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Gegenseitige Vorwürfe und kein Poker-Ende in Sicht: Das Risiko eines „No-Deal-Brexits“ steigt

EU-Chefunterhändler Barnier macht London für den Stillstand in den Gesprächen verantwortlich. Dort fällt die Bilanz kaum positiver aus. Die Industrie ist zunehmend ungehalten.

Der Chefunterhändler der Europäischen Union für den Brexit, weist London die Schuld für die stockenden Gespräche zu. Foto: dpa
Der Chefunterhändler der Europäischen Union für den Brexit, weist London die Schuld für die stockenden Gespräche zu. Foto: dpa

Michel Barnier hält ein schmales Dokument in die Höhe: die gemeinsame Erklärung, die Europäische Union und Großbritannien im Oktober 2019 vereinbart hatten, zusammen mit dem Vertrag für den Austritt des Vereinigten Königreichs. Dieses Dokument sei auch auf Englisch verfügbar, sagt der EU-Chefunterhändler süffisant, und die 27 Seiten seien gar nicht schwierig zu lesen.

In der politischen Erklärung hatten beide Seiten die Grundzüge ihrer Beziehungen nach dem Brexit festgehalten, und für die EU sei diese „die einzig gültige Referenz“ für die laufenden Verhandlungen, betont Barnier. Premier Boris Johnson habe die Erklärung selbst mit ausgehandelt, „aber unsere britischen Gegenüber versuchen sich dennoch Runde für Runde davon zu distanzieren“.

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Der Unterhändler der 27 EU-Staaten schiebt damit London die Verantwortung dafür zu, dass auch die vierte Verhandlungsrunde diese Woche „keine bedeutenden Fortschritte“ gebracht habe. Als Beleg zitiert er mehrere Stellen aus der gemeinsamen Erklärung - zum Standortwettbewerb, zur Geldwäsche oder zur atomaren Sicherheit. In allen diesen Bereichen wichen die britischen Forderungen weit vom gemeinsam Vereinbarten ab, sagt Barnier.

Sein britisches Gegenüber David Frost beurteilt den Stand der Gespräche kaum positiver: In einer ersten Stellungnahme spricht er von „limitierten Fortschritten“. Ein Vertreter der britischen Regierung wies aber die Vorwürfe, man würde die Vereinbarungen der politischen Erklärung ignorieren, zurück: Die Aussagen darin müssten nicht zwangsläufig in einen Vertrag überführt werden, ist man in London überzeugt, sondern sollten doch lediglich als Ausgangspunkt für die Verhandlungen dienen.

Wirtschaftsvertreter enttäuscht

Die Industrie zeigt sich angesichts des Stillstandes zunehmend ungehalten: Neben der Last durch die Coronakrise drohe den Unternehmen deshalb am Jahresende weiteres Ungemach, kritisierte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Joachim Lang, die „Verärgerung“ in den Unternehmen darüber wachse. London müsse sich in zentralen Fragen bewegen und die politische Erklärung unbedingt Grundlage der Gespräche bleiben, fordert Lang.

Auch die britischen Unternehmen machten sich angesichts der langsamen Fortschritte große Sorgen, sagte Josh Hardie vom Industrieverband CBI. Die meisten Firmen seien nicht auf eine drastische Veränderung in den Handelsbeziehungen zum wichtigsten Handelspartner vorbereitet.

Einigen sich beide Seiten nicht, würde Großbritannien am Jahresende aus dem Europäischen Binnenmarkt und der Zollunion ausscheiden – dann endet die Übergangsfrist nach dem EU-Austritt. Der bislang weitgehend ungestörte Handel über den Ärmelkanal würde dann plötzlich von Zöllen und anderen Einfuhrschranken behindert, die oftmals eng verwobenen Lieferketten in der Industrie würden empfindlich gestört.

Beide Seiten könnten die Übergangsfrist um ein bis zwei Jahre verlängern, aber dazu ist die Regierung in London bislang nicht bereit – trotz entsprechender Forderungen der Regionalregierungen von Schottland, Wales und Nordirland. „Wir müssen diese Verhandlungen rechtzeitig abschließen, damit die Menschen und Unternehmen Gewissheit haben über die Handelsbedingungen“, betonte Frost.

