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Gräben in den USA: Amerikaner begeben sich in Selbsttherapie

Die Gräben zwischen Demokraten und Republikanern klaffen tief. Mit Zoom-Treffen, Abendessen und Diskussionsrunden soll die USA versöhnt werden.

Wer sich an Dialog-Formaten zwischen Demokraten und Republikaner beteiligt, gehört nicht zu den politischen Hardlinern. Foto: dpa
Wer sich an Dialog-Formaten zwischen Demokraten und Republikaner beteiligt, gehört nicht zu den politischen Hardlinern. Foto: dpa

An einem Samstagnachmittag im Dezember sitzen sieben Demokraten vor ihren Webcams in Boston, Seattle und Philadelphia und diskutieren, ob sie als „Sozialisten“ oder „Baby-Mörder“ gelten. Oder sind sie doch eher als „elitär“ und „antiamerikanisch“ verschrien?

„Es heißt doch, wir Demokraten hätten die Grenzen nicht unter Kontrolle“, ruft Bill*, der sich aus einem Kinderzimmer im Gliedstaat Washington eingewählt hat. Hinter ihm ist ein Teddybär zu sehen.

Die gängigsten Vorurteile über die eigene Partei zu benennen – und welcher Funken Wahrheit darin steckt –, ist die erste Übung an diesem Tag. Eine Gruppe von Republikanern und Demokraten aus allen Landesteilen hat sich dafür in einem Videoforum zum Workshop „Red and Blue“ zusammengefunden.

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An zwei Samstagen, jeweils drei Stunden lang, wollen sie mehr über die Anhänger der anderen Partei lernen – und darüber, wie man miteinander redet. „Wir sind nicht hier, um die Meinung der anderen zu ändern“, so erinnert die ehrenamtliche Moderatorin Dee an die Spielregeln. „Wir reden nur für uns selbst. Und – das ist vermutlich die schwierigste Regel – wir bleiben beim jeweiligen Gesprächsthema.“

Seit 2016 veranstaltet „Braver Angels“ Workshops, um die politischen Gräben in den USA zu überbrücken. Ihre Anfänge nahm die Organisation im Herbst 2016, in jenen Tagen also, als Donald Trumps Überraschungssieg bei der Präsidentschaftswahl die eine Hälfte des Landes in Ekstase und die andere in Schockstarre versetzte.

Im „Swing State“ Ohio kamen damals zehn Anhänger von Donald Trump und zehn von Hillary Clinton in einer Kirche zusammen, mitorganisiert hatte das Treffen der Familientherapeut Bill Doherty. Mit den gleichen Methoden, mit denen er zerrüttete Ehen kittet, wollte er nun Amerika behandeln: einander ausreden lassen, Gemeinsamkeiten finden, Generalisierungen vermeiden.

Das Konzept hatte Erfolg, inzwischen hat „Braver Angels“ Hunderte von derartigen Workshops im ganzen Land abgehalten – vor der Pandemie in Kirchen und Turnhallen, nun in Videokonferenzen. Mehr als 8500 Mitglieder zählt die Organisation.

Auch für den heutigen Nachmittag war die Nachfrage so riesig, dass die ehrenamtlichen Veranstalter nicht nur parallel einen zweiten Workshop aufgleisten, sondern in jedem auch noch fünfzig Zuschauer sitzen, die stumm den Diskussionen zuhören dürfen.

Der Name „Braver Angels“ ist eine Anspielung auf die erste Amtsantrittsrede von Präsident Abraham Lincoln: Am Vorabend des Bürgerkriegs forderte er seine Landsleute auf, „nicht Feinde, sondern Freunde“ zu sein, und appellierte an den „besseren Engel“ in jedem Einzelnen. Bekanntlich erklärten sich die Amerikaner trotzdem sechs Wochen später den Krieg.
Der Appell an den „besseren Engel“ in jedem scheint auch 150 Jahre nach dem Bürgerkrieg nötig. Die Amerikaner seien so polarisiert wie selten zuvor, schreibt das Pew Research Center. In der Beurteilung von Donald Trump liegen zwischen Demokraten und Republikanern sagenhafte 90 Prozentpunkte, nie zuvor stellte das Institut Gallup eine derartige Diskrepanz bei der Einschätzung eines Präsidenten fest.

Fast drei Viertel der Republikaner zweifeln das Wahlergebnis vom 3. November an. Doch nicht nur Trump spaltet das Land. Bereits seit 2008 geben immer mehr Amerikaner an, dass sie nicht wollen, dass ihr Kind einen Anhänger der jeweils anderen Partei heiratet.

Republikaner haben kein Vertrauen in das Wahlergebnis

Wie eine offene Wunde klaffen die Sichtweisen der Amerikaner zum Klimawandel, zum Krankenversicherungswesen und zum Rassismus auseinander. Einen Monat vor der jüngsten Präsidentenwahl gaben neun von zehn registrierten Wählern an, dass sie sich in den „wichtigsten amerikanischen Werten grundsätzlich von der anderen Seite“ unterschieden.

