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Die große Reue der Briten

Gefühlschaos nach Brexit-Votum - Die große Reue der Briten

Ihre Gefühle sind ihr nicht so ganz geheuer: „Ich mach mir wirklich sorgen, ob der Brexit mich altenfeindlich gemacht hat“, gesteht eine junge Britin einer „Guardian“-Journalistin. „Ich hab dieses ältere Paar vorhin in der Straße gesehen und da kam eine Wutwelle in mir hoch.“ Wut auf das Paar und die gesamte Generation, die schon fast körperlich zu spüren gewesen sei, gesteht die Frau.

Die britische Seele ist in einem Gefühlschaos – am Tag fünf nach dem EU-Referendum, bei dem 52 Prozent der Briten sich für einen Abschied aus der Staatengemeinschaft ausgesprochen haben, hadern etliche mit dieser Entscheidung, vor allem die jüngere Generation, die sich mehrheitlich für den Status quo ausgesprochen. Doch auch einer ganzen Reihe von Briten, die eigentlich das andere Lager unterstützte, ist nicht nach Jubel zumute. Stattdessen macht sich teilweise Reue breit, weil einige offenbar für einen Brexit gestimmt zu haben, ohne damit gerechnet zu haben, dass es wirklich dazu kommt.

„Meine Entscheidung basiert auf falschen Voraussetzungen“, bekannte beispielsweise eine 78-Jährige Briten im Gespräch mit der BBC. Sie wolle eigentlich den Austritt aus der EU nicht wirklich und sei jetzt geschockt über den Ausgang des Referendums. Sie hofft daher auf eine zweite Abstimmung. Ähnlich äußerten sich zahlreiche andere Briten über den Kurznachrichtendienst Twitter und in Leserbriefen an britische Zeitungen.

So schrieb Mike Whittle der „Times“. Er habe aus Solidarität mit den zahlreichen Menschen, die im industriellen Brachland lebten und von der Politik vergessen worden seien, für einen Brexit gestimmt. Aber das sei „ein großer Fehler” gewesen. „Wir müssen jetzt das Votum akzeptieren und das Beste aus dem machen, was jetzt als nächstes passiert.“ Aber auch Whittle hätte nichts dagegen, den schlechten Ausgang des Referendums zu ändern.

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Der Jammer ist groß. Neue Worte, die das Umschreiben, machen jetzt die Runde: „Bregret“ ist das eine, damit distanzieren sich Briten von einem EU-Austritt. „Regrexit“ beschreibt das andere Phänomen, die schnell anschwellende Reue über das Austrittsvotum. Es gibt Petitionen an das Parlament, Großdemonstrationen in mehreren Städten und verzweifelte Rufe nach einer zweiten Chance – auch fast eine Woche nach der historischen Entscheidung ist die Katerstimmung in Teilen der Bevölkerung noch lange nicht verschwunden.


Doch die Reue kommt wohl zu spät

Als erster britischer Minister brachte Jeremy Hunt ein weiteres Referendum ins Spiel, um einen Exit vom Brexit durchzusetzen. Eine zweite Volksabstimmung könnte stattfinden, wenn eine Übereinkunft mit der EU über die Kontrolle der Zuwanderung schließe, sagte der Gesundheitsminister. In einem von der britischen Tageszeitung „Daily Telegraph“ veröffentlichten Brief schrieb Hunt, der neue Regierungschef solle die Chance erhalten, mit der EU zu verhandeln, bevor Großbritannien einen Antrag auf Austritt stelle. Bevor die Uhr zu ticken beginne, müsse ein Abkommen mit der EU erreicht und dann der britischen Bevölkerung vorgelegt werden, erklärte der Minister. Dies könne durch ein zweites Referendum oder im Wahlprogramm der Konservativen für eine neue Parlamentswahl geschehen.

Doch die Reue kommt wohl zu spät. Der scheidende Premierminister David Cameron erteilte in seiner Rede vor dem Parlament am Montagabend den Bestrebungen, einen Austritt aus der EU doch noch abzuwenden, eine klare Absage. „Die Entscheidung muss akzeptiert werden und der Prozess, die Entscheidung bestmöglich umzusetzen, muss jetzt beginnen“, betonte er vor den Abgeordneten. Er habe das Ergebnis nicht gewollt, es könne aber nicht angezweifelt werden.

Umso größer ist in Großbritannien bei vielen Briten nun die Trauer um den beschlossenen Ausstieg. Nach einer Umfrage für die Sonntagszeitung „Mail on Sunday“ bedauern sieben Prozent der Befragten, für „Leave“, also für den Austritt aus der EU, gestimmt zu haben. Das macht immerhin rund 1,13 Millionen Wähler aus. Es ist Missbehagen, das sich inzwischen in vielen Arten Bahn bricht – vor allem auch in den sozialen Medien und online.
Mehrere Millionen Briten fordern inzwischen in einer Online-Petition eine zweite Abstimmung.

