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Pandemie bedroht Krankenkassen – Beiträge könnten drastisch steigen

Die plötzliche Schieflage der GKV hängt mit der Coronakrise zusammen – und mit der Gesundheitspolitik der vergangenen Jahre. Foto: dpa

Gesetzliche Krankenkassen geraten durch die Pandemie in Schwierigkeiten. Erste Kassen haben Liquiditätsprobleme, Pleiten sind möglich.

Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) blickt auf eine finanziell äußerst komfortable Zeit zurück. Der boomende Arbeitsmarkt führte zu steigenden Beitragseinnahmen und Rekordüberschüssen. Die Rücklagen bei den Krankenkassen stiegen vergangenes Jahr auf mehr als 20 Milliarden Euro an. Ein weiteres Finanzpolster lagerte im Gesundheitsfonds, der die Beitragsgelder und einen Steuerzuschuss an die gut 100 Kassen in Deutschland verteilt.

Noch im Januar betrug die Liquiditätsreserve des Fonds zehn Milliarden Euro. Insgesamt hatte die GKV also rund 30 Milliarden Euro auf der hohen Kante, das Anderthalbfache einer Monatsausgabe im Gesundheitssystem.

Vier Monate später schlägt der GKV-Spitzenverband Alarm. Einige Krankenkassen steuern in der Coronakrise auf akute Liquiditätsprobleme zu, auch Pleiten sind nicht ausgeschlossen. Ein ranghoher Krankenkassenfunktionär sagte: „Mehrere Kassen stehen an der Abbruchkante.“ Das liegt auch daran, das die Rücklagen bei einzelnen Krankenkassen sehr ungleich verteilt sind.

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Die Warnenden in der GKV sehen auf Versicherte und Unternehmen mitten in einer Rezession stark steigende Beiträge zukommen – es sei denn, Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hilft mit einem Milliardenzuschuss aus dem Bundeshaushalt aus.

„Ohne gesetzliche Maßnahmen steuert das Finanzierungssystem der Krankenversicherung spätestens zum Jahreswechsel 2020/21 auf einen existenziell bedrohlichen Liquiditätsengpass zu: Die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds wird im Verlauf des zweiten Halbjahres aufgrund der absehbaren Mindereinnahmen und vorgegebenen Zahlungsverpflichtungen aufgebraucht sein“, heißt es in einem dem Handelsblatt vorliegenden Positionspapier des GKV-Spitzenverbandes.

Spahn spricht mit Kassen

Am Montag trifft sich Spahn mit der Vorsitzenden des GKV-Spitzenverbandes, Doris Pfeiffer, und einer Reihe Kassenchefs zu einem Krisengespräch. Zu den Beratungen soll im Vorfeld möglichst wenig an die Öffentlichkeit dringen, das Bundesgesundheitsministerium bestätigt den Termin offiziell nicht.

Dort heißt es lediglich, man habe die „Auswirkungen der Pandemie auf die Finanzlage der Krankenkassen im Blick“ und befinde sich im „engen Austausch“, um Probleme zu erkennen und zu lösen.

Für Spahn ist das Thema heikel, weil die plötzliche Schieflage der GKV-Finanzen nicht nur mit der Coronakrise zusammenhängt, sondern auch mit seiner Politik der vergangenen Jahre. Vor dem Hintergrund der guten Einnahmelage brachte der Minister eine Reihe kostspieliger Gesetze auf den Weg. In Kassenkreisen wurde der zusätzliche Finanzbedarf bis 2022 vergangenes Jahr mit bis zu 40 Milliarden Euro beziffert, also noch vor der Pandemie.

Spahns Gesetze, beispielsweise die Anreize für Ärzte für eine schnellere Vergabe von Terminen an Kassenpatienten, entfalten zunehmend ihre finanzielle Wirkung. Genau zu dem Zeitpunkt, wo durch die Pandemie neue Ausgabenrisiken entstehen und die Einnahmen wegen Kurzarbeit, steigender Arbeitslosigkeit und Beitragsstundungen angeschlagener Unternehmen wegzubrechen drohen.

