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Der Spion in meiner App

Porsche, Daimler und Škoda kaufen sich beim Start-up Anagog ein. Dessen Software sagt menschliches Verhalten erschreckend genau vorher – und könnte die Mobilität komplett verändern.

Nur das leise Surren der Klimaanlage ist zu hören. Etwa ein Dutzend Männer sitzt vor Monitoren; keiner spricht, niemand telefoniert. Ab und zu steht einer auf, holt sich wortlos einen Kaffee und versinkt dann wieder in seiner Tätigkeit. Das Büro im zweiten Stock eines tristen Waschbetonplattenbaus in Tel Avivs Geschäftsviertel Sorona ist kühl und schmucklos. Nichts stört die Konzentration der Programmierer. Ein paar Schreibtische, ein abgedunkelter Besprechungsraum, eine winzige Küche mit Espressomaschine und Mikrowelle – das ist die Welt von Anagog.

Es sind die Erkenntnisse aus diesem kalten Kosmos, um den sich derzeit gleich drei deutsche Autokonzerne bemühen. Daimler und Porsche sind, unabhängig voneinander, vor wenigen Wochen bei Anagog eingestiegen; Mitte Juli kaufte sich auch die VW-Tochter Škoda ein. Sie alle interessieren sich für eine Technologie, die das Zeug dazu hat, Mobilität neu zu organisieren.

Dabei kennt das 2010 von drei Exmilitärs gegründete Anagog, 25 Mitarbeiter und circa 1000 Kunden, außerhalb von Tel Avivs Start-up-Szene noch kaum jemand. Anagog dagegen weiß über viele Menschen sehr viel: Es kann mit seiner Technologie Smartphonebesitzer in bisher ungekannter Tiefe durchleuchten.

CEO und Co-Gründer Ofer Tziperman streckt den gut trainierten linken Arm zum Gruß aus; die rechte ist gerade in Gips. „Ein kleiner Sportunfall, nichts Ernstes“, sagt der ehemalige Offizier der israelischen Armee und kommt gleich zur Sache. „Ein handelsübliches Smartphone hat 12 bis 15 Sensoren, die rund um die Uhr Daten erfassen.“ Im Smartphone arbeitet zum Beispiel ein Barometer, das anzeigt, auf welcher Höhe es sich befindet. Und ein Accelerometer, das registriert, wenn wir uns in Bewegung setzen, ein Magnetometer für die Himmelsrichtung. Die Daten fusioniert Anagog und wertet sie mit lernfähigen Algorithmen aus.

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So kombiniert die Software etwa das Bewegungstempo mit Daten über kleinste Erschütterungen. Daraus lässt sich ableiten, ob der Smartphonebesitzer gerade schläft, geht (langsames Tempo, mittelschwere Erschütterungen) oder Auto fährt (regelmäßige, leichtere Erschütterungen, schnelleres Tempo). „Aus diesem Mobilitätsstatus und den GPS-, WLAN-Daten oder der Meereshöhe können wir dann zum Beispiel sehen, dass jemand im 30. Stockwerk eines bestimmten Hauses ist und dort zum Zahnarzt oder ins Fitnessstudio geht“, sagt Tziperman, „oder man erkennt, ob er zu Hause, im Büro oder auf dem Arbeitsweg ist.“

Das klingt beeindruckend – und beängstigend. Die erste kommerzielle Anwendung Anagogs war eine auf den ersten Blick harmlose App, die bei der Parkplatzsuche hilft. Doch dahinter steckt künstliche Intelligenz (KI) der neuesten Generation. „Ziel ist, aus den Erkenntnissen über Ort und Tätigkeit des Users abzuleiten, was er mit welcher Wahrscheinlichkeit als Nächstes tun wird“, sagt Tziperman. „Wenn wir etwa wissen, dass jemand sein Auto vor einem Kino abgestellt hat, dass er dort zwei Stunden sitzt, dann aufsteht und der Kompass anzeigt, dass er Richtung Auto geht, markiert die KI-Software den Parkplatz als ‚demnächst frei‘; Kunden der Parkplatz-App in der Nähe bekommen das angezeigt.“

Inzwischen hält Anagog 20 Patente auf selbstlernende Algorithmen, weitere 15 sind beantragt. Anagog verkauft sein KI-Tool an Firmenkunden – meist Entwickler von Apps, die Geodaten benötigen. Darunter sind zum Beispiel Navigationssysteme wie Pango, Empfehlungs-Apps für Hotels und Restaurants wie Yelp oder Autovermieter, Carsharing- und Taxidienste. Der israelische Taxivermittler Gett etwa nutzt die KI, um Fahrtwünsche mit frei werdenden Autos abzustimmen. „Unsere KI kann Taxifahrern sagen, wo sie hinfahren sollten, weil dort bald viele Menschen auf einen Taxistand zulaufen werden – vielleicht, weil eine Theatervorführung zu Ende ist oder am Flughafen ein Bus ausgefallen ist“, sagt Tziperman.


