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In der Autobranche ist die Not groß: Coronakrise beschleunigt den Umbruch

Nie waren die Kürzungen und damit der Anpassungsbedarf so dringend wie jetzt in der Coronakrise. Doch sie dürften nur die Vorboten eines noch größeren Bebens sein.

Der Konzern überprüft in der Coronakrise sowohl die Ausrichtung als auch die Produktionskapazitäten. Die meisten Hersteller sehen sich jetzt zu lang ausstehenden Umbrüchen gezwungen. Foto: dpa
Der Konzern überprüft in der Coronakrise sowohl die Ausrichtung als auch die Produktionskapazitäten. Die meisten Hersteller sehen sich jetzt zu lang ausstehenden Umbrüchen gezwungen. Foto: dpa

Die Coronakrise trifft die Autobauer mit voller Wucht. Zwar wird in der Branche seit Jahren zu viel produziert, aber nie waren die Kürzungen und damit der Anpassungsbedarf so dringend wie jetzt in der Krise.

Die durchschnittliche Auslastung aller europäischen Pkw-Fabriken dürfte laut einer Analyse des CAR-Instituts dieses Jahr von 83 auf 63 Prozent einbrechen. Die „Überschusskapazitäten“ in der EU könnten demnach 2020 auf fast sieben Millionen Fahrzeuge steigen.

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Darauf reagieren die Hersteller: Daimler verkauft seine Kleinwagenfabrik in Hambach, hinterfragt die Pkw-Montage in Brasilien und stellt die Kapazitäten beim finnischen Auftragsfertiger Valmet teilweise auf den Prüfstand, heißt es im Konzern. „Im Rahmen der Transformation wird sich der Footprint eines jeden Autoherstellers verändern“, sagt Daimler-Chef Ola Källenius.

Anderswo sieht es nicht besser aus. Renault will ein Werk in Choisy-le-Roi südlich von Paris dichtmachen und der japanische Autobauer Mitsubishi zieht sich wohl komplett aus Europa zurück.

Diese Beispiele dürften nur die Vorboten eines noch größeren Bebens sein. „Ein Großteil der Unternehmen befindet sich unter einem enormen Anpassungs- und Innovationsdruck“, sagte Hildegard Müller, Präsidentin des Verbands der Automobilindustrie, dem Handelsblatt. „Wir haben in Europa absehbar fünf bis zehn Prozent zu viel Produktionskapazität im Markt“, sagt Albert Waas von Boston Consulting. Gerade bei den Zulieferern sei die Not groß, so Waas. „Hier werden wir noch eine Reihe von Werksschließungen oder Verlagerungen sehen.“

Als Beispiel kann der schwäbische Automobilzulieferer Mann+Hummel gelten. 400 Mitarbeiter arbeiten im Stammwerk in Ludwigsburg bei Stuttgart. Die Fabrik hat in den vergangenen 66 Jahren allem standgehalten: Ölpreisabsturz, Dieselskandal, Bankenkollaps. Irgendwie ging es immer weiter. Dann kam Corona.

Jetzt läuft die Produktion von Kraftstoff-, Öl- und Luftfiltersystemen an dem historischen Standort aus. „Die Entscheidung ist uns nicht leichtgefallen, denn das Werk besteht bereits seit 1954 in Ludwigsburg“, sagte Thomas Fischer, Aufsichtsratschef von Mann+Hummel. „Mit Blick auf die Zukunftsfähigkeit des Unternehmens war sie aber nötig.“ Die Belegschaft gedachte der Werksschließung jüngst mit einer Schweigeminute.

Ähnliche Protestrituale – manchmal still, manchmal laut – dürften in den kommenden Wochen und Monaten vor Dutzenden Fabriken in der Autobranche abgehalten werden. Denn der Corona-Schock torpediert die Wachstumspläne der Fahrzeugindustrie.

Allein in Europa hat die Pandemie bis dato zu einem Produktionsausfall von 2,4 Millionen Pkws geführt. Der Absatz brach im ersten Halbjahr um mehr als ein Drittel ein. Und es wird immer klarer, dass auf den tiefen Absturz keineswegs eine schnelle Erholung folgt.

Viel Taktieren, wenig Aktivität

Erst 2024 könnten die Autoverkäufe in den USA wieder das Vorkrisenniveau erreichen, schätzt Boston Consulting (BCG). In der EU sieht es kaum besser aus. Frühestens 2023, so die Prognose, ziehen hier die Geschäfte wieder an.

Die Folge: BCG-Autoexperte Waas rechnet mit „gravierenden Anpassungen“. Quer durch die Industrie werden schon jetzt Zehntausende Jobs gestrichen und Tätigkeiten ausgelagert.

Ganze Standorte stehen zur Disposition. Aber eine finale Entscheidung steht vielerorts noch aus. Die meisten Fahrzeughersteller wagen sich noch nicht aus der Deckung. „Sie taktieren und warten ab, bis mehr Klarheit herrscht, wie sich die Nachfrage wirklich entwickelt“, sagt Waas.