Bereits im März hatte der AOK Bundesverband auf die Folgen der Coronakrise für die Kassen hingewiesen. „Pandemiebedingte Einnahmeausfälle und Mehrausgaben treffen die gesetzlichen Krankenkassen mit voller Wucht“, sagte AOK-Bundeschef Martin Litsch. „Deshalb müssen jetzt so schnell wie möglich zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt werden.“ Litsch schwebte ein „umfassender Rettungsschirm für das deutsche Gesundheitswesen“ vor.

Es fehlt an Liquidität

In der Zwischenzeit schlitterten einige Krankenkassen bereits in Liquiditätsprobleme. Offen möchte keine Kasse darüber sprechen. Doch dem Handelsblatt sind Fälle bekannt, in denen Kassen fest angelegte Wertpapiere trotz Kursverlusten abstießen, um kurzfristig an frisches Geld zu kommen. Ein Kasseninsider sagte, dass in der gesamten GKV kurzfristig rund vier Milliarden Euro flüssig gemacht werden mussten.

Grund für die Engpässe ist, dass eine Mitte April fällige Zuweisung aus dem Gesundheitsfonds geringer ausfiel als erwartet. Der Fonds, der die Gelder im gesetzlichen System nach bestimmten Kriterien an die Kassen verteilt, gab seine eigenen finanziellen Schwierigkeiten an die Krankenkassen weiter.

Das zuständige Bundesamt für Soziale Sicherung erklärte auf Nachfrage des Handelsblatts, dass sich die Liquidität wegen der milliardenschweren Ausgleichszahlungen an Krankenhäuser für freigehaltene Intensivbetten in der Corona-Pandemie sowie gesunkenen Beitragseinnahmen kurzfristig reduziert habe. „Daher verringerte sich auch der Betrag, der am ersten Auszahlungstag für den Monat April überwiesen werden konnte.“

Das Problem: Die Krankenkassen, die fest mit dem gewohnten Betrag gerechnet hatte, erfuhren von der gekürzten Summe mit einem Tag Vorlauf. Außerdem ließ das Bundesamt die Kassen wissen, dass der in Tranchen aufgeteilte Gesamtbetrag von monatlich 21 Milliarden Euro nicht wie zuletzt üblich bis Monatsende eingehen werde. Stattdessen werde die letzte Rate erst Mitte Mai überwiesen.

Rechtlich ist das möglich, allerdings fühlten sich die Kassen überrumpelt. An dem neuen Modus will das Bundesamt erst einmal festhalten: „Wir gehen davon aus, dass die Zuweisungen auch in der nächsten Zeit nicht mehr so vorzeitig ausgezahlt werden können, wie es die Krankenkassen bisher gewohnt waren.“

Neben den kurzfristigen Liquiditätsengpässen zeichnet sich ein mittelfristiges Finanzierungsproblem ab. Schon das vergangene Jahr schloss die gesetzliche Krankenversicherung mit einem Defizit von 1,6 Milliarden Euro ab. Das war politisch gewollt: Spahn hat seit seinem Amtsantritt im März 2018 deutlich gemacht, dass er die hohen Rücklagen bei den Krankenkassen abschmelzen und Versicherte über niedrigere Zusatzbeiträge entlasten möchte.

Wie hoch der Zuschlag auf den allgemeinen Krankenversicherungsbeitrag von 14,6 Prozent des Bruttoeinkommens ausfällt, legt jede Krankenkasse abhängig von ihrer Finanzlage fest. Jedes Jahr im Oktober kommt aber der sogenannte Schätzerkreis zusammen, der die Einnahme- und Ausgabeentwicklung in der GKV für das kommende Jahr prognostiziert.

