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VW verhandelt über Schadenersatz für Hunderttausende Dieselkäufer

Im Streit um Schadenersatz für Besitzer von manipulierten Diesel-Fahrzeugen geht VW auf die Kläger zu – und ist bereit, über einen Vergleich zu verhandeln.

Das Unternehmen hat Vergleichsgespräche mit Verbraucherschützern begonnen. Foto: dpa
Das Unternehmen hat Vergleichsgespräche mit Verbraucherschützern begonnen. Foto: dpa

Im Musterprozess um mögliche Entschädigungen für Hunderttausende Dieselfahrer steigen Volkswagen und der Bundesverband der Verbraucherzentralen (VZBV) in Vergleichsgespräche ein. Das teilten VW und der VZBV am Donnerstag mit. Damit erhöhen sich die Chancen der rund 444.000 teilnehmenden Kläger in dem Verfahren am Braunschweiger Oberlandesgericht, Ansprüche gegen VW wegen des Wertverlusts ihrer Autos im Abgasskandal durchzusetzen.

„Gemeinsames Ziel von VZBV und Volkswagen ist eine pragmatische Lösung im Sinne der Kunden“, hieß es in der kurzen Mitteilung beider. Die Gespräche seien in einem sehr frühen Stadium. „Ob es zu einem Vergleich kommt, ist offen.“ Mit den jetzt begonnenen Vergleichsverhandlungen deutet der VW-Konzern zum ersten Mal an, dass auch hierzulande Entschädigungen ausgezahlt werden könnten.

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Volkswagen hatte in der Vergangenheit immer wieder betont, dass es aus Sicht des Konzerns in Deutschland und in Europa nicht zu Gesetzesverstößen gekommen sei. Mit den seit 2016 umgesetzten Software-Updates hätten die betroffenen Dieselfahrzeuge ihre Betriebserlaubnis behalten. Deutsche und europäische Kunden seien deshalb nicht zu Schaden gekommen. Der Diesel sei vor allem durch Fahrverbote in den Städten unter öffentlichen Druck geraten.

Der VW-Konzern äußert sich nicht dazu, wie hoch mögliche Schadenersatzzahlungen in Deutschland ausfallen könnten. Ein Sprecher lehnte dazu jede Stellungnahme ab. Rückstellungen für mögliche Vergleichszahlungen in Deutschland hat der Konzern noch nicht gebildet.

In den USA, wo Volkswagen die Gesetzesverstöße eingestanden hatte, musste der Wolfsburger Autohersteller für rund 600.000 betroffene Autofahrer mehr als zehn Milliarden US-Dollar an Entschädigungen bereitstellen. In Einzelfällen wurden den Käufern von größeren Fahrzeugen in den USA bis zu 40.000 Dollar von Volkswagen überwiesen. Für die Bewältigung des Skandals hat der VW-Konzern seit 2015 rund 30 Milliarden Euro an Rückstellungen gebildet.

Höhe der Entschädigung unklar

Die Zahlungen hierzulande dürften allerdings nicht so hoch wie in den USA ausfallen, weil die Autos in Deutschland weiter genutzt wurden. Die Restwerte sind dadurch entscheidend gefallen. Würde sich der VW-Konzern beispielsweise zur Zahlung von durchschnittlich 1000 Euro bereiterklären, kämen auf den Konzern zusätzliche Belastungen in Höhe eines mittleren dreistelligen Millionenbetrags zu.

Daimler hat im vergangenen Jahr an Dieselkunden in Deutschland einen Werkstattgutschein über 100 Euro ausgegeben, wenn sie ihren Wagen für ein Software-Update in die Werkstatt gebracht hatten.

Lange Zeit hatte Volkswagen die Ansprüche potenziell geschädigter Dieselkunden vehement zurückgewiesen. Einen entscheidenden Impuls für den Sinneswandel beim Autokonzern dürfte das Oberlandesgericht Braunschweig am 18. November gegeben haben.

An diesem Tag fand die zweite mündliche Verhandlung in der Sache statt. Der Vorsitzende Richter Michael Neef appellierte am Ende der Verhandlung in Richtung VW: „Sie sollten versuchen, zu einem Vergleich zu finden. Die Kunden würden es auch ihnen danken, wenn das Verfahren abgekürzt würde. Und sich vielleicht mal wieder für ein Konzernauto entscheiden.“ Einen Tag später teilte der Wolfsburger Autobauer trotzdem mit, dass für ihn „ein Vergleich bisher kaum vorstellbar ist“.

Viele Prozessbeobachter interpretierten die Ansage des Richters trotzdem als eine Art Etappensieg für die VW-Kunden und den klagenden Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV). Womöglich spielten auch Erwägungen zu Verjährungsfrage eine Rolle für VWs Entscheidung, den Einstieg in die Verhandlungsgespräche erst nach dem Jahreswechsel bekanntzugeben.

