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Der Gesundheitstrend zerlegt die Zucker-Industrie

Die Zuckerindustrie galt mal als krisenfest. Doch seit immer mehr Menschen den Verbrauch reduzieren und die Politik Zucker bekämpft, wird der Milliardenmarkt erschüttert – mit Folgen für Hersteller, Händler und Bauern.

Vor zwei Jahren schwor Sabine Nageler dem Zucker ab. Vorher brauchte sie ihn, in Form von Schokolade, von Keksen, von Kuchen. Gegen den Stress, gegen die Langeweile, als Trost. Einfach, um gut durch den Tag zu kommen. „Dieser Weg zur Süßigkeitenschublade war für mich Routine“, sagt die 48-Jährige. „Ich habe immer wieder Gründe gefunden, warum ich in diesem Moment Süßes brauchte.“ Sie selbst störte dieser Drang schon lange. Schließlich ist die Österreicherin Köchin in einer Grundschulkantine. Sie soll Kindern gesundes Essen beibringen – und kann selbst nicht die Finger vom Süßkram lassen.

Nageler versuchte es mit Diäten, bis sie schließlich zur Zuckerentwöhnung beim Weiss-Institut landete. Das in Israel gegründete Institut zählt zu den vielen durchaus umstrittenen Anbietern im Markt, die Kunden mit homöopathischen und wissenschaftlich nicht eindeutig belegten Methoden Hilfe bei Süchten aller Art versprechen. Knapp 400 Euro zahlte Nageler – und bekam dafür Entspannungsübungen, Vor- und Nachberatung. Ihr hat es geholfen. „Ich habe heute kein Bedürfnis nach Zucker mehr.“

Raucher, Alkoholiker – und Zuckersüchtige. Das ist die Klientel, an die sich das Weiss-Institut wendet. Früher galt Zucker als Verführung, als Verfeinerung, als Stoff, der glücklich macht. Heute ist Zucker in den Augen vieler Verbraucher und Ärzte nur noch eines: eine Gefahr.

Zunehmend bitter

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Das Geschäft mit Zucker war mal krisenfest, es wird immer bitterer. Verändertes Konsumverhalten, neue Marktordnungen und neue Gesetze erschüttern einen milliardenschweren Wirtschaftszweig in seinen Grundfesten. Jeder Teil der Wertschöpfungskette ist betroffen: Supermarktketten testen Light-Produkte, Lebensmittelhersteller verändern die Rezeptur ihrer Waren, Zuckerproduzenten suchen ihr Heil in neuen Märkten. Rübenbauern geraten in die Defensive und kämpfen ums Überleben.

Kampf dem Zucker entspringt dem neuen Zeitgeist. Die Stimmen, die vor den negativen Folgen des süßen Konsums warnen, mehren sich. Übergewicht und Diabetes Typ 2 gelten als Volkskrankheiten, sie belasten das Gesundheitssystem jährlich mit Kosten von bis zu 20 Milliarden Euro, schätzen Ärztekammern und das Institut für Gesundheitsökonomik übereinstimmend. Konsumenten üben freiwillig Verzicht. Und die Politik ist alarmiert.

In Großbritannien legte der Staat Anfang April gezuckerten Getränken eine Steuer auf. Prompt reduzierten Coke und Co. den Zuckergehalt. Auch in Norwegen, Mexiko und Südafrika gibt es solche Steuern. Die Weltgesundheitsorganisation WHO sieht ihre Wirkung als erwiesen an. Verbraucherschutzorganisationen wie Foodwatch und ein Bündnis aus mehr als 2000 Ärzten und Krankenkassen rufen auch in Deutschland der Regierung zu: Eine Zuckersteuer muss her! Die große Koalition will für die „Nationale Reduktionsstrategie für Zucker, Fett und Salz in Fertigprodukten“ noch in diesem Jahr „gemeinsam mit den Beteiligten ein Konzept erarbeiten“.