Die Petition wirbt für ein zweites Referendum, mit dem die Brexit-Entscheidung der vergangenen Woche rückgängig gemacht werden könnte, und sorgte in den vergangenen Tagen für viele Schlagzeilen. Gestartet hatte die Petition ursprünglich ein Befürworte des Austritts aus der EU: Der Aktivist William Oliver Healey hatte sie im Mai ins Leben gerufen, als die Umfragen noch eine Mehrheit für ein Verbleiben in der EU voraussagten. Doch mindestens Zehntausende der abgegebenen Stimmen waren offenbar gefälscht.

Ganz real und genau überprüfbar werden wohl die Zahlen der Menschen sein, die am Dienstagabend in mehreren britischen Städten an Großdemonstrationen teilnehmen wollen. Unter dem Motto „Stand together“ (Steht zusammen) werden allein mehrere zehntausend Menschen am Trafalgar Square in der britischen Hauptstadt erwartet. Die Veranstaltung wurde zwar kurzfristig auf Facebook wieder abgesagt. Es dürfte viele Teilnehmer dennoch nicht davon abhalten, auf den zentralen Platz der britischen Metropole zu kommen. Viele möchten ihrer Verzweiflung Ausdruck verleihen.

„Ich würde zurück zum Wahllokal gehen und fürs Bleiben stimmen, einfach, weil jetzt die Realität deutlich wird“, sagte eine Studentin dem Fernsehsender ITV. Ein anderer Brexit-Wähler gestand: „Ich dachte nicht, dass meine Stimme allzu viel Gewicht haben würde, weil ich geglaubt, habe, wir würden sowieso drin bleiben.“

KONTEXT

Wenn das Volk über die Politik der EU abstimmt

Niederlande

Im April 2016 votieren die Wähler in einer Volksabstimmung gegen ein Partnerschaftsabkommen der EU mit der Ukraine, das die übrigen 27 EU-Mitgliedstaaten schon ratifiziert haben. Europakritische Initiativen in den Niederlanden hatten das rechtlich nicht bindende Referendum erzwungen. Schon 2005 hatten die Niederländer einem ersten Entwurf für den EU-Vertrag von Lissabon ihre Zustimmung verweigert. 2008 billigte das Parlament dann den Reformvertrag, ohne das Volk erneut abstimmen zu lassen.

Frankreich

Wenige Tage vor dem Nein der Niederländer hatten Ende Mai 2005 bereits die Franzosen den Entwurf für eine EU-Verfassung scheitern lassen. Knapp drei Jahre später stimmte das Parlament für den Lissabon-Vertrag - ohne einen weiteren Volksentscheid.

Irland

Die Iren stimmen dem Vertrag von Lissabon im Oktober 2009 mit überraschend großer Mehrheit zu - allerdings erst im zweiten Anlauf. Vierzehn Monate zuvor hatte eine Mehrheit dagegen votiert und die EU in eine politische Krise gestürzt. Bereits im Juni 2001 hatten die Iren den Vertrag von Nizza abgelehnt, der den Weg für die Erweiterung der EU ebnen sollte. Im Oktober 2002 sprachen sich dann in einem zweiten Referendum 62,9 Prozent doch noch für die Annahme aus.

Griechenland

Inmitten der Schuldenkrise erteilen die Griechen den Sparvorgaben der internationalen Gläubiger im Juli 2015 eine klare Absage. Regierungschef Alexis Tsipras hatte für ein negatives Votum bei dem Referendum geworben. Die Euro-Finanzminister erklären die Verhandlungen für gescheitert. Ein Krisengipfel in Brüssel kann den Austritt Griechenlands aus der Eurozone in letzter Minute verhindern.

Dänemark

Aus Sorge um den Erhalt ihrer nationalen Identität lehnen die Dänen den Euro bei einer Volksabstimmung im Jahr 2000 mit knapper Mehrheit ab. Auch beim ersten Referendum über den Maastrichter Vertrag hatten sie im Juni 1992 mit Nein votiert. Erst nach der Vereinbarung weitgehender Ausnahmeregelungen stimmten die Dänen zu.

Grönland

1982 votiert Grönland - als autonomer Teil Dänemarks Mitglied der Europäischen Gemeinschaft - in einem Referendum für den Austritt. 1985 verlassen die Grönländer die Union, bleiben aber assoziiert.

Schweden

Mit 56,2 Prozent lehnen die Schweden den Euro 2003 in einem Referendum ab. Wie die Dänen behalten sie ihre Landeswährung, die Krone.

Norwegen

Bereits in zwei Volksentscheiden haben sich die Norweger gegen einen Beitritt zur Europäischen Union entschieden - 1972 und 1994. Ein weiteres Referendum ist bisher nicht in Sicht: Bis heute lehnen mehr als 80 Prozent der Bevölkerung einen EU-Beitritt ab.