Volkswagen ist sich seiner Sache sicher, dass der Dieselbetrug in Deutschland spätestens mit dem 1. Januar 2020 verjährt ist. Schadenersatz können nach dieser Rechtsauffassung nur die Kläger der Musterfeststellungsklage bekommen. Millionen andere Dieselfahrer bleiben außen vor. Die finanziellen Konsequenzen für Volkswagen würden sich damit in deutlichen Grenzen halten. Einige Oberlandesgerichte (OLG) teilen diese Auffassung.

Volkswagen begründete den Sinneswandel mit dem „Interesse an einem zügigen Verfahren“. Der Konzern wolle sämtliche Möglichkeiten ausloten, die Musterfeststellungsklage möglichst schnell zu einem frühen Ende zu bringen, sagte ein Sprecher. Bei einem regulären Verfahren durch alle Instanzen könnte es bis zu vier Jahre dauern, bis ein finaler Richterspruch vorliege. Danach müsste noch jeder einzelne Kläger seinen eigenen Schadenersatz einklagen. Auch Volkswagen habe großes Interesse an schneller Rechtssicherheit.

Schwierig werden die anstehenden Verhandlungen auch deshalb, weil die Zahl der für die Musterfeststellungsklage registrierten Dieselkunden nach Angaben von Volkswagen nicht genau geklärt ist. So hat es dem Konzern zufolge rund 470.000 Anmeldungen, aber auch 77.000 Abmeldungen gegeben, die das zuständige Bundesamt für Justiz noch nicht vollständig verarbeitet und geprüft habe. Zudem könnte es Doppeleinträge und Anmeldungen geben, hinter denen mehrere Dieselfahrer stehen. Beide Parteien hatten daher betont, dass der Registerauszug dann für sinnvolle Vergleichsgespräche genutzt werden könne, wenn darin nur die echten Anmeldungen enthalten seien. Nachträgliche Aus- und Einträge sind nun nicht mehr möglich.

Nach vorsichtigen Schätzungen könnten zehn Prozent der Einträge Mehrfachanmeldungen oder Doubletten sein. Fast 20 Prozent der gemeldeten Fahrzeuge sind voraussichtlich erst nach September 2015 gekauft worden, also nach dem Bekanntwerden des Dieselskandals. Es ist umstritten, ob für diese Autos überhaupt Schadensersatz eingeklagt werden kann. Außerdem kommen etwa zwei Prozent der Anmeldungen aus dem Ausland. Darüber hinaus haben sich auch Käufer anderer Hersteller angemeldet.

Marco Rogert von der Kanzlei Rogert & Ulbrich ist einer der Anwälte, die den VZBV in dem Prozess vertreten. Er ist nun auch in die Vergleichsverhandlungen eingebunden. Zur Sache wollte sich Rogert gegenüber dem Handelsblatt nicht äußern, es sei strenge Vertraulichkeit vereinbart worden.

Überrascht von der Kehrtwende des VW-Konzerns ist Rogert nicht. „Die Aussagen des Richters in der letzten mündlichen Verhandlung waren eindeutig“, sagte er. Volkswagen sei wohl klar geworden, dass eine Niederlage möglich ist.

Rogert vertritt auch einige tausend Individualkläger. Auch in diesen Verfahren gebe es einen klaren Trend zugunsten der Kunden. „Die allermeisten Gerichte sprechen den Klägern Schadensersatz zu. Das gilt auch für die Oberlandesgerichte“, berichtete Rogert am Donnerstag.

Ein Risiko für Volkswagen bleibt allerdings: Selbst wenn es zu einem Vergleich kommt, können Verbraucher noch Ärger machen: „Ein etwaiger Vergleich muss gerichtlich genehmigt werden. Die Verbraucher haben nach der Genehmigung die Gelegenheit, den Vergleich zu prüfen und innerhalb eines Monats den Ausstieg aus dem Vergleich zu erklären“, erklärt Rechtsanwalt Johannes von Rüden, der selbst einige tausend Diesel-Kläger vertritt.

Die mögliche Folge wäre, dass der Vergleich den ausgetretenen Verbrauchern gegenüber nicht wirksam würde. Einzelklagen wären dann wieder möglich, da bis zum Zeitpunkt der Zustellung des Vergleichs die Verjährung gehemmt wird. „Wenn der VZBV mit VW einen zu geringen Betrag aushandelt, könnten Verbraucher diesen Weg gehen“, sagt von Rüden.

Der VZBV vertritt in dem gebündelten Verfahren die Interessen zahlreicher Dieselfahrer. Sie sehen sich nach dem Auffliegen der Abgasmanipulationen im Herbst 2015 mit zum Teil drastisch erhöhten Emissionen von Volkswagen getäuscht. In vielen Fällen fordern sie Schadenersatz wegen des gesunkenen Wiederverkaufswertes ihrer Fahrzeuge.

Außer dem Musterverfahren in Braunschweig laufen an Gerichten bundesweit weitere separate Prozesse. Mancherorts sprachen Richter den Verbrauchern Entschädigungen oder den kompletten Ersatz des Kaufpreises des Autos zu – oft wurden Ansprüche jedoch abgelehnt.

