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Merkel schaltet sich ein: Streit um Grundrente gefährdet die Große Koalition

Der Zank über die Rentenreform belastet zunehmend die Regierungsarbeit von Union und SPD. Jetzt mischt sich Kanzlerin Merkel selbst in die Verhandlungen ein.

Zum Abschluss des Koalitionsvertrags von Union und SPD, auf Seite 174, steht ein Satz mit potenziell großer Sprengkraft: „Zur Mitte der Legislaturperiode wird eine Bestandsaufnahme des Koalitionsvertrages erfolgen, inwieweit dessen Bestimmungen umgesetzt wurden oder aufgrund aktueller Entwicklungen neue Vorhaben vereinbart werden müssen.“ Die Passage wurde in das Regierungsprogramm aufgenommen, um insbesondere jene in den Reihen der SPD zu besänftigen, die einer Neuauflage der Großen Koalition skeptisch gegenüberstanden.

Mittlerweile sehen nicht wenige Sozialdemokraten die Revisionsklausel als eine elegante Möglichkeit, aus dem ungeliebten Bündnis auszusteigen. Die Stunde der Wahrheit rückt näher: Nach Informationen des Handelsblatts aus Koalitionskreisen soll das Bundeskabinett am 23. Oktober die Halbzeitbilanz der Regierungsarbeit ziehen.

Zum Knackpunkt entwickelt sich die Grundrente für langjährige Geringverdiener. Die Unionsfraktion im Bundestag stellt sich gegen eine Kompromisslinie, die Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) im September vereinbart hatten. Ihre Zweifel drückte sie in einem 180 Fragen und Unterfragen umfassenden Katalog aus, den sie mit der Bitte um Beantwortung an das Bundesarbeitsministerium schickte.

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Den Handelsblatt-Informationen zufolge schaltet sich nun Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in den Konflikt ein: Sie bat Heil im Vorfeld der nächsten Sitzung der Grundrenten-Arbeitsgruppe am Freitag zu einem Gespräch. Aus Regierungskreisen verlautet, es sei nicht ungewöhnlich, dass sich die Kanzlerin bei schwierigen Projekten mit den zuständigen Ressortchefs berate. Dennoch dürfte dem Kanzleramt der Ernst der Lage bewusst sein.

Die Sozialdemokraten sind ziemlich erbost, dass die Unionsfraktion nach den Vorgesprächen von Heil und Braun die Grundrente noch einmal von Grund auf diskutieren will. Den ausufernden Fragenkatalog der Unionsfraktion werten sie als Verzögerungstaktik. Dabei bleibt bis zur Halbzeitbilanz wenig Zeit. Im Zweifel, so ist zu hören, müsse ein für den 20. Oktober anvisierter Koalitionsausschuss den Knoten durchschlagen.

Einig ist sich die Große Koalition in dem Ziel, langjährige Geringverdiener im Alter besserzustellen. Voraussetzung ist laut Koalitionsvertrag, dass sie mindestens 35 Jahre in die Rentenkasse eingezahlt haben. Angerechnet werden sollen Zeiten der Kindererziehung und der Pflege von Angehörigen.

2,8 Milliarden Euro Kosten im ersten Jahr

Auf Druck der Union wurde allerdings auch eine Bedürftigkeitsprüfung als Bedingung für die Grundrente in den Koalitionsvertrag geschrieben. Entsprechend groß war der Ärger in CDU und CSU, als Heil in seinem Gesetzentwurf genau darauf verzichtete. Nach monatelangem Streit beauftragte der Koalitionsausschuss im August Braun und Heil, ein Grundsatzpapier zum Thema Grundrente zu erarbeiten. Anschließend sollte eine Arbeitsgruppe eine Einigung festzurren.

Braun und Heil brachten folgenden Lösungsansatz in die Debatte ein: Statt einer Bedürftigkeitsprüfung, bei der die gesamten Vermögensverhältnisse offengelegt werden müssen, sollen Bezieher der Grundrente eine Einkommensprüfung durchlaufen. Die Grundrente würde nur dann gezahlt, wenn das Haushaltseinkommen eine bestimmte Grenze nicht überschreitet.

Diese grobe Linie ist seit einigen Wochen bekannt. Nun liegt das auf den 13. September datierte Grundsatzpapier dem Handelsblatt vor. „Entwurf Beschlussvorschlag Koalitionsausschuss“ steht darüber, zugleich die Einschränkung: „Alle Aussagen stehen unter dem Vorbehalt einer Gesamteinigung.“ Heil und Braun vereinbarten, die Grundrente „so zielgenau wie möglich“ auszugestalten. „Bei der Einkommensanrechnung soll im Wege eines digitalen Datenaustauschverfahrens auf vorhandene Steuerdaten zurückgegriffen werden“, heißt es in dem Papier.

„Um eine bürgerfreundliche und bürokratiearme Ausgestaltung dieser neuen Rentenleistung zu erreichen, wird dadurch auf ein umfangreiches Antrags- und Prüfverfahren verzichtet.“ Der Einkommensfreibetrag soll sich demnach auf zu versteuerndes Einkommen beziehen und für Alleinstehende bei 1200 Euro im Monat liegen. Nicht geeinigt hat man sich über die Einkommensgrenze für Paare: Sie sollte entweder das 1,5-, 1,7- oder das Zweifache dieser Summe betragen.

