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„Doping für Diktaturen“: Auswärtiges Amt warnt vor Gefahren durch digitale Technologien

Die Behörde warnt vor dem Aufstieg von Hightech-Autokratien und der wachsenden Macht der IT-Industrie. Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sei bedroht.

„Das Auswärtige Amt packt mit der Verwaltungsdigitalisierung ein wichtiges Thema an.“ Foto: dpa
„Das Auswärtige Amt packt mit der Verwaltungsdigitalisierung ein wichtiges Thema an.“ Foto: dpa

Die Anfänge des Internets waren von einem unerschütterlichen Fortschrittsglaube geprägt. Das neue Medium sollte das Tor zu einer Utopie aufstoßen, dem herrschaftsfreien Cyberspace. Doch diese Aufbruchseuphorie ist Zukunftsangst gewichen.

Wo das Internet nicht von Großkonzernen dominiert wird, die unsere innersten Geheimnisse auskundschaften, ergreifen autoritäre Staaten die Kontrolle. Das Netz steht als Werkzeug der Manipulation in der Kritik. Demokratien geraten unter Druck, Diktaturen festigen ihre Macht.

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Die Bedeutung dieser globalen Kräfteverschiebung und ihrer Folgen für die deutsche Außenpolitik analysiert die Digitalstrategie des Auswärtigen Amts, die das Handelsblatt einsehen konnte. „Die digitale Transformation verändert sowohl den Gegenstand als auch den Instrumentenkasten der Außenpolitik“, stellt das Haus von SPD-Minister Heiko Maas fest. Mehr noch: Sie werde zur Bewährungsprobe für die repräsentative Demokratie und den Standort Deutschland.

Das Auswärtige Amt neigt nicht zu Alarmismus, die Wirkung seiner Warnungen ist darum umso größer: „Deutschland läuft Gefahr in der globalen digitalen Wertschöpfung abgehängt zu werden“, heißt es in dem internen Strategiepapier. Frei von den üblichen diplomatischen Floskeln zeigt das Dokument auf, dass die Bundesrepublik auf die kommenden wirtschaftlichen und politischen Umbrüche nicht vorbereitet ist.

Die Digitalstrategie soll wie ein Weckruf wirken. Wie ein Weckruf für die Gesellschaft, die das Potenzial der Digitalisierung nicht ausschöpft und Gefahr läuft, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verlieren.

Und wie ein Weckruf für die Regierung, die langsam erst realisiert, dass die außenpolitischen Grundannahmen ins Wanken geraten. „Die Wettbewerbsfähigkeit großer Industrienationen wie Deutschland wird durch lange Entscheidungsprozesse, veraltete IT-Strukturen, eine verbreitete Skepsis gegenüber Technologie und im internationalen Vergleich unzureichende Investitionen in Zukunftstechnologien beeinträchtigt“, heißt es darin.

Überwachungsstaat der Zukunft

Während die wirtschaftliche Basis und der außenpolitische Einfluss der Bundesrepublik zu erodieren drohten, wüssten autoritär regierte Staaten vom digitalen Wandel zu profitieren. „Autoritäre Regime nutzen die Daten ihrer Bürger, um diese zu kontrollieren und zu manipulieren“, schreibt das Außenministerium. Die Folge: „Der in der analogen Welt geltende Rechtskanon von Menschenrechten, Urheberrechten und Datenschutz steht im digitalen Raum unter Druck.“

Hinrich Thölken, Digitalbotschafter des Auswärtigen Amts und Hauptautor des Strategiepapiers, bezeichnet digitale Technologien als „Doping für Diktaturen“. Explizit erwähnt das Strategiepapier das Social-Credit-System, mit dem das chinesische Regime das Verhalten von Bürgern und Unternehmen benotet, die Gesellschaft auf die Normen des Einparteienstaats konditioniert – und so den Überwachungsstaat der Zukunft errichtet.

Die Datenspuren, die Chinesen im Netz hinterlassen, werden von Sicherheitsorganen ausgewertet. Technologien wie Big Data und KI assistieren bei der Perfektion der Kontrolle. Zu den erfolgreichsten Firmen Chinas zählen heute Unternehmen, die eng mit dem Sicherheitsapparat kooperieren: ob Huawei, Hikvision, Megvii, Cloudwalk oder Yitu.

Es bildeten sich neue, teils intransparente „zivile-militärische Strukturen“, analysiert das Auswärtige Amt. Und weiter: „Staaten nutzen die Marktmacht großer Tech-Unternehmen zur Verfolgung ihrer politischen und wirtschaftlichen Interessen, etwa im Bereich der digitalen Infrastruktur.“

Spannungen zwischen China und den USA zeigen das sehr deutlich. Chinas Staatschef Xi Jinping hat das Ziel ausgegeben, die Volksrepublik in eine „Cybersupermacht“ zu verwandeln. Das Regime exportiert Repressions-Know-how – und positioniert sich damit als Systemkonkurrent des Westens.