Kunden fühlen sich geprellt

Im September 2015 hatte Volkswagen nach Prüfungen von Behörden und Recherchen von Forschern in den USA Manipulationen an den Abgaswerten von Dieselautos zugegeben. Die Software bestimmter Motoren war so eingestellt, dass im tatsächlichen Betrieb auf der Straße deutlich mehr giftige Stickoxide (NOx) ausgestoßen wurden als in Tests. In den USA waren von den Manipulationen etwa 600.000 Dieselkunden betroffen.

Auch in Deutschland fühlen sich Kunden geprellt, sie klagten einzeln oder schlossen sich der Musterfeststellungsklage an. Konkrete Ansprüche müssen im Erfolgsfall in eigenen Verfahren durchgesetzt werden. In Deutschland sind etwa 2,5 Millionen Fahrzeuge des Konzerns mit dem manipulierten Motortyp EA 189 bis zum September 2015 verkauft worden, in ganz Europa rund 8,5 Millionen.

In Berlin reagierten die politischen Parteien auf die Vergleichsgespräche zwischen Volkswagen und VZBV. Der rechtspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Johannes Fechner, forderte den Volkswagen-Konzern auf, in den Diesel-Vergleichsverhandlungen mit dem Verbraucherzentrale Bundesverband (VZBV) rasch ein Angebot vorzulegen. „VW sollte jetzt nicht lange taktieren, sondern den betroffenen Verbrauchern schnell ein faires Angebot machen“, sagte Fechner dem Handelsblatt.

Dass VW jetzt zu „ernsthaften“ Vergleichsgesprächen bereit ist, sei „überfällig“ gewesen und sei für die betroffenen Verbraucher „ein guter Start ins neue Jahr“. „Die neue Musterfeststellungsklage wirkt, denn ohne den Druck der über 400.000 Musterkläger hätte sich VW nie zu Vergleichsgesprächen bereit erklärt“, so Fechner weiter.

Ähnlich äußerte sich der CSU-Rechtspolitiker Volker Ullrich. „Die Musterfeststellungsklage wirkt“, sagte Ullrich dem Handelsblatt. Das mit der Musterfeststellungsklage verbundene Ziel sei gewesen, dass Verbraucher ihre Ansprüche gemeinsam geltend machen und damit auf Augenhöhe mit den beklagten Unternehmen sind. „Im Gesetzgebungsverfahren gingen wir davon aus, dass sich ein hoher Vergleichsdruck ergeben wird, was jetzt offenkundig belegt wird“, so Ullrich .

Der Vize-Vorsitzende des Bundestags-Rechtsausschusses, Heribert Hirte (CDU), sieht die Vergleichsverhandlungen im Diesel-Verfahren indes kritisch. Es sei sicher erst einmal zu begrüßen, wenn es bei diesem komplexen Streit auch für deutsche Kunden eine „einvernehmliche Lösung“ gebe. „Dass dann aber die Hintergründe des Vorgehens der Automobilindustrie möglicherweise nie geklärt werden, ist eine Schattenseite“, sagte Hirte dem Handelsblatt.

Aus rechtspolitischer Sicht wäre es zudem wünschenswert, „wenn man erst einmal eine gerichtliche Klärung der Frage bekommen würde, ob die geltend gemachten Ansprüche verzinst werden müssen oder ob zu Lasten der Geschädigten eine Nutzungsentschädigung abgezogen werden darf“.

Als positiv wertet Hirte indes, dass in einem Vergleich das im Gesetzgebungsverfahren bemängelte Defizit der Musterfeststellungsklage, dass sie keine vollstreckbaren Titel schaffe, regelbar sei. Womöglich werde aber „eine Diskussion über die Frage wieder aufleben, warum – anders als etwa in den USA – nur die im Klageregister registrierten Geschädigten am Erfolg partizipieren dürfen“.

Die Grünen reagierten zurückhaltend auf die anstehenden Vergleichsverhandlungen. Der Fall zeige, dass es für sämtliche Beteiligte wenig attraktiv sei, die Musterfeststellungsklage tatsächlich bis zu Ende zu führen. „Das Verfahren ist in seiner konkreten Ausgestaltung mit vielen Unsicherheiten verbunden und kann per se nicht zu einem Leistungsurteil zugunsten der Verbraucher führen“, sagte die rechtspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion, Katja Keul, dem Handelsblatt. „Dabei wäre es sowohl im öffentlichen Interesse als auch im Interesse der Betroffenen, hier endlich Klarheit durch eine gerichtliche Entscheidung zu bekommen.“ Im Falle eines Vergleiches wäre „diese Chance wahrscheinlich endgültig vertan“.

Hintergrund ist, dass sich ein Gerichtsverfahren im Rahmen einer Musterfeststellungsklage lediglich mit den Grundfragen der Haftung beschäftigt und nur darüber Feststellungen treffen kann. Es kommt dabei nicht zu einem für die einzelnen Beteiligten vollstreckbaren Leistungsurteil. Im VW-Fall müssten die Käufer anschließend immer noch ihren individuellen Schaden einklagen, ohne die Unterstützung durch den Verbraucherverband.