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EU-Kommissar Gentiloni: „Wir dürfen die Fehler der Finanzkrise nicht wiederholen“

Der EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni lobt die deutschen Maßnahmen im Kampf gegen Corona – und kündigt eine Solvenzhilfe für Unternehmen an.

Schon frühzeitig hat EU-Wirtschaftskommissar Paolo Gentiloni ein billionenschweres EU-Hilfsprogramm für die von der Coronakrise besonders schwer getroffenen Staaten gefordert – und dabei sicher nicht zuletzt an sein Heimatland Italien gedacht. Der Wunsch des Italieners wird nun erfüllt: Am kommenden Mittwoch legt die EU-Kommission ihren Wiederaufbauplan vor.

Nach Informationen aus EU-Kreisen wird er noch gewaltiger ausfallen als der deutsch-französische Vorschlag: Die Regierungen in Paris und Berlin forderten diese Woche einen schuldenfinanzierten EU-Fonds mit einem Volumen von 500 Milliarden Euro, um die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie in der EU abzufedern.

Die Hilfen aus dem Fonds sollen nach Ansicht der Bundesregierung allerdings an Bedingungen geknüpft werden. Empfängerländer wie etwa Italien sollen nur dann Unterstützung bekommen, wenn sie lange verschleppte Reformen endlich angehen. Der Italiener Gentiloni sieht das entspannter. „Bedingungen oder Konditionalität würde ich das nicht nennen“, sagte er im Gespräch mit dem Handelsblatt.

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Allerdings hofft auch Gentiloni, dass der Corona-Wiederaufbaufonds der EU einen Reformschub in Südeuropa bringt. Auch in Deutschland sieht der EU-Wirtschaftskommissar noch Handlungsbedarf. Das gewaltige Hilfsprogramm für die deutsche Wirtschaft sei zwar sei begrüßenswert, dürfe aber keine Eintagsfliege bleiben, meint der EU-Kommissar. Deutschland müsse die öffentlichen Investitionen noch jahrelang auf hohem Niveau halten.

Das gesamte Interview lesen Sie hier:

Herr Kommissar, Deutschland und Frankreich haben einen EU-Wiederaufbauplan mit einem Volumen von 500 Billionen Euro vorgeschlagen. Wird das ausreichen, um die wirtschaftlichen Folgen der Coronakrise zu bewältigen?
Die EU-Kommission wird ja nächste Woche ihren Entwurf für einen Wiederaufbauplan vorlegen. Der wird nicht genauso aussehen wie der deutsch-französische Vorschlag. Zu den Zahlen möchte ich mich so kurz vor der Veröffentlichung nicht äußern, aber Sie kennen ja meine Position.

Sie haben sich schon frühzeitig für ein billionenschweres EU-Rettungspaket ausgesprochen. Sind Sie denn generell zufrieden mit dem deutsch-französischen Vorstoß?
Es ist sicher sehr hilfreich, dass sich Deutschland und Frankreich auf eine gemeinsame Position geeinigt haben. Beide Länder haben anerkannt, dass wir uns in einer außergewöhnlichen Lage befinden, die eine außergewöhnliche Reaktion erfordert. Damit ebnen sie den Weg zu einer Verabschiedung des Wiederaufbauplans durch die EU-Regierungschefs.

Am 18. Juni ist ein EU-Gipfel dazu geplant. Erwarten Sie dann eine Einigung?
Bis dahin müssen noch einige Meinungsunterschiede überwunden werden. Ich gehe aber davon aus, dass am Ende die Vernunft und die Verantwortlichkeit siegt.

