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Kommentar: "Rasse" soll aus dem Grundgesetz verschwinden - eine Entscheidung zur Unzeit?

Ein Exemplar des Grundgesetzes (Bild: ddp Images)
Ein Exemplar des Grundgesetzes (Bild: ddp Images)

Kaum ein Begriff im Grundgesetz dürfte so kontrovers diskutiert worden sein wie das Wort “Rasse”. Es wirkt heute wie ein Überbleibsel aus dem Gedankengut der NS-Zeit und zeugt zugleich von dem Willen, eben dieses zu bekämpfen: “Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden”, heißt es in Art. 3 GG.

Schon seit Jahren wird immer wieder gefordert, den Begriff aus dem Grundgesetz zu streichen oder ihn zu ersetzen, da man heute ja eben nicht mehr an die Existenz unterschiedlicher Menschenrassen glaube. Nach dem rassistischen Terroranschlag in Hanau und den weltweiten Protesten nach der Ermordung George Floyds in den USA nahm die Debatte wieder an Fahrt auf, nun soll ernst gemacht werden: Auf Initiative der Bundesländer Hamburg und Thüringen beraten seit zwei Wochen die Fachausschüsse für Recht und Inneres des Bundesrates die Verfassungsänderung. Auch die Bundesregierung spricht sich dafür aus, Justizministerin Lambrecht (SPD) drängt zur Eile: "Wir dürfen uns mit den Gesprächen nicht mehr viel Zeit lassen, sondern müssen hier zügig zu einem Ergebnis kommen", sagte sie der Deutschen Presse-Agentur am Freitag mit Blick auf die anstehenden Bundestagswahlen 2021. Zudem stehen im kommenden Jahr gleich sechs Landtagswahlen an, die Mehrheitsverhältnisse könnten sich also auch im Bundesrat ändern. Für eine Verfassungsänderung ist in beiden Kammern eine Zweidrittelmehrheit nötig.

Das Problem dabei: Ein Ersatz muss her, der die Intention der ursprünglichen Passage bewahrt und nicht etwa abschwächt. Eine bloße Streichung, steht derzeit immerhin nicht zur Debatte, da keines der anderen genannten Merkmale oder deren Kombination deckungsgleich mit den Vorstellungen von “Rasse” wäre. “Es ist wichtig, dass wir eine Formulierung finden, die im bisherigen Umfang vor Rassismus schützt”, erklärt auch Lambrecht. Denn letztlich tut die Formulierung bei aller Umstrittenheit genau das: “Heute ist ‘Rasse’ trotz des Wissens um seine Makulatur noch Teil des Grundgesetzes, weil der Umstand mitgedacht wird, dass ein Rassist auf Grundlage einer falschen Annahme von ‘Rassen’ rassistisch handelt”, schreibt Autorin Samira El Ouassil in ihrer “Spiegel”-Kolumne, in der sie sich dennoch für die Änderung ausspricht, die jedoch mit großer Sorgfalt vorgenommen werden müsse.

Artikel 3 im Kunstwerk "Grundgesetz 49" von Dani Karavan an der Spreepromenade (Bild: ddp Images)
Artikel 3 im Kunstwerk "Grundgesetz 49" von Dani Karavan an der Spreepromenade (Bild: ddp Images)

Der von Hamburg im Bundesrat eingebrachte Vorschlag lautet "Niemand darf (...) rassistisch benachteiligt oder bevorzugt werden” und ist umstritten, da er zum einen die Definition der von Rassismus betroffenen Personengruppen aufweichen und den Fokus stärker auf eine mutmaßliche Motivation des Täter legt. Hier spiegelt sich ein zentrales Problem aktueller Rassismus-Diskurse wider, über das unter anderem die Autorinnen Tupoka Ogette und Alice Hasters kluge Bücher geschrieben haben: In Deutschland sieht man Rassismus gerne als eine bewusste Entscheidung an, die vorsätzliche Ablehnung bestimmter Personengruppen, die sich so natürlich nur eine kleine Minderheit der Menschen auf die Fahnen schreiben würde. Die neuere Rassismusforschung begreift den Rassismus dagegen als ein über Jahrhunderte etabliertes System, das bis heute in der gesamten Gesellschaft wirkt und sich in oftmals unbewussten Vorurteilen und struktureller Ungerechtigkeit äußert. Zum Verständnis dieser Strukturen ist es notwendig, sich der von den Erfindern der “Rassenlehren” etablierten Zuschreibungen gewahr zu bleiben. Es werden demnach eben nicht beliebige Personengruppen von beliebigen anderen Gruppen “rassistisch benachteiligt oder bevorzugt” (z.B. gibt es keinen Rassismus Schwarzer gegen weiße Menschen), sondern Rassismus erfahren weiterhin dieselben Gruppen, denen einst bestimmte Eigenschaften und ein bestimmter Status im Rahmen des Konstrukts ihrer “Rasse” zugeschrieben wurden - völlig unabhängig davon, dass heute kein ernstzunehmender Biologe oder Anthropologe mehr die Existenz unterschiedlicher “Menschenrassen” postulieren würde. Eine Neudefinition, die stärker auf eine Intention des “Täters” abzielt (die auch heute schon oftmals schwer genug nachzuweisen ist), könnte sich in diesem Sinne als fatal erweisen.