Immerhin: Die Branche sendet erste Signale der Hoffnung. Laut einer Umfrage des Ifo-Instituts legten die Geschäftserwartungen der Unternehmen im Juli erkennbar zu - auf 43,7 Punkte, nach 26,9 Punkten im Juni. Der Indikator für die laufenden Geschäfts ist aber nach wie vor deutlich im Minus. Und die Personalplanung verharrt unterhalb des Niveaus der Finanzkrise.

„Die Entwicklung des Personalbestandes bleibt besorgniserregend“, konstatiert Ifo-Experte Klaus Wohlrabe. Springt das Geschäft nicht bald merklich an, „werden wir im Laufe des Jahres weitere Einschnitte sehen“, fürchtet BCG-Berater Waas.

Rund 19 Millionen Fahrzeuge können in allen europäischen Pkw-Werken theoretisch pro Jahr produziert werden. In der Praxis liefen zuletzt aber nie mehr als 17 Millionen Einheiten vom Band. Zwischen Angebot und Nachfrage klafft eine immer größere Lücke.

Je größer die Differenz, desto höher die Kosten. Je nach Schätzung führen die Verwerfungen der Pandemie in diesem Jahr dazu, dass die durchschnittliche Auslastung in den europäischen Fahrzeugfabriken auf 71 bis 63 Prozent abstürzt. Um nachhaltig profitabel Autos produzieren zu können, gilt in der Branche aber eine Auslastung von 80 bis 85 Prozent als unabdingbar.

Stefan Bratzel vom Center Automotive Management (CAM) hält folglich fünf bis sechs große europäische Fabriken für obsolet. Allein in Deutschland dürfte die Pkw-Produktion in diesem Jahr um 27 Prozent einbrechen – von 4,6 auf 3,4 Millionen Einheiten.

Weil sich der Markt in den kommenden Jahren aber nur langsam erholen wird, erwarten Experten auch hierzulande spürbare Einschnitte. „Für Deutschland rechnen wir mit einem Arbeitsplatzabbau durch Kapazitätsanpassungen von 100.000 Stellen“, sagt Ferdinand Dudenhöffer, Leiter des CAR-Instituts.

Allein Daimler will mehr als 20.000 seiner weltweit 300.000 Stellen streichen. Der Industriekoloss hadert zunehmend mit seiner Werksstruktur. Neben der Smart-Fabrik in Hambach erwägt der Konzern, sich von einem zweiten Auslandswerk zu trennen, heißt es in Konzernkreisen.

Die Produktion im amerikanischen Tuscaloosa und im mexikanischen Aguascalientes wird auf SUVs fokussiert, die Limousinenmontage an beiden Standorten eingestellt. Die geplante Werkserweiterung im ungarischen Kecskemet liegt auf Eis. In Deutschland hält sich Daimler mit solchen Anpassungen dagegen noch zurück.

Kosten senken durch mehr Personal?

Dabei hat insbesondere das älteste noch produzierende Werk des Konzerns in Berlin intern einen schweren Stand. An dem seit 1902 bestehenden Standort läuft in den kommenden Jahren die Fertigung von V6-Dieselmotoren aus.

Wie die 2500 Beschäftigten danach weiter mit Arbeit ausgelastet werden sollen, ist unklar. Mancher Manager würde das Werk am liebsten verkaufen. Aber die mächtige Arbeitnehmerfraktion pocht auf eine Zukunftsperspektive für alle deutschen Standorte.

„Alles andere wäre fahrlässig“, sagte Michael Häberle, Daimler-Aufsichtsrat und Betriebsratschef im Stammwerk in Stuttgart-Untertürkheim, dem Handelsblatt. „Wir passen unsere ursprünglichen Wachstumsprämissen in der aktuellen Situation an. Das heißt aber nicht, dass wir schrumpfen werden.“

Häberle ist davon überzeugt, dass sich der Mercedes-Hersteller in dem „immer stärkeren Verdrängungswettbewerb“ in der Autoindustrie durch eine Fokussierung auf die Oberklasse behaupten wird. Und sobald der Absatz der Marke mit dem Stern wieder anzieht, brauche sein Konzern alle verfügbaren Kräfte.

Häberle vertritt die Interessen von 18.500 Mitarbeitern in Untertürkheim. Hier hat Daimler seine Unternehmenszentrale, und fast 11.000 Beschäftigte produzieren Motoren, Getriebe, Achsen und Gussteile. An kaum einem Standort wird der Hochlauf der Elektromobilität und die Verschlankung der Verwaltung zu größeren Veränderungen führen. Jetzt kommt auch noch Covid-19 hinzu.