Schweiz

Mit großer Mehrheit stimmen die Schweizer 2001 in einem Volksentscheid gegen den Antrag einer Bürgerinitiative, "unverzüglich" Verhandlungen über einen EU-Beitritt aufzunehmen. Die Schweiz hatte die EU-Mitgliedschaft schon 1992 beantragt. Das Beitrittsgesuch wurde aber auf Eis gelegt, nachdem das Volk eine Annäherung an die EU kurz darauf abgelehnt hatte.

Großbritannien

Erst nach Nachverhandlungen der Vertragsbedingungen durch Premier Harold Wilson sprechen sich die Briten in einem Referendum 1975 mehrheitlich für einen Verbleib in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft aus. London war der EWG 1973 beigetreten.

KONTEXT

Drohendes Rechts-Chaos bei einem Brexit

Was passiert bei einem Brexit?

Ein Mitgliedsstaat muss seinen Austrittswunsch an die EU melden. Dies könnte einige Wochen dauern. Dann würde eine Periode von zwei Jahren beginnen, in denen zunächst über die Austrittsmodalitäten und dann über das neue rechtliche Verhältnis mit der EU verhandelt wird. Artikel 50 sieht die Möglichkeit einer Verlängerung vor. Zumindest Lidington bezweifelt aber, dass alle 27 EU-Staaten dem auch zustimmen würden. Denn die Briten wären in dieser Zeit weiter im EU-Rat mit allen Rechten vertreten, obwohl sie gar nicht mehr dazugehören wollen. Zudem werde in einigen EU-Regierungen diskutiert, ob man einem austretenden Land wirklich entgegenkommen solle, meint auch der SWP-Experte. Die Überlegung dahinter: Weitere EU-Staaten sollten von einem solchen Schritt abgeschreckt werden. Lidington wies darauf hin, dass selbst Grönland bei seiner Abspaltung vom EU-Land Dänemark drei Jahre brauchte, um die Beziehungen mit der EU neu zu regeln - und da sei es fast nur um Fisch gegangen.

Freihandel

Durch den Brexit würde Großbritannien aus rund 50 EU-Freihandelsverträgen mit Drittstaaten fliegen - und müsste diese neu verhandeln. US-Präsident Barack Obama hat bereits angekündigt, dass sich die Briten bei bilateralen Neuverhandlungen "hinten anstellen müssten".

Binnenmarkt

Großbritannien müsste neu klären, wie sein Zugang zum EU-Binnenmarkt aussehen könnte. Dafür gibt es Vorbilder. Allerdings weist das Land einen Überschuss bei Finanzdienstleistungen mit dem Rest der EU auf. EU-Staaten könnten deshalb auf einen eingeschränkten Zugang in diesem Bereich pochen. Was geschieht, wenn die Unternehmen nach zwei Jahren zunächst keinen Zugang mehr zum Binnenmarkt hätten, ist unklar.

Personen

Es muss geklärt werden, wie der Rechtsstatus von Briten in EU-Ländern und der von Kontinental-Europäern in Großbritannien ist. Wer braucht künftig eine Aufenthaltserlaubnis oder sogar ein Visum?

EU-Finanzen

Die Entkoppelung der britischen Finanzströme von der EU wäre sehr kompliziert. Die EU-Staaten müssten klären, wer die wegfallenden britischen Beiträge im EU-Haushalt übernimmt. Gleichzeitig würden viele Projekte auf der Insel ins Trudeln geraten, weil EU-Zahlungen wegfielen.

EU-Beamte und britische EP-Abgeordnete

In Brüssel gilt bereits ein Stopp für wichtige Personalentscheidungen bis zum 23. Juni. Die britischen Mitarbeiter in der EU-Kommission könnten wohl auch nach dem Ausscheiden des Landes bleiben. Aber Aufstiegschancen dürfte es für sie nicht mehr geben. Die britischen Abgeordneten im Europäischen Parlament würden laut SWP-Experte von Ondarza wohl erst bei der nächsten Europawahl ausscheiden. Aber schon zuvor müsste geklärt werden, bei welchen Entscheidungen sie noch mitstimmen sollen.

EU-Gesetzgebung

Kein Probleme dürfte es bei jenen EU-Rechtsakten geben, die Großbritannien bereits in nationales Recht umgesetzt hat. Schwieriger wäre dies bei Themen, in denen die britische Regierung gerade EU-Recht umsetzt. Brexit-Befürworter fordern, dass sich das Land auch nicht mehr nach der EU-Menschenrechtskonvention richten sollte.

Außen- und Sicherheitspolitik

Die Briten leiten derzeit den Antipiraterie-Einsatz "Atalanta", sie sind auch mit Soldaten in EU-Kampfeinheiten vertreten. Eine Neuordnung in diesem Bereich gilt als relativ unproblematisch.