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Japan erklärt Stempel und Faxgerät den Krieg

Corona sorgt dafür, dass Japans Wirtschaft und Verwaltung endlich die Arbeitsprozesse digitalisieren. Diesen Ruck könnte Deutschland auch gebrauchen.

Einmal in der Woche, so verlangt es eine interne Firmenvorschrift, muss die Angestellte Makiko Sato die Erstattung ihrer Spesen beantragen. Dafür trägt sie auf dem Laptop in ihrem Homeoffice, in dem sie wegen Covid-19 seit April arbeitet, die Daten in ein Formular ein, druckt das Papier aus und drückt ihren Namensstempel, Hanko genannt, auf das Blatt. Dann setzt sie ihre Maske auf und fährt mit der S-Bahn 40 Minuten in ihr eigentliches Büro bei einer Werbeagentur in Yokohama, damit ihr Chef, der Buchhalter und zwei andere Mitarbeiter den Erstattungsantrag mit ihren eigenen Stempeln versehen können. Eine solche Aneinanderreihung der roten, kreisförmigen Siegelabdrücke nennen die Japaner spöttisch „Lampionkette“, so verbreitet sind diese Stempelorgien auf Dokumenten.

Das erhöhte Infektionsrisiko für Millionen Japaner als Folge des weit verbreiteten Hanko-Gebrauchs hat Japans Regierung bereits im Frühjahr alarmiert, als die Pandemie sie dazu zwang, den nationalen Notstand zu verhängen. Viele private Unternehmen haben seitdem den Siegeleinsatz eingeschränkt und mehr digitale Dokumente eingeführt, um die Zahl der persönlichen Kontakte ihrer Mitarbeiter zu verringern. Honda zum Beispiel erlaubte die Verwendung von digitalisierten Unterschriften. Nun hat der neue Premierminister Yoshihide Suga der Hanko-Sitte auch in der öffentlichen Verwaltung den Krieg erklärt. „Alle Ministerien sollen ihre Prozeduren gründlich prüfen“, forderte Suga am Mittwoch das versammelte Kabinett auf. Sein Signal: Japan soll endlich ins 21. Jahrhundert springen.

Von den mehr als 10.000 Verwaltungsvorgängen mit Stempelpflicht ließen sich über 90 Prozent vereinfachen, schätzt Taro Kono, der auf seinem neu geschaffenen Ministerposten für administrative Reform der mächtigen Ministerialbürokratie die Stempellust austreiben soll. Binnen drei Monaten müssten alle Behörden auf ihre Hanko verzichten, forderte Kono. Auch die Faxgeräte sind ihm ein Dorn im Auge, weil damit viele Papiere zwecks weiterer Stempeleien hin- und geschickt werden. Die größte Wirtschaftslobby Keidanren leistete ihm Schützenhilfe. Ihr Präsident Hiroaki Nakanishi bezeichnete die Hanko-Kultur als „Unsinn“, sie sollte höchsten als Kunsthandwerk bewahrt werden.

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Es wäre eine Revolution, die Japan bitter nötig hätte. Im Ausland gilt das Inselreich als Hightech-Nation mit superpünktlichen Hochgeschwindigkeitszügen und hochleistungsfähiger Elektronik. Doch in vielen Alltagsbereichen dominieren analoge Arbeitsmethoden. In der Rangliste der Schweizer Wirtschaftshochschule IMD für digitale Wettbewerbsfähigkeit steht Japan nur auf Platz 27 unter 63 Nationen. „Japan hinkt der Welt mindestens 20 Jahre hinterher“, meint auch der Ökonom und Wirtschaftsbuchautor Yukio Noguchi.

Wer etwa ein Bankkonto eröffnen will, muss am Schalter zahlreiche Formulare ausfüllen und mit seinem Hanko signieren. Selbst für jede Ein- und Auszahlung wird der Stempel verlangt. Wegen der umständlichen Geldbürokratie dauerte es viele Wochen, bis die Behörden im Frühsommer die Corona-Soforthilfe von jeweils 100.000 Yen (800 Euro) auf die Girokonten aller Bürger überwiesen hatten. Der Mangel an Digitalisierung gehöre zu Japans sichtbarsten Verwundbarkeiten, die die Pandemie aufgezeigt habe, schrieb die japanische Denkfabrik Asia Pacific Initiative in einer knapp 500 Seiten dicken Analyse von dieser Woche.

Hanko wurden vor 1.000 Jahren zuerst von Fürsten und Militärherrschern benutzt und verbreiteten sich während der Edo-Zeit zwischen dem 17. und 19. Jahrhundert. Heutzutage verwenden Privatpersonen und Unternehmen verschiedene Sorten, die teilweise behördlich registriert werden müssen – für wichtige Verträge wie Immobilienerwerb und Heirat, für den Bankgebrauch und für das Abzeichnen von Lieferbelegen an der Haustür. Deswegen sind Hanko im japanischen Alltag tief verwurzelt. Allerdings sind die Namen- und Firmensiegel eher ein Symbol des Anachronismus als die eigentliche Ursache für das Festhalten am analogen Arbeitsstil.


