Man spricht von einer Schicksalswahl.

Tatsächlich steht viel auf dem Spiel. Nach der geänderten Verfassung finden die Wahlen des Staatspräsidenten und des Parlaments gleichzeitig statt, und der ganze Herrschaftsapparat steht zur Disposition. Doch damit nicht genug. Nach der Wahl tritt auch das Präsidialsystem in Kraft, das dem Staatspräsidenten nahezu unbegrenzte Vollmachten verleiht.

Doch noch ein weiterer Aspekt macht diese Wahl außergewöhnlich spannungsreich. Zum ersten Mal, seit Erdogans Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung (AKP) 2002 die Macht antrat, wittert die Opposition Morgenluft.

In den vergangen 16 Jahren gewann die AKP elf Urnengänge: Parlamentswahlen, Kommunalwahlen, Verfassungsreferenden und eine Staatspräsidentenwahl. Außer bei der Volksabstimmung über die Verfassungsänderung 2017 hatte die Opposition in allen diesen Wettbewerben keine reelle Chance. Wieso müssen Erdogan und seine AKP heute um den Sieg bangen?

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Wer andern eine Grube gräbt….

Es ist pikanterweise das neue System selbst, das der AKP auf die Füße fallen könnte. Erdogan hatte das Präsidialsystem eingeführt hat, um seine eigene Herrschaft auszubauen; allein zur Machterhaltung der AKP hätte es weder einer Verfassungsänderung noch eines Präsidialsystems bedurft. Jetzt müssen – statt wie früher eine – zwei Wahlen gewonnen werden: die Parlamentswahl und die Wahl des Staatspräsidenten. Doch weil das neue Präsidialsystem bewusst Checks and Balances vermeidet und alle Macht in eine Hand legt, formiert sich ein bislang unbekannter Widerstand.

Das Ende des Spiels mit der Polarisierung?

Dass die AKP sich selbst ihre Aufgabe so leichtfertig und fast gedankenlos erschwerte, liegt daran, dass sie sich ihrer Wähler absolut sicher glaubte. Gut achtzig Prozent der Türken hatten in den letzten Jahrzehnten die Parteien gewählt, die ihrer jeweiligen kulturellen Identität entsprechen.

Die Frommen stimmten für die AKP, die eher Säkularen für die Republikanische Volkspartei (CHP), ausgesprochene Nationalisten für die Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) und die Mehrzahl der Kurden für die prokurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). Fromme positionieren sich gegen Säkulare und Türken gegen Kurden.

Ernsthafte Wählerwandungen gab es bislang nur zwischen AKP und MHP. Die säkulare Oppositionsführerin CHP kam in aller Regel nicht über 25 Prozent hinaus, und die prokurdische Partei bangt jedes Mal darum, dass sie das Quorum von zehn Prozent erreicht, Voraussetzung für den Einzug einer Partei ins Parlament.

Die AKP dagegen ruhte bisher sehr komfortabel auf der national-konservativen Mehrheit der Gesellschaft. Sah sie ihr satte Mehrheit doch einmal bedroht, war es ein Leichtes, die Spannungen zwischen den kulturellen Lagern anzuheizen, so die eigenen Wähler bei der Stange zu halten und die eigene Mehrheit erneut zu sichern.

Der Unmut über die Konzentration der ganzen Macht in einer Hand hat jedoch das Potenzial, das eingeübte Spiel der AKP mit der Polarisierung der Gesellschaft zu durchkreuzen. Die neu gegründete »Gute Partei« (IyiP) hat sich erfolgreich zwischen national gesinnten Konservativen und national gesinnten Säkularen etabliert und ist damit zu einer Alternative für konservative Wähler geworden, die Erdogans Alleinherrschaft ablehnen. Ähnliches gilt für die pro-religiöse Glückseligkeitspartei (SP). Zwar spielt sie zahlenmäßig keine große Rolle.

Doch dass die betont fromme Führung der Partei die AKP beschuldigt, die Religion schamlos für ihren Vorteil auszunutzen, schwächt die bislang bestehende Gleichsetzung von Frömmigkeit und Orientierung auf die AKP. Noch wichtiger ist freilich, dass sich diese beiden Parteien entschließen konnten, mit der strikt-säkularen CHP ein Wahlbündnis gegen AKP und MHP zu schmieden, die ihrerseits als Bündnis ins Rennen gehen. Für oder gegen Erdogan, für oder gegen das neue Präsidialsystem, für oder gegen die bisherige Politik lautet deshalb heute die Frage, und das so lange festgefahrene politische System kommt in Bewegung.

Teuerung, Wirtschaft, Außenpolitik

Dies ist vor allen Dingen deshalb wichtig, weil die Erfolgsbilanz der Politik der letzten Jahre recht mager ausfällt. Die Türkei kämpft gleichzeitig mit hoher Inflation, Abwertung ihrer Währung, einem wachsenden Schuldenberg, hohen Zinsen und einer hohen Arbeitslosigkeit.

Etwa siebzig Prozent der Wähler machen sich Sorgen um die Wirtschaft, und 55 Prozenten befürchten eine weitere Verschlimmerung der Lage. Mehr als die Hälfte hält wenig von Erdogans Außenpolitik und kritisiert besonders die Einmischung in den syrischen Bürgerkrieg.

Das Zugpferd schwächelt

Die Popularität von Recep Tayyip Erdogan war bisher von allen Krisen unbeeinflusst geblieben. Kein anderer Politiker kam auch nur entfernt an seine Rednergabe, seine Volksnähe und sein Charisma heran. Doch heute zeigt der Präsident deutliche Zeichen von Ermüdung, und mit Muharrem Ince, dem Kandidaten der Hauptoppositionspartei CHP, trifft er zum ersten Mal auf einen ernst zu nehmenden Herausforderer.

Dem Präsidenten unterlaufen plötzlich Fehler, die Ince gnadenlos ausnutzt. Wenn Erdogan Ince »armselig« nennt, kontert dieser damit, dass er tatsächlich alles andere als reich und der Vertreter armer Leute sei, während der Präsident nur noch das Palast-Leben kenne.

Wenn Erdogan das Oppositionsbündnis als buntgescheckten Haufen darstellt, rühmt sich Muharrem Ince damit, dass er die Nation quer über alle kulturellen Spaltungen vertritt und damit die Einheit des Landes sichert. Mehr noch, Ince macht sich über den Präsidenten lustig, ein bislang unerhörter Vorgang, der Kratzer an Erdogans Charisma hinterlässt.

Der Ausgang der Wahl ist schwer vorherzusehen. Die Umfragen zeigen kein einheitliches Bild, doch wächst der Anteil derer, die unentschlossen sind, und derer, die ihre Haltung nicht offenlegen wollen. Es steht viel auf dem Spiel bei dieser Wahl, für die Türkei, für die EU und für den Nahen Osten.

Dr. Günter Seufert forscht an der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) u.a. zu türkischer Innen- und Außenpolitik. Die Stiftung berät Bundestag und Bundesregierung in allen Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Artikel erscheint auf der SWP-Homepage in der Rubrik Kurz gesagt.