Amerika tritt China entschlossen entgegen

Cloudwalk stattet Simbabwe mit einem System zur Gesichtserkennung aus, Yitu liefert gesichtserkennende Körperkameras an Polizeikräfte in Malaysia: Wenn Chinas Sicherheitsfirmen neue Märkte erschließen, erweitern sie auch die Einflusssphäre der KP.

Den Amerikanern ist der Einsatz digitaler Technologie für strategische Zwecke alles andere als fremd, siehe NSA-Affäre. Auch deshalb treten sie dem chinesischen Machtstreben so energisch entgegen. Die US-Regierung hat Huawei, Hikvision, Yitu und Megvii auf schwarze Listen gesetzt, die Lieferung amerikanischer Chips und Software eingeschränkt. Das ist kein gewöhnlicher Handelskonflikt mehr, Experten sprechen von einem technologischen Kalten Krieg.

Der Beginn der neuen Systemrivalität fällt in eine Schwächephase der liberalen Gesellschaften. Die Digitalstrategen des Außenministeriums widmen sich auch ihr: „Interessengruppen, politische Bewegungen, Staaten oder einzelne Personen“ verfälschten Informationen, sodass die „gemeinsame Faktenlage brüchig“ werde.

Ein Prozess, der sich in Zukunft – Stichwort: Deepfakes – noch verstärken dürfte: „Sprache und Bild können mithilfe von neuen Technologien von jedermann manipuliert werden“, heißt es in dem Strategiepapier. Was bedeutet es für die Demokratie, wenn wahr und unwahr nicht mehr zu unterscheiden ist?

KI wird zur Schlüsseltechnologie – wirtschaftlich, politisch und militärisch. Lernfähige Maschinen versprechen einen Produktivitätsschub, autonome Waffensysteme Überlegenheit auf dem Schlachtfeld. Das Auswärtige Amt sagt den „Aufbau völlig neuer Fähigkeiten für das Militär und den Sicherheitssektor“ voraus.

Die menschheitsbedrohende Roboterrebellion, die Hollywood gern inszeniert, bleibt zwar weiter Science-Fiction. Doch schon heute ermöglichen Algorithmen, die Horden von Bots, die das Internet bevölkern, noch zielgerichteter zu steuern und öffentliche Debatten noch wirkungsvoller zu verzerren.

Twitter verbietet politische Werbung

Der Skandal um Cambridge Analytica im US-Wahlkampf 2016 hat eine Vorahnung auf die Angriffe gegeben, denen Demokratien künftig ausgesetzt sein werden. Das Auswärtige Amt warnt vor einer „Fragmentierung des öffentlichen Diskurses“, der Beeinflussung von Wahlen und der Vertiefung gesellschaftlicher Spaltungen. Es drohe ein „geschwächtes Vertrauen in demokratische Institutionen“ und letztlich die Destabilisierung ganzer Länder.

Die Weigerung der großen US-Onlinekonzerne, Verantwortung für die medialen Botschaften auf ihren Plattformen zu übernehmen, spielt dabei eine zentrale Rolle. Twitter hat zwar gerade erst verkündet, aus dem Geschäft mit politischer Werbung auszusteigen. Doch das reichweitenstärkste Onlinenetzwerk, Facebook, ist dazu nicht bereit.

Die Verbreitung von Desinformationen ist ein lukratives Geschäft. Wie wenig die Unternehmen die politischen Folgen ihrer Innovationen einkalkulieren, zeigt der Fall Libra. Facebook will eine Digitalwährung schaffen, die Überweisungen über alle Grenzen hinweg ermöglicht, schnell und kostenlos.

Weil Facebook 2,5 Milliarden „digitale Einwohner“ hat, hätte Libra das Potenzial, normale Währungen zu verdrängen und das Weltfinanzsystem auf den Kopf zu stellen. Das meint das Auswärtige Amt, wenn es von der „globalen Gestaltungsmacht“ der Tech-Industrie schreibt und fordert: „Wir müssen uns mit diesen aufstrebenden nicht-staatlichen Akteuren außenpolitisch auseinandersetzen.“

Europa hat der Macht der Datenriesen nur das Gewicht des europäischen Binnenmarkts entgegenzusetzen. Mit der Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) habe die EU zwar ein Regelwerk durchsetzen können, das die globale Tech-Industrie zu Anpassungen im Sinne europäischer Werte zwinge, urteilt das Auswärtige Amt.