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Natürlich sind schon lange auch einige Alternativen im Gespräch, etwa “rassistische Zuschreibung”, wie es auch im Berliner Antidiskriminierungsgesetz heißt. Allgemein anerkannt ist davon jedoch noch keine. Ist das also eine Abwägung, die unter dem Zeitdruck des nahenden Endes der Legislatur getroffen werden sollte? Wenig überraschend also, dass die geplante Verfassungsänderung kontrovers diskutiert wird, gerade auch unter von Rassismus Betroffenen. Zu den Befürwortern zählt Karamba Diaby (SPD), der einzige Schwarze Abgeordnete im Bundestag. "Leider ist festzustellen, dass es sehr schwer ist für viele, das Thema anzunehmen, weil sie sich gar nicht vorstellen können, wie wichtig das für die Betroffenen ist. Ich persönlich finde es wichtig, dass wir den Begriff Rasse aus dem Grundgesetz streichen!", sagte er im Juni dem “Deutschlandfunk”. Auch die Vizepräsidentin des Landtags von Schleswig-Holstein, Aminata Touré (Grüne), hat für die Änderung geworben. “Der Begriff ‘Rasse’ ist genau die Ursache des Problems, weil er falsche Tatsachen vortäuscht - nämlich, dass es mehrere und nicht eine menschliche Rasse gibt”, erklärte sie in einem Doppel-Interview mit Diaby im “Tagesspiegel”.

Auf der anderen Seite warnen gerade auch nicht-weiße Akademiker:innen und Rassismusexpert:innen vor einem überstürzten Vorgehen. Die Jurist:innen Cengiz Barskanmaz und Nahed Samour sehen in den Änderungsbestrebungen gar eine völlig fehlgeleitete Prämisse am Werk: “Die Behauptung, das Grundgesetz gehe mit dem Begriff der Rasse von der Existenz menschlicher Rassen aus, verkennt, dass nicht Rasse, sondern das Diskriminierungsverbot aufgrund der Rasse den Ausgangspunkt bildet”, schreiben sie in einem Beitrag für den Verfassungsblog. “Die aktuelle Forderung, den Begriff zu streichen, setzt den Unrechtsbegriff Rasse der Nürnberger Rassengesetze dem Verfassungsbegriff gleich.” Schon die in Artikel 1 festgeschriebene Unantastbarkeit der Menschenwürde verbiete es, “die Existenz von von menschlichen Rassen in das Grundgesetz reinzulesen.”

Auch Barskanmaz und Samour verweisen zudem darauf, dass “Rasse” in den Sozialwissenschaften heute als soziale Konstruktion verstanden wird. Anders als in den USA, wo sich die Critical Race Theory mit einer entsprechenden Neudefinition der Begrifflichkeiten längst etabliert hat, steckt die entsprechende Forschung samt verbalem Instrumentarium in Deutschland jedoch bestenfalls noch in den Kinderschuhen - was eine adäquate Diskussion über einen möglichen Ersatz des Rassebegriffs in den Augen mancher Kritiker geradezu unmöglich macht. Vor allem dann, wenn die Stimmen der von Rassismus betroffenen im Diskurs deutlich zu kurz kommen. “Es existiert in Deutschland überhaupt keine grundlegende akademische, juristische Debatte zu Rassismus unter Berücksichtigung einer BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) Perspektive”, konstatiert dazu die Autorin und Kuratorin Mahret Ifeoma Kupka auf Twitter.

Auch die Dozentin und Autorin Natasha A. Kelly warnt vor einer übereilten Symbolpolitik mit schädlichen Konsequenzen: “Der Erkenntnisgewinn, dass nur eine menschliche ‘Rasse’ existiert, hat nicht zum Fortgang von Rassismus geführt”, schrieb sie im Juli in einer Erwiderung auf den Vorstoß der Grünen in der “taz”. “Und das wird das Streichen oder Ersetzen von ‘Rasse’ auch nicht. Vielmehr würde ein wichtiges Ordnungsmerkmal verloren gehen, das vor allem im Kontext Schwarzer deutscher Geschichte Relevanz hat. So beispielsweise die Verwobenheit von ‘Rasse’ und Nation, warum deutsch überhaupt als weiß imaginiert wird.”

Kelly spricht sich dafür aus, zuerst den deutschen Rückstand in Antirassismusforschung und Black Studies aufzuholen, um überhaupt erst die Grundlagen für eine solche Debatte zu schaffen. Ein Prozess, der freilich viele Jahre, die Schaffung neuer Institutionen und natürlich Bildungsgerechtigkeit für BIPoC erfordert.

Denn das größte Problem ist vielleicht nicht, wie die Verfassungsänderung ausgehandelt wird, sondern wer dies tut. Auch wenn nicht-weiße Abgeordnete die Initiative zur Änderung des Grundgesetzes an prominenter Stelle mittragen, bleiben BIPoC in den Parlamentskammern und den relevanten Gremien dennoch insgesamt sträflich unterrepräsentiert - in den Ausschüssen für Recht und Inneres des Bundesrats, die derzeit über den Entwurf beraten und die sich aus den Landesministern der jeweiligen Ressorts zusammensetzen, sind sie etwa überhaupt nicht vertreten. Letztlich würden also wieder in erster Linie Weiße die Neudefinition der Antirassismus-Gesetzgebung vornehmen. Alleine schon deshalb wäre es wirklich besser, zuerst an diesen Zuständen zu arbeiten - und so der nötigen Debatte überhaupt erst den richtigen Rahmen zu ermöglichen.