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Verwaltungsrichterbund zu Corona-Maßnahmen: „Es wird mehr und schneller geklagt“

Der Vorsitzende des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter, Robert Seegmüller, spricht im Interview über die wachsende Zahl an Verfahren gegen Corona-Maßnahmen.

Viele der derzeitigen Maßnahmen zur Reduzierung von Infektionen mit dem Covid-19-Virus greifen tief in Grundrechte ein. Foto: dpa
Viele der derzeitigen Maßnahmen zur Reduzierung von Infektionen mit dem Covid-19-Virus greifen tief in Grundrechte ein. Foto: dpa

Mit dem vierwöchigen Teil-Lockdown, den Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder beschlossen haben, sollen die zuletzt stark gestiegenen Corona-Zahlen wieder unter Kontrolle gebracht werden. Die Maßnahmen für den November: Hotels und Restaurants, Kinos, Museen und Theater sowie andere Freizeiteinrichtungen weitestgehend geschlossen. Veranstaltungen, Versammlungen und öffentliche Festivitäten sind verboten. Es gelten striktere Kontaktbeschränkungen.

Dagegen wenden sich nun Klagen und Eilverfahren. Über die Klagewelle sprach das Handelsblatt mit dem Vorsitzenden des Bundes Deutscher Verwaltungsrichter und Verwaltungsrichterinnen (BDVR), Robert Seegmüller. Er ist Richter am Bundesverwaltungsgericht und Vizepräsident des Verfassungsgerichtshofes des Landes Berlin.

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Lesen Sie hier das komplette Interview:

Herr Seegmüller, mit dem Teil-Lockdown wurden starke Grundrechtseingriffe beschlossen. Ist mit einer Klagewelle zu rechnen?

Wie viele Klagen es geben wird, ist noch nicht vollständig absehbar. Allerdings deuten die ersten Zahlen darauf hin, dass dieses Mal schneller geklagt wird und mehr Klagen erhoben werden als im März und April, als vergleichbare Maßnahmen angeordnet wurden.

Allein beim Berliner Verwaltungsgericht sind schon nach einem Tag 39 Eilverfahren eingegangen. Mittlerweile sind es rund 60. Ist das ein Trend, der sich auch in den anderen Ländern zeigt?
So nehme ich das wahr. Aus Hessen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern sind ähnliche Zahlen zu hören. Wenn wir das ins Verhältnis setzen zu den Zahlen, die die Verwaltungsgerichte jährlich sowieso bewältigen, ist das aber nichts, was wir nicht schultern können.

Was bedeutet das konkret?
An den 51 deutschen Verwaltungsgerichten mit ungefähr 2000 Richtern in der ersten Instanz gehen derzeit pro Jahr etwa 100.000 Asylverfahren ein sowie weitere 100.000 Verfahren aus den anderen den Verwaltungsgerichten zugewiesenen Rechtsgebieten. Die Zahl der Richterinnen und Richter in der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist darauf ausgelegt, diese Menge von Verfahren auch zu bearbeiten. Selbst wenn nun also ein paar Tausend Verfahren zu den Covid-19-Eindämmungsmaßnahmen dazukämen, ist das keine Zahl, die nicht zu bewältigen ist.

FDP-Politiker rufen zum Klagen auf. Was halten Sie in der sich verschärfenden Coronakrise davon?

Es gab auch Politiker, die gesagt haben, es wäre unverantwortlich, nun zu klagen. Ich möchte keine dieser Aussagen bewerten. Die Verfassung gewährleistet jedem Bürger in Deutschland das Recht, sich gegen jeden Hoheitsakt zu wehren. Wer das Recht ausüben möchte, der soll es ausüben. Die Verwaltungsgerichte werden solche Klagen mit derselben Unvoreingenommenheit, derselben Gründlichkeit und derselben Geschwindigkeit bearbeiten wie jede andere Klage auch.

Sie können natürlich keine Urteile vorwegnehmen, aber einen ersten Eindruck geben: Hat die Kanzlerin die Maßnahmen ausreichend begründet?
Es ist gar nicht Aufgabe der Bundeskanzlerin, die einzelnen Maßnahmen gerichtsfest zu begründen. Das ist Aufgabe der Bundesländer. Sie setzen das in der Ministerpräsidentenkonferenz verabredete Konzept durch den Erlass von Verordnungen und Allgemeinverfügungen um. Ob Klagen gegen diese Rechtsakte Erfolg haben werden oder nicht, lässt sich zum jetzigen Zeitpunkt nicht verlässlich absehen.