Aber Häberle will nichts von Jobabbau wissen. Im Gegenteil. „Wir können sogar mit mehr Personal an Bord die Kosten drücken. Wie? Ganz einfach: Indem wir bestimmte Tätigkeiten, die wir für viel Geld ausgelagert haben, wieder selbst machen“, erklärt der einflussreiche Betriebsrat.

Mit Insourcing die heimischen Standorte sichern – das ist nicht nur bei Daimler ein Thema. Auch BMW überprüft seine Kapazitätsplanung. Der Konzern will etwa die Stückzahlen bei Auftragsfertigern wie Nedcar in den Niederlanden senken, heißt es in Konzernkreisen. Gerungen wird zudem um eine geplante Fabrik in Ungarn.

Im Mai erklärte der Autobauer, die Eröffnung des Werks um mindestens ein Jahr zu verschieben. Die Arbeitnehmer drängen allerdings darauf, dass die Fabrik mit einer Kapazität von 150.000 Autos pro Jahr erst dann in Betrieb geht, wenn die deutschen Standorte wieder ausgelastet sind.

Drastisch gestrichen wird derweil bei Audi. Die VW-Tochter hat bereits Ende 2019 angekündigt, die jährliche Kapazität in den Werken Ingolstadt und Neckarsulm um jeweils 100.000 Autos pro Jahr zu kürzen. In Deutschland fallen damit rund 9500 Stellen weg. Und auch im Stammwerk des Mutterkonzerns gehen die Sorgen um.

Zulieferer abhängig vom Europageschäft

In Wolfsburg steht die größte Autofabrik Europas. Theoretisch könnten dort in einem Jahr bis zu eine Million Fahrzeuge von den Bändern laufen. Doch von dieser Zahl hat der VW-Konzern mittlerweile Abstand genommen. Bei etwa 700.000 Autos lag die Jahresproduktion der vergangenen Jahre. 2020 wird die Lage – Corona-bedingt – noch problematischer: 500.000 Autos könnten am Ende herauskommen.

Der Betriebsrat ist alarmiert. Was, wenn die Auslastung des Wolfsburger Werks, indem der Golf und der kleine SUV Tiguan gefertigt werden, dauerhaft nicht mehr garantiert werden kann? Dann wackeln wohl viele der derzeit 20.000 Jobs.

Aus Sicht der Arbeitnehmer gibt es nur eine Lösung: „Wir brauchen ein zusätzliches Modell in Wolfsburg“, fordert Betriebsratschef Bernd Osterloh. Ob der Arbeiterführer die Zusage dafür bekommt, ist unklar.

Sicher ist dagegen: VW wird so schnell keine neuen Kapazitäten mehr aufbauen. Die Pläne für ein Werk im türkischen Izmir hat der Konzern vorerst beerdigt.

Dabei könnten die deutschen Autobauer noch vergleichsweise glimpflich durch die Krise kommen. Denn sie sind stark in China engagiert. Und hier ziehen die Verkäufe wieder an. Bereits 2021 dürfte der Absatz in Fernost wieder auf Vorkrisenniveau liegen, prophezeit BCG.

Das Problem ist nur: Im Gegensatz zu den Fahrzeugherstellern sind die deutschen Zulieferer viel stärker auf den europäischen Automarkt fokussiert, ihr Fußabdruck in China ist eher klein. Sie spüren den Nachfrageschock infolge der Pandemie daher viel stärker.

„Die Lage wird sich im Herbst leider bei vielen Zulieferern zuspitzen“, fürchtet Roman Zitzelsberger. Aus Sicht des Bezirksleiters der IG Metall Baden-Württemberg muss es jetzt darum gehen, die Absatzdelle so gut wie möglich zu überbrücken. „Die Rolle des Staats muss dabei groß sein“, sagt der Gewerkschafter.

Zitzelsberger fordert, das Kurzarbeitergeld von zwölf auf 24 Monate zu verlängern und alle erdenklichen Qualifizierungsmöglichkeiten zu nutzen. „Notfalls muss der Bund auch direkte Staatsbeteiligungen prüfen“, meint Zitzelsberger.

Auch VDA-Präsidentin Müller ist besorgt: „Die hohe Anspannung in der Beschäftigung wird durch die Kurzarbeit derzeit noch überdeckt.“ Die Folge: „Wir müssen mit einem weiteren Rückgang bei der Beschäftigung rechnen.“

CSU-Chef Markus Söder sprach sich jüngst dafür aus, am Instrument der Kurzarbeit festzuhalten. „Ich bin auf jeden Fall dafür, die Kurzarbeit – solange es notwendig ist – zu verlängern“, sagte er. Das könne Arbeitslosigkeit verhindern.

Erwogen werden sollte darüber hinaus ein „Stützprogramm für die industriellen Branchen, die vom Ausland stark betroffen sind“, sagte Söder. „Das sind nicht nur Automobilzulieferer. Das gilt für Luft-, Raumfahrt und besonders den Maschinenbau.“