Das Gremium berechnet auch einen durchschnittlichen Zusatzbeitrag, den Kassen erheben müssten, um alle Ausgaben zu decken. Den Finanzexperten der GKV schwebte für 2020 ein durchschnittlicher Zusatzbeitrag von 1,3 Prozent vor, Spahn entschied sich aber für 1,1 Prozent. Aus einer großen deutschen Krankenkasse heißt es: Durch den zu niedrig angesetzten Zusatzbeitrag hätte die GKV auch ohne Corona in diesem Jahr schon ein Minus von sechs Milliarden Euro eingefahren.

Unwägbare Perspektive

Wie teuer die Corona-Pandemie für die Krankenkassen wird, ist schwer abzuschätzen. In Kassenkreisen heißt es, dass die Ausgaben zunächst sogar rückläufig sein könnten, weil viele Menschen nicht notwendige Arztbesuche derzeit verschieben.

Dadurch werden auch weniger Medikamente und medizinische Hilfsmittel verschrieben, die von den Kassen bezahlt werden. Außerdem wurden viele planbare Operationen in den Krankenhäusern auf Eis gelegt, um freie Intensivkapazitäten für Corona-Patienten zu schaffen. Die Frage ist, wann sich die ärztliche Regelversorgung in Deutschland wieder normalisiert und in welchem Umfang es dann zu Nachholeffekten kommt.

Daneben haben die Krankenkassen auch Mehrkosten durch die Corona-Pandemie. So zahlen sie beispielsweise für die Tests, mit denen Verdachtsfälle auf das Virus geprüft werden. Ein Finanzexperte einer Kasse macht folgende Rechnung auf: Geschätzte 20 Millionen Corona-Tests in diesem Jahr würden rund 1,6 Milliarden Euro an zusätzlichen Ausgaben bedeuten.

Vor allem dürfte die Coronakrise aber auf der Einnahmeseite durchschlagen. Das Bundesamt für Soziale Sicherung erklärte zwar, dass es für eine belastbare Prognose noch zu wenig Daten gebe. Allerdings wurde für zehn Millionen Beschäftigte in Deutschland Kurzarbeit angemeldet, sie zahlen bis zu 40 Prozent weniger Beiträge. Zahlreiche Unternehmen machen von der Möglichkeit Gebrauch, die Sozialabgaben zu stunden. Wie viele dieser Firmen am Ende die Krise überleben und die Beiträge später nachzahlen, ist unklar.

Im laufenden Jahr werden die Krankenkassen die zugesagten Zuweisungen aus dem Fonds auf jeden Fall bekommen. Sollten die Mittel knapp werden, muss der Bund laut Rechtslage mit einem Darlehen Geld nachzuschießen. Die Kassen fordern, dieses Darlehen in einen nicht zurückzuzahlenden Sonderzuschuss an den Gesundheitsfonds umzuwandeln.

Im Gespräch ist, die eigentlich im Oktober stattfindende Runde des Schätzerkreises zu den Krankenkassenfinanzen vorzuziehen. Ein Finanzexperte aus der GKV befürchtet: Ohne zusätzliches Geld vom Bund könnte der Zusatzbeitrag 2021 auf bis zu 2,2 Prozent hochschnellen. Das wäre eine Verdopplung.

Die deutsche Krankenkassenlandschaft ist in unterschiedliche Lager aufgeteilt, die sich in Geldfragen immer wieder untereinander streiten. Vergangenes Jahr zofften sich die Allgemeinen Ortskrankenkassen (AOK), die Ersatzkassen mit TK, Barmer und DAK, die Betriebskrankenkassen und die Innungskrankenkassen um eine Reform des Finanzausgleichs in der GKV.

Am Donnerstag berieten Vertreter der Kassenverbände, um eine gemeinsame Linie vor dem Treffen mit Spahn festzulegen. Nach Angaben von Teilnehmern verlief die Diskussion ungewohnt einmütig.

An dem vom GKV-Spitzenverband ausgearbeiteten Positionspapier gab es keine nennenswerten Änderungen. Die zentrale Botschaft: Spahn und Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD) müssten dringend mit weiteren Zuschüssen aus dem Bundeshaushalt die Finanzlage der Kassen stabilisieren.