Die Ironie der Stempeltradition

Als Hauptgrund dafür nennt Martin Schulz, deutscher Chefökonom des IT-Konzerns Fujitsu, die japanische Tradition, Entscheidungen per Umlaufakte zu treffen. Dabei werden Beschlussvorlagen für neue Projekte zwecks Diskussion asynchron in Umlauf gegeben und schließlich von allen Beteiligten per Hanko abgesegnet. Ein zweiter Grund: Der Anteil der Generalisten unter den Firmenangestellten in Japan ist mit 40 Prozent mehr als doppelt so hoch wie in Deutschland. Anders als Spezialisten könnten diese Mitarbeiter nicht so leicht unabhängig und digital arbeiten und bräuchten mehr Anleitung, meint Schulz.

Die Ironie der Stempeltradition besteht darin, dass die japanischen Gesetze den Gebrauch von Hanko mit wenigen Ausnahmen wie Testamenten gar nicht zwingend vorschreiben. „Es gibt das weitverbreitete Missverständnis, dass Verträge ohne Hanko ungültig sind“, bestätigt der Anwalt Mikio Tanaka von City-Yuwa Partners in Tokio. Allerdings würden Gerichte bei Streitigkeiten aus der Existenz eines Hanko-Abdrucks schließen, dass der Stempelbesitzer das Dokument gelesen und verstanden hat.

Zwar hat die Regierung elektronische Signaturen und Zertifizierungen bereits vor 20 Jahren gesetzlich zugelassen, sodass die Japaner ihre Verträge längst komplett online abschließen können. Das E-Dokument-Gesetz von 2005 erklärt die rein elektronische Speicherung der meisten Firmenunterlagen für ausreichend. Aber in der harmonieorientierten Kultur von Japan ließen sich bestehende Praktiken nicht schnell ändern, meint der Anwalt Tanaka. „Dafür müssten viele Firmen ihre internen Regelwerke und Entscheidungsprozesse ändern.“

Auch in Deutschland bremst der Hang zu alten Gewohnheiten die Digitalisierung. Wer im Homeoffice etwas unterschreiben muss, fährt oft ebenfalls extra in die Firma oder lässt sich das Papier per Post schicken. Dabei existiert mit der EU-weiten Richtlinie eIDAS-VO längst ein juristischer Rahmen für die „qualifizierte elektronische Signatur“ mit derselben Rechtskraft wie die persönliche Unterschrift. Damit lassen sich Girokonten eröffnen, Kredite und Versicherungen abschließen sowie Miet- und Arbeitsverträge unterzeichnen. Doch Privatpersonen, Unternehmen und die öffentliche Verwaltung meiden diese Möglichkeit. Die Erstellung dieser Signatur erfordert nämlich bisher eine Smartcard plus ein Kartenlesegerät mit Kosten von mindestens 200 Euro pro Person. Auch Fernsignaturen auf Basis einer Software-as-a-Service-Lösung sind teuer. Trotz der massenhaften Verbreitung des Homeoffices hat die Regierung in Berlin bisher keine Initiative ergriffen, die elektronische Signatur populärer zu machen. Deswegen heißt es auch in Deutschland in vielen Bereichen weiter: Papier statt PDF, Kugelschreiber statt Smartphone.

Erst im September bescheinigte der Nationale Normenkontrollrat (NKR), die Bundesregierung habe „jahrelang“ die Verwaltungsdigitalisierung „verschleppt“: Keine homeofficefähige Verwaltung, Chaos im föderalen Krisenmanagement, Fax-Fetischismus in den Gesundheitsbehörden, weiterhin kein „Digital-TÜV“ für den Gesetzgebungsprozess. Verblüfft bis fassungslos dokumentieren die Berater in dem Gutachten, das der Wirtschaftswoche in Auszügen vorliegt.

In Japan dürfte der Pandemieschock der Digitalisierung der Bürokratie zum Durchbruch verhelfen und die papierbasierten Entscheidungsprozesse verdrängen. Der deutsche Manager Karl Hahne, seit zwölf Jahren Japan-Chef des Möbelbeschläge-Herstellers Häfele in Tokio, sagt einen reibungslosen Verzicht auf die Hanko-Tradition vorher: „Wenn in Japan erst einmal etwas entschieden ist, dann geschieht alles sehr schnell und effektiv.“ Den Beweis lieferte soeben Justizministerin Yoko Kamikawa. Sie will Presseberichten zufolge sogar die Stempel-Lampionkette auf der Heirats- und Scheidungsurkunde abschaffen.

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