In London beteuert man zwar, nach wie vor an einem Abkommen interessiert zu sein und die Verhandlungen fortsetzen zu wollen. Aber gleichzeitig bemüht man sich zu demonstrieren, dass man das nicht unbedingt brauche. Man sei besser für einen EU-Ausstieg ohne Abkommen vorbereitet als letztes Jahr. Man wisse schließlich, was dann 2021 auf Großbritannien zukomme: die Handelsvorschriften der WTO.

Die Analysten der Commerzbank setzen weiter darauf, dass sowohl Großbritannien als auch die EU ein starkes Interesse an einem Freihandelsabkommen haben, „was ein starkes Argument dafür ist, dass es am Ende einen Kompromiss geben wird“, meint Volkswirt Peter Dixon in einem Kommentar.

Es sehe zwar derzeit ganz danach aus, als wenn die britische Regierung zumindest bis Mitte des Jahres keine Verlängerung der Übergangsperiode beantragen werde, aber „natürlich könnte dies Teil der Verhandlungsstrategie sein, um Druck auf die EU aufzubauen“. Im beiderseitigen Einvernehmen könnte sicherlich auch im späteren Verlauf des Jahres noch eine Verlängerung vereinbart werden, meint der Commerzbank-Experte. Das Risiko eines „No-Deal-Brexits“ sei allerdings deutlich gestiegen, warnt er.

Hoffnung auf Spitzentreffen

Barnier hofft nun, dass ein Treffen auf höchster politischer Ebene Bewegung in die Verhandlungen bringt. Johnson wird sich noch im Juni mit den EU-Spitzen zusammensetzen, voraussichtlich mit Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident Charles Michel. Genauer Termin und Format des Treffens sind noch unklar. Sollte der britische Premier doch noch einer Fristverlängerung zustimmen, wäre dies die Gelegenheit, denn rechtlich muss der Aufschub bis 1. Juli beschlossen werden.

Die Hauptstreitpunkte sind nach wie vor dieselben. London lehnt vor allem die EU-Forderung ab, sich im Gegenzug für einen weitreichenden Zugang zum Binnenmarkt zu verpflichten, die EU-Standards bei Staatshilfen, Arbeitnehmerrechten und Umweltfragen nicht zu unterschreiten.

Damit wolle man einen fairen Wettbewerb der Standorte gewährleisten, sagte Barnier – schließlich hingen davon Hunderttausende Jobs in den EU-Staaten ab. Auch bei der Bekämpfung von Geldwäsche verlangt die EU weitreichende Zusagen von der britischen Regierung, London wolle aber nicht über die geltenden internationalen Abkommen hinausgehen, sagte eine EU-Beamtin.

Uneins sind sich beide Seiten ebenfalls beim Thema Fischereirechte: Großbritannien pocht darauf, nach dem Vollzug des EU-Ausstiegs Anfang 2021 die Zugangsrechte zu britischen Fischereigründen jedes Jahr neu zu regeln. Die EU will aber längerfristige Vereinbarungen. Barnier betonte, ohne eine Einigung über die Regelung der Fangquoten werde es auch kein Handelsabkommen geben. Außerdem will London jedweden Einfluss des Europäischen Gerichtshofes vermeiden.

Die EU will zudem ein umfassendes Vertragswerk vereinbaren, in dem alle Bereiche geregelt sind – vom Handel über den Verkehr bis hin zur Zusammenarbeit der Sicherheitsbehörden. Großbritannien hingegen will mehrere Einzelabkommen um ein Freihandelsabkommen herum abschließen.

Der Grund dafür ist klar: Wenn sich die beiden Seiten irgendwann bei einem Thema zerstreiten, kann sich das bei einem umfassenden Vertrag auch auf andere Bereiche auswirken. Bei mehreren Einzelabkommen wäre das nicht möglich. Deswegen sei ein übergreifendes Vertragswerk „nicht im Interesse der britischen Regierung“, heißt es in London.

Einigen sich EU und Großbritannien nicht, würde das Land am Jahresende aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion ausscheiden – dann endet die Übergangsfrist nach dem EU-Austritt Foto: dpa
Einigen sich EU und Großbritannien nicht, würde das Land am Jahresende aus dem europäischen Binnenmarkt und der Zollunion ausscheiden – dann endet die Übergangsfrist nach dem EU-Austritt Foto: dpa