Von der Krise besonders stark betroffene EU-Staaten sollen aus dem EU-Wiederaufbaufonds Transfers erhalten – allerdings nur unter Bedingungen. Welche sind das?
Ich würde das nicht Bedingungen oder Konditionalität nennen. Eine wesentliche Aufgabe unseres Wiederaufbauplans ist es, den am meisten von der Pandemie betroffenen Regionen und Wirtschaftssektoren zu helfen. Außerdem wollen wir ihn nutzen, um unsere strategischen Ziele zu erreichen. Dabei geht es um eine Korrektur unseres Wirtschaftsmodells: Es muss ökologisch nachhaltiger, sozialer und digitaler werden. Diese wirtschaftspolitischen Prioritäten spielen in dem Wiederaufbauplan eine sehr große Rolle. Außerdem geht es uns darum, alle Mitgliedstaaten am Wohlstand teilhaben zu lassen. Vor neunzig Jahren hatten wir die große Depression, vor zehn Jahren eine große Rezession und jetzt droht uns die große Fragmentierung in arme und reiche EU-Staaten. Das müssen wir verhindern.

Manche EU-Staaten, etwa Italien, benötigen dafür allerdings dringend Strukturreformen, etwa auf dem Arbeitsmarkt, in der Staatsverwaltung oder in den Sozialsystemen. Wird die EU diese Reformen denn nun endlich in Gang setzen?
Erst einmal müssen wir helfen und solidarisch sein. Mit dem Wiederaufbauplan bekommen wir aber auch ein finanzielles Instrument an die Hand, um solche Reformen zu fördern in den nächsten zwei bis drei Jahren. In der Tat sollten wir diese Gelegenheit nutzen, um die in mehreren Ländern seit langer Zeit überfälligen Reformen umzusetzen.

Deutschland hat ein gewaltiges nationales Hilfsprogramm für die Wirtschaft aufgelegt. Reicht das, um die seit Jahren von der EU-Kommission beklagte Investitionsschwäche zu beseitigen?
Was die Bundesregierung da vorgelegt hat, ist beeindruckend und findet unsere ganze Wertschätzung. Selbst mit einem so außergewöhnlichen Investitionsprogramm ist es allerdings nicht getan, wenn es einmalig bleibt. Das Niveau der staatlichen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, in den digitalen und den grünen Wandel muss auch in den Folgejahren hoch bleiben. Leider ist in den nächsten Jahren mit einem deutlichen Rückgang der privaten Investitionen zu rechnen. Mehrere große potenzielle Investoren haben Liquiditätsprobleme. Die zu befürchtende Investitionslücke geht in die Billionen, wenn leistungsstarke Länder wie Deutschland nicht mit öffentlichen Investitionen gegensteuern.

Deutschland ist auch Spitzenreiter bei den staatlichen Beihilfen für die Unternehmen. Das sieht die EU-Kommission eher kritisch – warum?
Wir haben überhaupt keinen Grund das zu kritisieren. Die Kommission hat wegen der Coronakrise die staatlichen Beihilferegeln deutlich gelockert. Dass Staaten mit dem entsprechenden finanziellen Spielraum das nutzen, ist vollkommen in Ordnung. Die Kommission muss allerdings dafür sorgen, dass die Beihilfen den Wettbewerb im Binnenmarkt nicht verzerren.

Seit Ausbruch der Pandemie hat die Kommission Subventionen von über 1,9 Billionen Euro genehmigt, davon entfallen 51 Prozent auf Deutschland, gefolgt von Frankreich mit 17 Prozent. Ist das noch fairer Wettbewerb?
In der Tat gibt es sehr große Unterschiede zwischen Deutschland einerseits sowie Frankreich, Spanien und Italien andererseits – und das bereitet uns in der Kommission auch große Sorgen. Wir überlegen deshalb, ein neues Instrument in unseren Wiederaufbauplan einzubauen: Eine Solvenzhilfe für Unternehmen, die keine Unterstützung in ihrem Heimatland bekommen. Wichtig ist das für die paneuropäischen Wertschöpfungsketten, etwa in der Autoindustrie. Wenn da ein Glied ausfällt, sind auch alle anderen betroffen. Wir denken außerdem an Veränderungen in unserem Wettbewerbsrecht. Wenn wir die Krise hinter uns haben, müssen wir zu stabilen Wettbewerbsregeln zurückkommen.