Aber: „Es ist nicht gelungen, auf diesen Werten basierende Produkte anzubieten.“ Die Machtdemonstration, die die DSGVO bedeutet hat, könnte sich deshalb als Momentausnahme erweisen. Die abnehmende ökonomische Bedeutung Europas bedeute, dass auch Regulierungsmacht schwinde, mahnt das Papier.

USA hinken technologisch hinterher

Das Auswärtige Amt knüpft mit seiner Digitalstrategie an eine Debatte um die außenpolitische Dimension von Technologie an, die US-Experten schon länger beschäftigt. Julie Smith, Leiterin der Asienabteilung des German Marshall Fund, erläutert: „Washington treibt die Sorge um, dass die USA ihren technologischen Vorsprung an China verlieren, das enorme Summen in disruptive Technologien investiert.“

Die Beunruhigung ist in den USA auch deshalb so groß, weil der Aufstieg des digitalen Autoritarismus an der Grundüberzeugung der westlichen Außenpolitik seit Ende des Kalten Kriegs rüttelt: der Überlegenheit des demokratischen Systems.

Die Diktaturen des 20. Jahrhunderts erwiesen sich als instabil und ineffizient, da sie versuchten, Wirtschaft und Gesellschaft zentral zu steuern, was mit der damaligen Technologie schlicht nicht möglich war. Mit Big Data und KI wendet sich das Blatt: Algorithmen brauchen Daten, je mehr sie bekommen, desto klüger werden sie.

Während liberale Demokratien digitale Rohstoffe mit Datenschutzregeln verknappen, steht in Diktaturen der totalen Erfassung nichts im Weg. „Das Haupthindernis autoritärer Regime im 20. Jahrhundert – der Drang, alle Informationen und Kräfte an einem Ort zu bündeln – kann im 21. Jahrhundert zu ihrem entscheidenden Vorteil werden“, argumentiert der israelische Historiker Yuval Harari.

Ein White Paper des Pentagon, über das das Handelsblatt zu Jahresbeginn berichtet hatte, prophezeit sogar, dass der „Kampf zwischen digitaler liberaler Demokratie und digitalem Autoritarismus“ das 21. Jahrhundert definieren könnte, so wie der Wettbewerb zwischen liberaldemokratischen, faschistischen und kommunistischen Gesellschaften das 20. Jahrhundert geprägt habe.

Das Auswärtige Amt diagnostiziert: „Technologien basierend auf Big Data, Smart Data, KI und Quantentechnologie werden zu einer Machtverschiebung führen.“

Einsatz für Freiheit im Internet

Neben solchen Prognosen formuliert die Digitalstrategie auch neue außenpolitische Ziele. Die „Stärkung der Resilienz gegen Radikalisierung und Polarisierung“ etwa, der Kampf gegen den „Missbrauch digitaler Technologien zur politischen Kontrolle und Untergrabung von Demokratie“ und der Einsatz für „Freiheit im Internet“.

Im technologischen Kalten Krieg zwischen China und den USA schwebt dem Auswärtigen Amt eine digitale Neuauflage der Entspannungspolitik vor, um die „Spaltung der Welt in konkurrierende Technologiesphären zu mindern“.

Zugleich sieht die Digitalstrategie die „Stärkung von Europa und Deutschland als digitalen Wirtschaftsstandort“ vor, zu der das Außenministerium selbst beitragen will: Die Auslandsvertretungen sollen „Ansprechpartner und Türöffner für Start-ups und digitale Plattformen“ werden, wie das Strategiepapier betont.

Angesichts der enormen Herausforderungen müsse „ein digitaler Ruck durch Deutschland“ gehen, fordert Digitalbotschafter Thölken. Ein Erfolg wäre es allerdings schon, wenn zumindest durch das Auswärtige Amt ein Ruck gehen würde. Disruption entspricht nicht dem Naturell der Diplomaten.

Es wird nicht leicht, sie zu Agenten des Wandels umzuerziehen. Doch genau das nimmt sich die Digitalstrategie vor: „Zur Steigerung der Prognose- und Analysefähigkeit“ sollen Diplomaten verstärkt KI-Anwendungen nutzen. Zudem soll die interne Kommunikation modernisiert, Verwaltungsabläufe verbessert werden.

Selbst der „Gefahr für Verschlüsselung durch Quantencomputer“ widmet sich das Papier. Lob kommt aus dem Kanzleramt: „Ich freue mich sehr, dass sich das Auswärtige Amt so umfassend mit der digitalen Transformation auseinandersetzt und dabei zum Beispiel mit der Verwaltungsdigitalisierung ein wichtiges Thema anpackt“, sagt Digitalstaatsministerin Dorothee Bär.

Der Vorstoß des Auswärtigen Amts sei auch deshalb so bemerkenswert, weil das Ministerium einen weltweiten Apparat koordiniere.