Wie gemacht für die Autokonzerne

All das klingt eher nach einer Unterabteilung des Geheimdienstes Mossad als nach dem Werk harmloser App-Programmierer. Tziperman wehrt ab: „Die KI-Software arbeitet nur auf Ihrem Handy, es gibt keine permanente Verbindung zu einem Rechenzentrum oder in die Cloud – weder bei uns noch beim Kunden.“ Wenn, so Tziperman, die von der Anagog-KI gewonnenen Erkenntnisse das Handy verlassen, dann anonymisiert und aggregiert – stets würden die Daten mehrerer Smartphones zu einem Datensignal zusammengefasst. Anagog sei daher „voll kompatibel mit der neuen, strengen EU-Datenschutz-Grundverordnung“.

Anagog-Kunden können jedoch ihre User bitten, personenbezogene Daten freizugeben; im Gegenzug bekommen diese bessere Leistungen. „Das ist Sache unserer Kunden, aber für besonders ausgeklügelte, personalisierte Dienste kann das nötig werden“, sagt der Anagog-Chef.

Während es dem Taxi- oder Uber-Fahrer egal sein kann, wer da gerade aus dem Theater oder Kino kommt, interessieren sich Versicherungen schon eher für die personalisierte Variante. Mithilfe der Sensoren im Handy kann die Anagog-KI zum Beispiel Unfälle erkennen und Rettungsdienste benachrichtigen: wenn das Handy in der Fahrt abrupt stoppt und danach über einen bestimmten Zeitraum nicht weiterfährt. Einige Versicherungen nutzten die Anagog-KI schon, so Tziperman. „Sie wollen ihre Kunden verfolgen, aus den Daten zu deren Fahrverhalten vielleicht ein Punktesystem aufbauen.“ So könnten sie defensiv fahrenden Kunden günstigere Tarife anbieten.

Auch die Autokonzerne interessieren sich brennend für die Geodaten-KI der Israelis. Langfristig erhoffen sie sich Hilfe bei der Kundenbindung: Künftige Daimler- und Porsche-Kunden werden vielleicht seltener ein Auto zum Gegenwert einer kleinen Eigentumswohnung kaufen, sonder lieber im Bedarfsfall schnell und unkompliziert leihen.

Die Autohersteller suchen daher nach Mobilitätsdiensten, mit denen sie ihre Kunden stärker an sich binden können. Dazu hilft es, zu wissen, wo sich die Kundschaft gerade aufhält – und was sie wahrscheinlich vorhat. „Wir gehen davon aus, dass das Smartphone künftig der wichtigste Generator von User-Mobilitätsdaten ist“, begründet Sabine Scheunert, die als Vice President Digital & IT bei Daimler für das Geschäft mit neuen Mobilitätsdiensten zuständig ist, den Einstieg bei Anagog. Anders als das Auto, das bei den meisten Kunden 23 Stunden am Tag stehe, haben die Leute ihr Smartphone immer dabei. „Wir haben über zwei Jahre jemanden gesucht, der die Mobilitätsdaten des Smartphones sinnvoll auswerten kann“, so Scheunert. Zunächst setzt sie die KI der Israelis für die App EQ-Ready ein: Damit können Daimler-Kunden testen, ob sie in ihrem Alltag schon mit einem Elektroauto klarkämen.

Die Anagog-KI erkennt aus Bewegungsdaten der Daimler-Kunden Muster – zum Beispiel, wie lange die Strecken sind, die der Fahrer zurücklegt, ob er lange genug zu Hause oder am Arbeitsplatz parkt, um dort vollzuladen – und gleicht sie mit den Reichweiten der Daimler-E-Autos und der Ladeinfrastruktur ab. Auch darüber, wo die aktuelle Ladeinfrastruktur noch Lücken aufweist und wohin man am besten eine neue Säule baut, erhoffe man sich dank Anagog neue Erkenntnisse, so Scheunert. Datenschutzbedenken sieht sie nicht: „Personalisierte Dienste bieten wir nur an, wenn der User explizit zustimmt“, sagt die Daimler-Managerin. „Unsere Kunden können genau einsehen, welche personenbezogenen Geodaten wir erfassen, und das Einverständnis jederzeit widerrufen.“

Die Autobauer dürften nicht die einzigen deutschen Geschäftspartner bleiben. Als Anagog-Gründer Tziperman sich verabschiedet, eilt er rasch ins Erdgeschoss des Bürobaus: Dort wartet schon der nächste Besuch aus Deutschland. Der Manager einer Bank will Details zur nächsten Finanzierungsrunde diskutieren.