Vor wenigen Tagen forderte der Vorsitzende der Republikanischen Partei in Texas die Sezession. Gleichzeitig hat die Gewaltbereitschaft auf beiden Seiten zugenommen, wie die Ausschreitungen mit teilweise tödlichen Folgen in Charlottesville 2017 oder in Kenosha und Louisville diesen Sommer zeigten.

Die Polarisierung der Gesellschaft ist längst zum Geschäftsmodell geworden. Wer im Fernsehen zwischen Fox News und CNN zappt, fühlt sich wie auf zwei Planeten. Ebenso verdienen Facebook, Youtube und Twitter an der gesellschaftlichen Spaltung; je wütender ein Nutzer, desto mehr Zeit verbringt er erfahrungsgemäß mit Gleichgesinnten in einem Chat-Forum.

Eine 2017 veröffentlichte Studie der University of California in Davis fand heraus, dass drei Viertel der Amerikaner fast ausschließlich mit Personen, die ihre Ansichten teilen, über Politik reden.

Die Kluften im Land fressen sich auch durch Familien und Freundschaften. „Mein Bruder und ich können nicht mehr miteinander sprechen“, erzählt der Demokrat Bill im „Braver Angels"-Workshop an diesem Nachmittag. „Jedes Gespräch läuft auf Trump hinaus, immer.“

Andere erzählen von ähnlichen Problemen in der Familie, im Stadtrat, in der Schule. Doch der erste Schritt zur Konfliktlösung ist die Selbstreflexion: Die Moderatoren fordern die sieben „Roten“ und die sieben „Blauen“ auf, zu erzählen, was sie selbst manchmal an ihrer Partei stört.

„Wir sagen immer Nein und sind nicht mehr zu Kompromissen bereit“, meldet sich Brynne zu Wort, eine junge Republikanerin aus Salt Lake City. Sie sei enttäuscht gewesen, als ihre Partei nach Jahren der Fundamentalopposition zu Obamacare keinen eigenen Reformvorschlag habe präsentieren können.

„Mich stört es, dass wir Republikaner so wenig vielfältig sind“, gibt Melissa zu, eine junge asiatisch-stämmige Frau aus St. Paul in Minnesota, die ihren Sohn auf dem Schoß hält.

Die Demokraten sind verblüfft angesichts von so viel Selbstkritik – dann sind sie an der Reihe. „Wir sind vor allem heuchlerisch“, meldet sich Jed zu Wort, der Lehrer hat sich aus seinem Wohnzimmer in einem Vorort von Boston dazugeschaltet. „Wir Demokraten fordern immer Vielfalt, nur eine Meinungsvielfalt halten wir nicht aus.“ Die anderen „Blauen“ nicken.

Versöhnung am Esstisch

„Braver Angels“ ist nicht die einzige Organisation, die Amerika zu versöhnen versucht. Unzählige ähnliche Bewegungen haben sich inzwischen im ganzen Land gegründet. „Make America Dinner Again“ etwa bittet Republikaner und Demokraten zum gemeinsamen Abendessen an den Tisch, der jeweilige Gastgeber kocht.

Die Idee dazu kam Tria Chang aus San Francisco nach der Präsidentenwahl 2016. „Ich hatte Trumps Sieg überhaupt nicht kommen sehen und kannte auch niemanden, der ihn gewählt hatte“, erzählt die 36-Jährige am Telefon. Ihr sei bewusst geworden, in welcher Filterblase sie selbst lebe. Kurzerhand organisierte sie ein Abendessen mit Republikanern und Demokraten aus dem größeren Bekanntenkreis. Bald wiederholte sie das Format in anderen Städten.

MADA, wie Chang das Format nennt, stößt auf enorme Nachfrage: Bis zur Pandemie fanden mehr als zweihundert Abendessen im ganzen Land statt, organisiert von lokalen Freiwilligen, meist mit acht bis zehn Republikanern und Demokraten.

Beim Abendessen überwacht ein Moderator, dass sich jeder an die Spielregeln hält: einander nicht unterbrechen, jede Aussage soll in Ich-Form statt verallgemeinert formuliert sein. Und es gebe immer eine „Time out"-Glocke, erzählt Chang – wenn eine Diskussion zu hitzig werde, könne der Moderator so die Notbremse ziehen und alle einmal durchatmen lassen.

Mit dem Ausbruch der Pandemie haben sich die Aktivitäten von „Make America Dinner Again“ vom Esstisch ins Internet verlagert. In einer Facebook-Gruppe mit mehr als neunhundert Mitgliedern wird nun virtuell darüber diskutiert, was man etwa vom Wahlmännergremium für die Präsidentenwahl hält.

