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Wie Spanien gegen die Armut kämpft

Um den Krisenopfern zu helfen, hat Madrid im Eiltempo eine nationale Sozialhilfe beschlossen. Für den Sozialminister ist sie eine der modernsten in Europa.

Eine junge Frau hält vor dem Sitz der Stadtverwaltung von Madrid ein Schild mit der Aufschrift „Die Menschen haben Hunger
Eine junge Frau hält vor dem Sitz der Stadtverwaltung von Madrid ein Schild mit der Aufschrift „Die Menschen haben Hunger

Dicht an dicht drücken sich die Menschen in den spärlichen Schatten einer Wand. Jeden Mittag um kurz vor 12 Uhr bildet sie sich diese Schlange vor der Hilfsorganisation „Hijas de la Caridad de San Vicente de Paúl“ in Madrid. 300 Meter ist sie lang. Seit das Coronavirus Spanien heimsucht, kommen täglich 600 Menschen hierher, um sich eine Tüte mit Lebensmitteln zu holen – vor der Krise waren es 200, berichtet eine Sozialarbeiterin.

„Es ist sehr schwer“, sagt Miguel. Seinen richtigen Namen will der 30-jährige Spanier nicht nennen. Seit März ist er in Kurzarbeit, das Geld reicht nicht mehr zum Leben. Deshalb reiht er sich in eine der „colas del hambre“ ein, der Hungerschlangen, wie die Spanier sie nennen.

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Die Corona-Pandemie verschärft die Kluft zwischen Arm und Reich. Während die Mittelschicht mit Ersparnissen einen Jobverlust oder ein Kurzarbeitsgehalt überbrücken kann, rutschen die finanziell Schwachen schnell in die Armut ab. In Spanien gab es schon vor der Krise besonders viele prekäre Jobs, und das Armutsrisiko ist größer als in anderen europäischen Ländern.

Der spanische Notenbankchef Pablo Hernández de Cos zeichnet ein düsteres Bild: „Wir beginnen diese Krise mit mehr Ungleichheit als zu Beginn der vergangenen“, sagte er Anfang Juli. „Und es ist sehr wahrscheinlich, dass die Krise sie noch weiter steigert, weil sie stärker die Gruppen betrifft, die ohnehin relativ geringe Einkommen haben.“ Gemeint sind vor allem diejenigen, die im Tourismus oder in Gaststätten arbeiten. Diese Branchen leiden besonders unter der Krise.

Die spanische Regierung hat deshalb Ende Mai im Eiltempo ein Gesetz verabschiedet, das sowohl den Krisenopfern helfen soll als auch denen, die schon seit Jahren am Existenzminimum leben: ein nationales Mindestlebenseinkommen.

Für das Land ist das ein historischer Schritt, denn damit gibt es künftig erstmals eine landesweit einheitliche Sozialhilfe. Bisher waren die 17 autonomen Regionen – vergleichbar mit den deutschen Bundesländern – für die soziale Absicherung zuständig. „In einer Handvoll Regionen hat das funktioniert, in den restlichen war die Höhe der Hilfen und die Zahl der Berechtigten lächerlich klein“, sagt Borja Barragué, Rechtsphilosoph an der spanischen Fernuni UNED und Experte für Sozialpolitik.

Spanien ist spät dran

Spanien ist ein Nachzügler – die meisten übrigen EU-Mitglieder haben schon lange eine nationale Sozialhilfe. „Aber dafür konnten wir uns in anderen Ländern genau angucken, was gut funktioniert, und haben jetzt ein Modell, das es in dieser umfassenden Form so noch nicht gibt“, sagte der spanische Minister für Inklusion, soziale Sicherheit und Migration, José Luis Escrivá, dem Handelsblatt.

Er ist erst seit Januar Minister in der noch jungen Regierungskoalition von Sozialisten und Linkspopulisten. Zuvor hatte er als Chef der unabhängigen Aufsichtsbehörde Airef jahrelang an Vorschlägen für ebendiese Sozialhilfe gearbeitet. „Die Coronakrise hat die Verabschiedung des Gesetzes sehr dringend gemacht, weil uns klar war, dass von der Krise vor allem die Ärmsten betroffen sein würden“, sagt er. „Sie werden oft von Angehörigen unterstützt. Aber wenn alle weniger verdienen, bricht dieses Sicherheitsnetz für sie weg.“

Rückwirkend zum 15. Juni garantiert der spanische Staat allen Bürgern, dass sie mindestens 461 Euro als Alleinstehende und bis zu 1015 Euro für einen fünfköpfigen Haushalt im Monat zur Verfügung haben. Dafür wurden 14 verschiedene Haushaltstypen definiert.