Was könnte schieflaufen?
Den Landesgesundheitsverwaltungen können handwerkliche Fehler unterlaufen. Beispiel Niedersachsen: Hier ist das erste Beherbergungsverbot im Oktober unter anderem mangels hinreichender Bestimmtheit beanstandet worden. Die Behörden müssen die im Streit stehende Einschränkung aber nicht nur handwerklich ordentlich umsetzen, sondern auch der Sache nach rechtfertigen. Das betrifft insbesondere die Gefährlichkeit des jeweils verbotenen Verhaltens. Da gibt es bessere und schlechtere Vorträge der Prozessparteien vor Gericht.

Zum Beispiel?
In Berlin hat die Sperrstunde vor dem Verwaltungsgericht nicht gehalten, vor dem Oberverwaltungsgericht Münster eine sehr ähnliche Regelung schon. Das kann auch daran liegen, dass in einem Fall schlechter und im anderen Fall besser vorgetragen wurde. Manches ist aber vielleicht auch nicht zu rechtfertigen, weil es schlicht nicht gefährlich ist.

Was ist mit der Verhältnismäßigkeit der Maßnahmen?
Das Infektionsschutzgesetz sagt: Es dürfen nur die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden. Das bedeutet nach der Rechtsprechung der Oberverwaltungsgerichte, dass der Staat nur solche Maßnahmen verbindlich anordnen darf, die zur Erreichung infektionsschutzrechtlich legitimer Ziele objektiv notwendig sind. Dass eine Maßnahme von Einzelnen als nützlich angesehen wird, reicht dagegen noch nicht aus. Dieser Maßstab führt dann letztlich zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit der jeweils im Streit befindlichen Einschränkung. Hier gilt: Die Maßnahmen müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein.

Wie gehen denn die Verwaltungen vor?
Bei der Einschätzung der Infektionsrisiken und der Eignung alternativer Maßnahmen zur Abwehr dieser Infektionsrisiken haben die Behörden einen gerichtlich nur eingeschränkt kontrollierbaren Einschätzungsspielraum. Dieser Einschätzungsspielraum ist aber nicht uferlos. Ein generelles Verbot, die Wohnung zu verlassen und sich im Freien aufzuhalten, wäre danach auch unter Berücksichtigung eines weiten behördlichen Einschätzungsspielraums möglicherweise nur schwer zu rechtfertigen. Denn dem bloßen Aufenthalt im Freien dürfte für sich genommen kein unmittelbares Infektionsrisiko anhaften. Letztlich kommt es aber auch insoweit entscheidend auf die behördliche Begründung an.

Für die Betroffenen kann es schwierig sein zu verstehen, warum Gastronomiebetriebe schließen müssen, Friseursalons aber offen bleiben dürfen. Auf den ersten Blick scheint der Gleichheitssatz gar keine Rolle zu spielen.
Die Verwaltungsgerichte nehmen nicht nur die Notwendigkeit der jeweiligen Maßnahme selbst in den Blick. Sie prüfen auch, ob die Regelung gegen den Gleichheitssatz verstößt. Das bedeutet: Wird ein vergleichbarer Sachverhalt anders geregelt, braucht der Gesetzgeber dafür einen hinreichend gewichtigen sachlichen Grund. Zudem darf der Gesetzgeber völlig unterschiedliche Sachverhalte nicht willkürlich gleich behandeln.

Das überprüfen dann die Gerichte?
Ja. Insoweit ist aber zu beachten, dass die Auswahl der zu regelnden Sachverhalte und der Differenzierungskriterien zunächst einmal eine politische Entscheidung ist. Der Gesetzgeber hat hier einen weiten Handlungsspielraum. Die Gerichte kontrollieren nur, ob der Gesetzgeber dessen Grenzen überschritten hat. Die Entscheidung, Kindergärten, Schulen und Arbeitsstellen grundsätzlich offen zu lassen und sich auf den Freizeitbereich zu konzentrieren, ist also erst einmal eine politische Entscheidung. Das gilt auch für die Entscheidung, Kosmetikstudios zu schließen, Friseursalons aber offen zu lassen. Wird diese Entscheidung vor Gericht angegriffen, wird es auch darum gehen, ob es einen hinreichenden sachlichen Grund für diese Differenzierung gibt. Wie solche Rechtsstreitigkeiten ausgehen würden, will ich hier aber keinesfalls prognostizieren.