Weniger statt mehr

Gerda Kayser musste nicht lange nach dem Siegerpudding suchen. An der Scheibe eines Kühlfachs im Rewe-Markt in einem Dürener Gewerbegebiet pappen zwei Plakate: „Ihr habt probiert, ihr habt entschieden. 30 Prozent weniger Zucker“, ist darauf zu lesen. Der Schokopudding der Eigenmarke „Beste Wahl“ hatte sich in einer vierwöchigen Abstimmung von 100.000 Rewe-Kunden über Pudding mit 20, 30 oder 40 Prozent weniger Zucker durchgesetzt. Abgestimmt hat die Rentnerin zwar nicht. Trotzdem legt sie zwei Becher in ihren Einkaufswagen. „Weniger Zucker kann ja nicht schaden“, sagt sie.

Wenn Handelsriesen wie Rewe für eine Werbe- oder Imagekampagne in Sachen gesunder Ernährung viel Geld in die Hand nehmen, dann ist das kein Altruismus. Hier geht es um Umsatz – und Marktanteile. „Es wird nichts daran vorbeiführen, den Kunden an etwas weniger Süße zu gewöhnen“, sagt Klaus Mayer, Leiter des Qualitätsmanagements bei der Rewe-Group. Der 57-Jährige ist nach Stationen bei Unilever, Wrigley und Müller-Milch seit zehn Jahren beim Kölner Lebensmittelriesen und dort Herr über Rezepturen und Geschmäcker. „Wir haben vor vier Jahren angefangen, Schritt für Schritt Salz- und Zuckergehalt unserer Eigenmarken zu reduzieren“, sagt der Vater von zwei Kindern. Auch bei denen achtet er auf gesunde Ernährung – „aber nicht missionarisch“. Das Thema Zuckerreduzierung bekomme dank der immer breiteren Debatte Aufwind, sagt er.

Eine aktuelle Studie der Handelshochschule Leipzig sieht den Lebensmittelhandel als „Kulturträger“, der Verantwortung übernehmen müsse: als „zeitgemäßer Versorger, verantwortungsbewusster Mitgestalter von Lebensstilen und nicht zuletzt unternehmerischer Mitgestalter des Gemeinwesens“, sagt Autor Timo Meynhardt. Es sei „Aufgabe des Lebensmittelhandels, diese wichtigen gesellschaftlichen Funktionen in verstärktem Maß auch in Zukunft wahrzunehmen“.


Pizza statt Zucker

Die Lebensmittelindustrie reagiert, wohl auch, um zu verhindern oder zu verzögern, dass der Gesetzgeber Fakten schafft. So will Coca-Cola den Zuckergehalt in seinen Getränken bis 2020 um zehn Prozent senken, ebenso wie Saftriese Eckes-Granini. Haribo verkauft seit Jahresbeginn drei Sorten Fruchtgummi mit 30 Prozent weniger Zucker. Auch Zott, Bahlsen, Zentis und Oetker haben ihn auf der Streichliste.

Für den ungeliebten Industriezucker werden außerdem Ersatzstoffe gesucht. Der Schweizer Lebensmittelriese Nestlé hat seit 2015 mit 250 Sensorik-Spezialisten, Ernährungswissenschaftlern, Konditoren, Produktentwicklern und Beschaffungsanalytikern eine neue, kalorienärmere Art von Zucker entwickelt. Dieser besteht nicht aus festen Kristallen, sondern hat eine amorphe und poröse Struktur, vergleichbar mit Zuckerwatte.

Neue Rezepte gesucht

Rewe-Manager Mayer und sein 20-köpfiges Team haben 15.000 bis 20.000 Rezepturen von Eigenmarken durchforstet. Zucker könne vor allem bei alkoholfreien Getränken, Cerealien, Süßwaren, Joghurt und Pudding eingespart werden. „In diesem Jahr werden wir noch in 100 Rezepturen den Zuckergehalt reduzieren“, sagt Mayer. „Insgesamt haben wir weitere 300 Produkte in der Mache, die ab 2019 umgestellt werden.“

Andere Händler ziehen mit: Lidl will in Getränken wie Cola und Eistee den Zuckergehalt „um fünf bis acht Prozent“ senken und den Zuckeranteil in 20 Süßgebäck-Artikeln und einigen Backwaren wie gefüllten Croissants überarbeiten. Bis 2025 soll der Zucker- und Salzanteil in eigenen Produkten um 20 Prozent reduziert werden. Auch Konkurrent Aldi Süd hat 2017 aus über 190 Produktsorten Zucker rausgenommen.