Haben sie gar keine Einkünfte, zahlt der Staat die komplette Summe, andernfalls stockt er auf. Escrivá geht davon aus, dass rund 850.000 Familien ein Anrecht auf die Hilfen haben. Das ist deutlich mehr als die 300.000 Haushalte, die bislang Sozialhilfe von den autonomen Regionen bezogen haben. Voraussetzung für den Bezug der Sozialhilfe ist, dass die Empfänger beim Arbeitsamt als arbeitsuchend gemeldet sind.

Finden sie einen Job, sinkt die Sozialhilfe nicht sofort um die Höhe des gesamten Gehalts. Damit soll ein Anreiz für die Jobsuche geschaffen werden: Der Sozialhilfeempfänger kann seine Einkünfte steigern, wenn er arbeitet. Wer sein Gehalt erhöht, für den sinkt die Sozialhilfe um weniger, als das Gehalt steigt. Diese Regelungen sollen auch den Anreiz zur Schwarzarbeit nehmen.

Zum neuen System gehört auch eine laufende Kontrolle, wie effektiv die Hilfen sind und wann es gelingt, die Menschen wieder in die Arbeitswelt zu integrieren. „Wir haben eine Stelle geschaffen, die die Arbeit der verschiedenen Behörden koordiniert und Informationen austauscht“, sagt Escrivá. Bei einem Langzeitarbeitslosen etwa würden Sozialarbeiter prüfen, warum er keine Arbeit findet. Ist er drogenabhängig oder hat familiäre Probleme, werde zuerst an der Lösung dieser Probleme gearbeitet.

Francisco Lorenzo, Leiter der sozialen Dienste der Caritas, befürwortet das neue Gesetz zum Mindestlebenseinkommen. „Die Krisen befeuern bestehende Prozesse“, sagt er. Seine Organisation verzeichnet 57 Prozent mehr Personen, die um Unterstützung bitten. Ein Viertel der Hilfesuchenden kommt zum ersten Mal. „Das war auch nach der Finanzkrise 2008 so“, sagt Lorenzo.

In Spanien sind nach Angaben von Statista 26 Prozent der Bevölkerung von Armut bedroht, das ist mehr als der EU-Durchschnitt von 22 Prozent. In Deutschland sind es 19 Prozent. Ein wichtiger Grund für das hohe Armutsrisiko in Spanien sind die vielen zeitlich befristeten und meist schlecht bezahlten Jobs. Auch Langzeitarbeitslose – 2019 hatten 44 Prozent aller Arbeitslosen schon seit über einem Jahr keine Stelle mehr – sind oft von Armut bedroht. Arbeitslosengeld wird in Spanien maximal zwei Jahre lang gezahlt.

Kampf gegen die extreme Armut

Die neue Sozialhilfe kann diese Probleme zwar nicht alle lösen. Aber sie macht einen wichtigen Anfang. „Das Ziel des Mindestlebenseinkommens ist, die Menschen aus extremer Armut herauszuholen und sie auf ein etwas würdevolleres Niveau zu heben“, sagt Sozialminister Escrivá. Als extrem arm gilt in Spanien, wer über weniger als 230 Euro im Monat verfügt, das sind 20 Prozent des spanischen Medianeinkommens.

„Es ist sehr positiv, dass der Erfolg des Systems kontinuierlich überprüft wird“, sagt Toni Roldán, ehemaliger Abgeordneter der rechtsliberalen Partei Ciudadanos und heute Direktor des Zentrums für Wirtschaftspolitik an der Business School Esade. „Das Modell ist sehr ausgewogen und durchdacht.“ Das sonst so zerstrittene spanische Parlament stimmte ohne Gegenstimme dafür, allein die rechtsradikale Partei Vox enthielt sich.

Mehr: Die jungen Spanier sind eine verlorene Generation.