Restaurants und Kneipen sind geschlossen, Urlaubsreisen nicht mehr möglich, das kulturelle Leben stoppt, private Kontakte müssen auf ein Minimum beschränkt werden – wiegen die beschlossenen Maßnahmen vor Gericht unterschiedlich schwer?
Klagen werden normalerweise schlicht nach Eingangsdatum abgearbeitet. Anders ist es, wenn es um Eilverfahren geht. Die sollen sicherstellen, dass während des Laufs des Hauptsacheverfahrens keine irreparablen Nachteile für den Kläger entstehen. Die Eilverfahren werden darum so schnell wie möglich behandelt. Und wir schauen da auf das Eilbedürfnis – immer mit Blick darauf, ob die „Erledigung“ droht. Würde es beispielsweise um einen Urlaub gehen, den jemand nehmen möchte und daran gehindert wird, müsste die Sache entschieden sein, bevor der Urlaub beginnt.

Droht in Deutschland ein regionaler Flickenteppich? Angesichts des unterschiedlichen Infektionsgeschehens könnten die Gerichte in Mecklenburg-Vorpommern doch ganz anders entscheiden als etwa in Bayern?
Die unterschiedlichen Infektionsschutzregelungen sind vom Grundgesetz angelegt. Das Grundgesetz überträgt den Ländern die Aufgabe, die Bundesgesetze eigenverantwortlich auszuführen. Das gilt auch für das Infektionsschutzgesetz. Hinzu kommt der bereits erwähnte allgemeine Gleichheitssatz. Er gebietet wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Wenn in einem Bundesland die Infektionszahlen ganz niedrig sind und in einem anderen ganz hoch, dann wird es sich kaum rechtfertigen lassen, Maßnahmen mit gleicher Einschränkungsintensität in beiden Ländern durchzuführen. Werden dennoch gleiche Regelungen erlassen, greifen die Verwaltungsgerichte möglicherweise korrigierend ein und erzwingen eine dem Gleichheitssatz genügende Differenzierung.

Also ist davon auszugehen, dass der Teil-Lockdown in einigen Ecken der Republik gar nicht die vier Wochen hält?
Über den Ausgang zukünftiger Gerichtsverfahren möchte ich nicht spekulieren. Aber immer dann, wenn Maßnahmen des Staates gerichtlich angegriffen werden, ist natürlich auch eine Beanstandung durch die Gerichte denkbar. Wenn man sich die Entscheidungen der Verwaltungsgerichte in den vergangenen Wochen und Monaten anschaut – Stichwort Beherbergungsverbote, Alkoholverbote, Sperrstunden, körpernahe Dienstleistungen –, dann ist klar: Nicht jede Maßnahme hält vor Gericht.

Grundlage für die aktuellen Maßnahmen ist das Infektionsschutzgesetz. Nun werden die Forderungen laut, dass der Deutsche Bundestag differenzierte Gesetze schaffen soll. Macht es für die richterliche Entscheidung einen Unterschied, ob es um Verordnungen geht oder um Gesetze?
Das Grundgesetz verlangt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass das Parlament wesentliche, für die Grundrechtsverwirklichung maßgebliche Regelungen selbst zu treffen hat. Solche Regelungen darf er nicht anderen Normgebern oder der Exekutive überlassen. Danach muss der parlamentarische Gesetzgeber umso mehr regeln, je intensiver in Grundrechte eingegriffen werden soll. Ob eine gesetzliche Regelung diesen Vorgaben noch genügt, ist letztlich immer eine Frage des Einzelfalls. Ein vorsichtiger parlamentarischer Gesetzgeber könnte daher bei gravierenden Grundrechtseingriffen im Zweifel etwas mehr als etwas weniger regeln.

Was folgt daraus für die aktuelle Situation?
Viele der derzeitigen Maßnahmen zur Reduzierung von Infektionen mit dem Covid-19-Virus greifen tief in Grundrechte ein. Es gibt sowohl in der Rechtswissenschaft als auch bei den Verwaltungsgerichten Stimmen, die deswegen in Zweifel ziehen, ob die derzeitigen Regelungen des Infektionsschutzgesetzes ausreichen. Das betrifft etwa Geschäftsschließungen, Eingriffe in die Versammlungs- und Religionsfreiheit sowie Eingriffe, die enge zwischenmenschliche Kontakte begrenzen. Es ist für die Rechtsbeständigkeit der getroffenen Infektionsschutzmaßnahmen daher sicherlich nicht schädlich, wenn der Bundesgesetzgeber, wie nun angekündigt, das Infektionsschutzgesetz nun ergänzt.
Herr Seegmüller, vielen Dank für das Interview.