Die Umstellung der Rezepturen laufe im engen Dialog mit den Herstellern, sagt Mayer. „Die machen uns beispielsweise verschiedene Muster eines Produktes, die dann 10, 20 oder 30 Prozent weniger Zucker enthalten.“ Anschließend verkosten Mayer und seine Mitarbeiter die Kreationen. Über allem stehe die Frage: Was ist akzeptabel? „Der Kunde kauft eine Süßware ja, weil sie süß ist, und nicht weil sie zuckerreduziert ist.“

In der Zentrale von Südzucker in Mannheim gelten noch andere Lehrsätze über die Gesundheit. Auf den Tischen stehen Brownies und Kekse, Säfte und Cola. Neben der Teekanne steht eine Dose mit Kandiszucker. Als wolle Südzucker den anwesenden Journalisten zeigen, was die Welt der süßen Kristalle alles zu bieten hat. Südzucker-Chef Wolfgang Heer muss bittere Nachrichten verkünden. 100 bis 200 Millionen Euro Verlust erwartet der Konzern im laufenden Geschäftsjahr in der Zuckersparte. Damit brechen neue Zeiten an: Seit mehr als zehn Jahren erwirtschaftete der Konzern Überschüsse zwischen 70 und 700 Millionen Euro.

Heer spielt die Dramatik der roten Zahlen herunter, spricht von einer Übergangsphase, von nur „zwei schwierigen Jahren“ nach der Liberalisierung. Im vergangenen Herbst beendete die EU die Zuckermarktordnung, die fast 50 Jahre lang Preise sowie Ein- und Ausfuhrmengen regelte. Seitdem ist der Preis für Zucker abgestürzt – von über 500 Euro die Tonne auf kaum mehr als 300 Euro. Doch irgendwann, prophezeit Heer, müsse der Preis ja auch wieder steigen.

Was, wenn nicht? In der Welt des Zuckers ist Deutschland so groß wie kaum ein anderes Land, der größte Produzent in Europa. Gleich drei namhafte Hersteller stammen aus Deutschland, neben der börsennotierten Südzucker sind das Nordzucker aus Braunschweig und das verschwiegene Familienunternehmen Pfeifer & Langen aus Köln. Ihr Geschäftsmodell: Sie produzieren Zucker aus Rüben, die sie Bauern abkaufen.

Doch das funktioniert nicht mehr wie früher. Wie sehr die Branche den Wandel fürchtet, zeigt Nordzucker. Der rapide Preisverfall bei Zucker „überschattet die Ergebnisse des Geschäftsjahrs“, ließ der Konzern zuletzt verlauten. Der Umsatz sank um drei Prozent auf knapp 1,7 Milliarden Euro. 2017 hat sich Nordzucker auch gleich von zwei Top-Managern getrennt: Erst räumte Vorstandschef Hartwig Fuchs nach sieben Jahren seinen Posten – aus persönlichen Gründen, wie es offiziell hieß. Dann ging Finanzvorstand Michael Noth. Beide standen für einen Sparkurs, der Nordzucker knapp in der Gewinnzone stabilisierte. Doch beiden gelang es nicht, sich unabhängiger vom Rübenzucker zu machen.


Landcafé statt Rüben

Ganz anders Südzucker. Zu deren Reich gehört etwa die Sparte Agrana, die Fruchtzubereitungen an Saft-, Eis- und Joghurthersteller liefert. Der Anteil des Zuckerumsatzes liegt konzernweit nur noch bei 43 Prozent. Zweitgrößter Erlösbringer ist mittlerweile der Pizzahersteller Freiberger. Der ist für die Tiefkühlpizza „Alberto“ bekannt, produziert aber auch für große Handelsketten deren Eigenmarken. 2017 kaufte Südzucker zwei Hersteller von Fertigpizzen: die deutsche Hasa und die amerikanische Richelieu Foods. Das machte Südzucker zum größten Hersteller von No-Name-Pizzen in Deutschland und den USA.

Pfeifer & Langen ist inzwischen ähnlich breit aufgestellt. Der Familienkonzern kann auch salzig. Zu den Kölnern gehört neben der Schokoladenmarke Schogetten auch der Knabber-Riese Intersnack mit den Marken Funny-frisch, Chio und Pom-Bär.