Nach welchen Kriterien soll das viele Geld aus dem EU-Wiederaufbaufonds eigentlich verteilt werden?
Die EU-Regierungschefs haben ja bereits vorgegeben, dass die am meisten von der Pandemie betroffenen Regionen und Sektoren unterstützt werden sollen. Das in die Praxis umzusetzen, ist aber gar nicht so leicht. Wir brauchen dafür formale Kriterien, und daran arbeiten die Dienste der Kommission jetzt.

Wenn die EU hunderte von Milliarden Euro in die Wirtschaft pumpt und dafür Schulden macht, muss das Geld irgendwann zurückbezahlt werden. Wird es dann wieder so laufen wie nach der Finanzkrise: Steuererhöhungen und harte Sparprogramme?
Meine Antwort darauf ist ein klares Nein. Wir sollten nicht auf die Logik und das Wording der Finanzkrise zurückgreifen.

Der momentan ausgesetzte Stabilitätspakt mit seinen Obergrenzen für Schulden und Defizite muss aber doch irgendwann wieder angewandt werden. Wann wird das sein?
Wir haben den Stabilitätspakt ausgesetzt, weil sich Europa in einem schweren Abschwung befindet. Wenn dieser Abschwung endet, dann müssen die Regeln des Paktes wieder gelten.

Also nächstes Jahr, denn laut ihrer neuen Konjunkturprognose soll die Wirtschaft dann ja wieder überall wachsen.
Es wird nicht reichen, wenn es nur zwei oder drei Ländern wieder gut geht. Umgekehrt ist eine Aussetzung des Stabilitätspaktes auch nicht mehr gerechtfertigt, wenn eins, zwei oder drei Länder noch in der Rezession stecken. Wenn die Wirtschaft in einer Mehrheit der EU-Staaten wieder wächst, dann sollten wir den Pakt wieder inkraft setzen. Wenn unsere Prognose eintrifft, dann wird das nächstes Jahr der Fall sein. Das hoffe ich natürlich.

Droht dann ein strenger Sparkurs?
Daran ist jetzt noch gar nicht zu denken. Wir müssen noch wochenlang, vielleicht monatelang mit der Pandemie leben. Zugleich müssen wichtige Branchen, etwa der Tourismus, wieder in Gang kommen. Dieser Sommer wird ganz anders verlaufen als wir es gewohnt sind. Abstandsregeln in Restaurants und an Stränden sind einzuhalten. Darum müssen sich nationale oder lokale Behörden kümmern. Außerdem müssen die Grenzöffnungen geordnet und koordiniert verlaufen. Darüber wacht die EU-Kommission. Wichtig ist das vor allem die südeuropäischen Staaten, wo der Tourismus einen substantiellen Teil zur jährlichen Wirtschaftsleistung beiträgt.

Irgendwann muss der Staatshaushalt aber doch konsolidiert werden – oder?
Ja, aber dabei dürfen wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. In der Finanzkrise ging die Haushaltskonsolidierung oft auf Kosten der Investitionen. Das darf uns nicht noch einmal passieren.

Zum Schluss eine Frage zum EZB-Urteil: Das Bundesverfassungsgericht hat dem Europäischen Gerichtshof klar widersprochen – ein Clash zwischen dem höchsten deutschen und dem höchsten EU-Gericht. Was muss die Bundesregierung tun, um diesen Konflikt aufzulösen?
Aus Sicht der Kommission sind zwei Punkte entscheidend. Erstens: Die Unabhängigkeit der Europäischen Zentralbank darf nicht angetastet werden. Zweitens: Wenn es um europäische Angelegenheiten geht, haben Entscheidungen des EuGH immer Vorrang vor den Beschlüssen nationaler Gerichte. Es ist für die EU von strategischer Bedeutung, dass EuGH-Urteile anerkannt werden. Gesehen haben wir das zum Beispiel im Streit um die Rechtstaatlichkeit in Polen oder in der Brexit-Debatte. Gerade ein so wichtiges EU-Gründungsmitglied wie Deutschland sollte das respektieren.

Herr Gentiloni, wir danken Ihnen für das Interview.

Das Interview wurde gemeinsam mit vier anderen europäischen Zeitungen geführt.