Das Papier berechnet auch die Kosten dieser Grundrenten-Variante, die im Einführungsjahr 2021 bei rund 2,8 Milliarden Euro liegen und bis zum Jahr 2025 auf rund 3,5 Milliarden Euro steigen würden. Bei der Finanzierung blieben Kanzleramt und Arbeitsministerium uneinig. Heil setzt weiter auf das Finanzierungsmodell seines Gesetzentwurfs: Neben einem Steuerzuschuss des Bundes soll auch Geld aus der Rentenkasse fließen. Außerdem sollen über Umwege Kranken- und Arbeitslosenversicherung einen Beitrag leisten.

Den höheren Steuerzuschuss wollen Heil und Finanzminister Olaf Scholz (SPD) vor allem durch die Abschaffung der Mehrwertsteuervergünstigung für Hoteliers und durch Einnahmen aus der geplanten Finanztransaktionssteuer gegenfinanzieren. Die Position des Kanzleramts lautet dagegen: „Die Anerkennung von Lebensleistung und der Schutz vor Altersarmut sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Die Grundrente ist deshalb vollständig aus Steuermitteln zu finanzieren.“

Union pocht auf Koalitionsvertrag

Die Bindungswirkung des Dokuments ist in der Koalition umstritten. Aus der Union heißt es, dass Braun das Papier nie gegengezeichnet habe. Im Arbeitsministerium gingen allerdings E-Mails ein, in denen das Kanzleramt dem „Einigungskorridor“ für die Grundrente zustimmte. In der SPD wird mittlerweile die Frage gestellt, wie viel Prokura Braun bei den Vorgesprächen mit Heil überhaupt hatte. Und die Sozialdemokraten wundern sich, warum CDU und CSU gegen ein Kompromisspapier Sturm laufen, das in Abstimmung mit der eigenen Kanzlerin entstanden ist.

Ende September kam die ranghoch besetzte Grundrenten-Arbeitsgruppe das erste Mal zusammen, das Treffen endete ergebnislos. „Eine schnelle Lösung erwarte ich gerade nicht“, sagte CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt nach den Gesprächen. Was Heil bisher vorgestellt habe, habe wenig mit der von Union und SPD im Koalitionsvertrag vereinbarten Bedürftigkeitsprüfung zu tun. Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus erklärte die Grundrente zu einer Frage der finanziellen Prioritätensetzung. „Und da geht es jetzt um das Klima, um Technologie und Innovation, um die Wettbewerbsfähigkeit unseres Wirtschaftsstandorts“, sagte er. Auf jeden Fall dürfe das Geld bei der Grundrente „nicht mit der Gießkanne“ verteilt werden.

Die Unionsfraktion pocht auf die Einhaltung des Koalitionsvertrags. Außerdem wird ein Freibetragsmodell bevorzugt, bei dem Empfänger von Grundsicherung im Alter einen Teil ihrer erworbenen Rentenansprüche zusätzlich ausgezahlt bekommen. Der Heil-Ansatz, der auch dem Kompromisspapier zugrunde liegt, ist ein anderer: Der Arbeitsminister will Rentenansprüche von langjährigen Geringverdienern automatisch höher werten. Sein Ziel sei eine Grundrente, „die den Namen auch verdient“, sagte der SPD-Politiker immer wieder. Der Minister will eine Rente, die Lebensleistung würdigt und nicht in der Sozialhilfelogik der Grundsicherung verbleibt.

Vertreter von CDU und CSU weisen darauf hin, dass sie von Anfang an ihre Bedenken gegen den Heil-Vorschlag hatten. Der Arbeitsminister sei „kategorisch“ vom Koalitionsvertrag abgewichen. Nun versuche die SPD, öffentlichkeitswirksam Druck auf die Union aufzubauen. „Wir wissen, dass es ernst ist“, sagt ein ranghoher CDU-Vertreter. „Aber die Saboteure sitzen nicht in der Unionsfraktion.“ Der CDU-Rentenexperte Peter Weiß sagte dem Handelsblatt: „Wir wollen das Thema lösen. Die Grundrente steht zum dritten Mal in einem Koalitionsvertrag.“ Eine erneute Verschiebung wäre „unglaubwürdig“. Allerdings müsse die Grundrente „zielgenau und finanzierbar sein“, sagte Weiß.

Das Arbeitsministerium hat inzwischen die Antworten auf den Fragenkatalog der Union geliefert, sie liegen dem Handelsblatt vor. Unter anderem wollten CDU und CSU wissen, welches der diskutierten Konzepte näher am Koalitionsvertrag sei. Heils Haus ließ keinen Zweifel, dass man am eigenen Vorschlag festhalten will. Aus Sicht des Ministeriums „setzt der aktuelle Entwurf einer Grundrente die Vorgaben und Ziele des Koalitionsvertrages im bestehenden Spannungsfeld zwischen Rentenversicherung und Grundsicherung am besten um“.