Südzucker-Chef Heer fordert nun Hilfe von der Politik. Schließlich drängt auch die Konkurrenz aus Übersee seit der Liberalisierung auf den europäischen Markt. Während Zucker politisch und medial in der Kritik stehe, müssten fettige Produkte keine neuen Regularien fürchten. „Wenn einer zu viel Kalorien zu sich nimmt und keinen Sport treibt, dann ist eben die Kalorienbilanz falsch“, schimpft Heer. „Aber das lässt sich eben nicht nur auf einen Inhaltsstoff zurückführen. Warum plädiert niemand für eine Fettsteuer?“

Mit einer Fett- statt Zuckersteuer könnte auch Martin Ditges besser leben. Der Rübenbauer aus Titz, einem Dorf zwischen Aachen und Düsseldorf, gerät derzeit doppelt unter Druck. Zum einem droht ihm ein Nachfrageausfall, wenn Menschen Zucker reduzieren und die Industrie nach Alternativen forscht. Landwirte wie er wissen: Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Sinneswandel des Konsumenten zu gesünderem Essen in der Wertschöpfungskette ganz unten einschlägt – bei ihm, dem Rohstofflieferanten.

Schwere Zeiten für Rübenbauern

Doch als wäre all das nicht genug, macht seit vergangenem Herbst auch Europa Stress. Der 60-Jährige marschiert durch den Innenhof seines denkmalgeschützten Vierkanthofs Gut Betgenhausen und ärgert sich, dass Brüssel den Schutzwall schleifte, der seine Rübenfelder umgab: die EU-Zuckermarktordnung. Die garantierten Produktionsquoten und Rübenmindestpreise hatten wenig mit Markt zu tun, aber mit Ditges’ Grundlage für sein Überleben und die Zukunft seiner drei Kinder. Sohn Max studiert in Bonn Agrarwissenschaften und will die Familientradition fortführen – in fünfter Generation. „Wir hatten von der Quote nur Vorteile, wir waren verwöhnt“, sagt Ditges. Bei der Aussaat habe er schon gewusst, was er für die Ernte bekommt.

Der Landwirt beackert rund 200 Hektar Land rund um seinen Gutshof, fast zwei Kilometer außerhalb des Dorfs mit seinen 2500 Einwohnern. Seit 1882 wirtschaftet die Familie hier. Auf knapp 60 Hektar baut Ditges Rüben an, fast ebenso viel entfällt auf Getreide. Auf dem Rest wachsen Kartoffeln und Gemüse.

Rund 90 Tonnen Zuckerrüben hat Ditges in der abgelaufenen Kampagne, also in der Zeit zwischen Mitte September und Mitte Januar, in der Zuckerfabrik im benachbarten Jülich abgeliefert. Die Fabrik gehört dem Zuckerhersteller Pfeifer & Langen. Je nachdem, wie viel die Kölner aus dem Verkauf von Zucker erlösen, steigt oder fällt die Auszahlung für Ditges. Doch Überangebot und steigende Exporte auf dem Weltmarkt drücken auf den Zuckerpreis. Und was zahlen die Kölner Zuckerbarone nun Bauer Ditges aus Titz? „Das wissen wir noch nicht“, sagt er. Die Verhandlungen seien abgebrochen und verschoben worden. „Was wir wissen, ist, es wird nicht viel sein. Wir kämpfen um die 30 Euro.“

30 Euro? Zum Vergleich: Beim sogenannten All-in-Preis, also dem Grundpreis für eine Tonne Rüben, zuzüglich Prämien für einen hohen Zuckergehalt, Schnitzelvergütung, Spät- und Frühlieferprämien, kam Ditges in den vergangenen Jahren nicht selten an die 50 Euro heran. Als Zucker noch begehrter Rohstoff war. „Und jetzt, bei der ersten Ernte nach der Quote, sind wir schon an der Schmerzgrenze.“

Ideen für ein Leben nach der Rübe hat er reichlich. Ein Landcafé, Ferienwohnungen, Veranstaltungen, Feste und Konzerte. Ditges: „Wir sind hier so abgelegen, hier kann man richtig Remmidemmi machen und die Bässe aufdrehen.“