Die Diskussionen verlaufen deutlich disziplinierter als in anderen Foren, hin und wieder muss aber auch Chang die Teilnehmer an die Spielregeln erinnern. Obwohl das Forum insgesamt gut funktioniere, sei es nicht das Gleiche wie ein gemeinsames Abendessen, weshalb sie so bald wie möglich zum ursprünglichen Format zurückkehren wolle. „Alle Magie von MADA passiert dank Augenkontakt und Körpersprache.“

„Braver Angels“ hingegen sieht das virtuelle Format als Chance, dass nun auch Amerikaner, zwischen denen eigentlich Tausende von Kilometern liegen, miteinander in Kontakt treten können – also auch die „Rednecks im Süden“ mit den „Elitären der Leftcoast“.

Im zweiten Teil des Workshops, eine Woche später, haben sich wieder alle vierzehn „Roten“ und „Blauen“ im Videoforum zusammengefunden, auch die mehr als fünfzig Zuschauer verbringen erneut ihren halben Samstag hier. Viele scheinen sich auf die Fortsetzung gefreut zu haben. „Es sind großartige Leute hier“, erklärt Peter aus Philadelphia, er ist einer der aktiven Teilnehmer. „Es steht so viel auf dem Spiel. Es wäre so tragisch, wenn wir als Land keine Gemeinsamkeiten mehr finden könnten.“

Heute soll sich jedoch die Gangart verschärfen: Republikaner und Demokraten können einander Fragen stellen. „Aber diese müssen beantwortbar sein, und es sollen keine Suggestivfragen sein“, ermahnt die Moderatorin Dee.

Nach einer kurzen Diskussion legen die Demokraten los: Was sorgt euch Republikaner an einer Regierung von Joe Biden und Kamala Harris? Judy, eine ältere Dame aus dem ländlichen Vermont, meldet sich hörbar erregt zu Wort. „Ich sorge mich um Bidens körperliche und geistige Fähigkeiten. Ich sorge mich, wer gegebenenfalls für ihn einspringen wird – und ob die Person qualifiziert ist. Ich sehe nicht, dass uns diese Regierung weiterbringen wird.“ Auf Nachfrage gesteht sie, dass sie ihre Informationen zu Bidens Gesundheit aus dem Fernsehen hat.

Zuhören und weniger Zeit in den sozialen Netzwerken verbringen

Die Demokraten vor ihren Webcams schweigen, manche sehen betroffen aus. Dann sind sie mit ihren Antworten an der Reihe. „Was ist eure Sicht auf Identitätspolitik – und wie hilft der Fokus darauf, einander näherzukommen?“, wollen die „Roten“ wissen.

Nach kurzem Zögern meldet sich Jeb aus Boston zu Wort und teilt seine ganz persönliche Sicht. „Ich bin schwul, verheiratet, und wir haben Zwillingsbuben. Für den größten Teil meines Lebens konnte ich mir nicht vorstellen, wie ich das werden könnte, was ich am meisten sein wollte – ein Vater.“

Er wisse selbst gar nicht genau, was Identitätspolitik sein solle, aber er sei dankbar, dass die USA die Gleichstellung für Homosexuelle erreicht hätten. „Du kannst das Identitätspolitik nennen. Ich nenne das mein Leben.“ Einige Teilnehmer nicken zustimmend, manche werden ihm später für seine Offenheit danken.

Abwechselnd geht die Fragerunde weiter: Was stört euch am Waffenbesitz? Wie erklärt ihr euch die Rassenungleichheit im Land? Alle Teilnehmer bemühen sich spürbar um Ehrlichkeit.

Doch ein Problem können auch die Organisatoren an diesem Samstag nicht lösen: die Einstellung der Teilnehmer. Wer sich für einen „Braver Angels"-Workshop anmeldet, ist naturgemäß kein politischer Hardliner, sondern offen für andere Sichtweisen.

Zudem ist auffällig, dass kein Afroamerikaner unter den Teilnehmern ist, was in der Pause auch von einer Frau kritisiert wird, die die einzige schwarze Zuschauerin zu sein scheint (nicht alle haben die Webcam angeschaltet).

Es sei schwierig, über Rassismus im Land zu sprechen, wenn nur weiße Bürger mitdiskutierten, beschwert sie sich. Die ehrenamtlichen Moderatoren machen sich Notizen und versprechen, das Problem intern anzugehen.

Am Ende des zweiten Tages geloben auch die anderen Teilnehmer, sich das hier Gelernte weiterhin zu Herzen zu nehmen. „Zuhören, zuhören, das ist der Schlüssel“, fasst einer der Republikaner dies für sich zusammen. Auch andere beenden mit diesem Vorsatz den Workshop – und kündigen an, weniger Zeit in den sozialen Netzwerken verbringen zu wollen.

* Die Namen einzelner Personen wurden auf Wunsch geändert.