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Die Deutsche Bahn hat ein Sylt-Problem

Für die Bahn endet das Coronajahr mit einem Rekordverlust – und wichtigen Erkenntnissen aus den Lockdown-Phasen. Pendler- und Touristenströme an Bahnhöfen bringen das System offenbar stärker ins Wanken als gedacht.

Der Urlaub ist ausgefallen – zumindest im Frühjahr. In der Zeit vom 22. März bis 19. April blieb Deutschland zu Hause. In keiner anderen Phase dieses Jahres wurde das öffentliche Leben so konsequent zurückgefahren. Nur die Bahn blieb in der Spur – mit ausgedünntem Fahrplan, aber im Stundentakt. Die Zahl der Fahrgäste sank auf unter zehn Prozent und die Bahn sammelte einen Milliardenverlust ein, aber einen positiven Nebeneffekt hatte der Lockdown dennoch: Nie zuvor konnte die Bahn so detailliert analysieren, wie flüssig der Schienenverkehr ohne Überfüllung auf Gleisen und Bahnsteigen läuft und wo die Engpässe liegen.

Die Erkenntnisse sind spannend und ernüchternd zugleich. Der Datenspezialist Refundrebel hat für die WirtschaftsWoche exklusiv beide Welten miteinander verglichen – die ohne und die mit Lockdown-Effekt. Zwei wesentliche Aspekte lassen sich erkennen. Erstens: Es gibt regelrechte Verspätungshotspots, die immer dann auftreten, wenn Geschäftsreisende und Urlauber unterwegs sind. Zweitens: Hundertprozentige Pünktlichkeit ist unmöglich – und das weiß auch die Bahn.

Ein Blick etwa auf den Bahnhof Westerland auf Sylt zeigt, welchen Druck die Fahrgäste selbst wohl auf das System ausüben. Im März und April dieses Jahres, als die Deutschen ihren Urlaub coronabedingt absagen mussten, sind die Züge auf der Insel schlagartig pünktlicher geworden. Knapp 89 Prozent der Züge verließen die Insel innerhalb eines Korridors von sechs Minuten nach geplanter Abfahrt. Im Rest des Jahres lag der Wert bei mageren 73 Prozent – so unzuverlässig war kaum ein anderer Bahnhof in Deutschland.

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Die Menschen haben also offenbar einen entscheidenden Einfluss auf die Pünktlichkeit der Züge. Viele Menschen bedeuten Gedränge am Bahnhof und in den Zügen, vor allem wenn sie mit Gepäck reisen. Verspätungen in einem Bahnhof ziehen oft auch das Gesamtsystem in Mitleidenschaft. Natürlich darf das Phänomen Sylt nicht überbewertet werden, denn Westerland ist ein Kopfbahnhof und außerdem ist die Insel nur über den Hindenburgdamm mit dem Festland verbunden. Die Geographie macht die Zu- und Ausfahrt einzigartig. Doch Sylt ist eben auch kein Einzelfall.

Deutlicher wird das Thema am Beispiel Hamburg. Auch dort sind in normalen Zeiten Urlauber unterwegs, hinzu kommen Zehntausende Pendler und Geschäftsreisende pro Tag. Kaum eine Stadt ist stärker frequentiert. Züge im Fern- und Nahverkehr fahren im Minutentakt in den Bahnhof ein. Wenn es voll wird auf den Bahnsteigen, lässt sich das auch in der Pünktlichkeit-Statistik ablesen. In der Lockdown-Phase, als die Bahnhöfe menschenleer waren, verbesserten sich die Pünktlichkeitswerte gleich um vier Prozentpunkte. Dramatischer fällt die Analyse für Altona aus. Der Start- und Zielbahnhof vieler ICE-Linien von und nach Hamburg erzielte im Lockdown eine um neun Prozentpunkte bessere Pünktlichkeitsstatistik. Ähnlich ist die Situation in Berlin Gesundbrunnen, wo wie in Hamburg-Altona viele ICE-Züge starten und ankommen.

Die Analyse der Datenspezialisten von Refundrebel zeigen auch für andere Bahnhöfe mit einer hohen Zahl von Urlaubs- und Geschäftsreisenden einen Pünktlichkeitssprung während der Lockdownphase, etwa in Niebüll in Schleswig-Holstein, wo der Autozug nach Sylt startet, oder in Garmisch-Patenkirchen in Bayern. Auch an Umsteigebahnhöfen wie Mannheim, Hannover und München fuhren die ICE- und Intercity-Züge mit weniger Fahrgäste an Bord deutlich pünktlicher ab.

Für die Deutsche Bahn ist die Problematik nicht neu. Trotzdem hat der Lockdown dazu geführt, dass der Faktor Mensch plötzlich wieder stärker in den Mittelpunkt gerückt ist. Hinter den Kulissen diskutiert man bereits, ob die Bahn die Einsteigeprozesse an den Bahnhöfen weiter entzerren müsse. Es gebe einen „Wirkungszusammenhang“ zwischen Umstiegen und Pünktlichkeit, sagte auch Infrastrukturvorstand Ronald Pofalla während eines Presse-Calls im Dezember. An bestimmten Stationen stiegen besonders viele Menschen ein oder aus, ein geplanter ICE-Stopp von zwei bis drei Minuten sei da möglicherweise zu kurz bemessen. Die Auswirkung auf die Pünktlichkeit lässt Pofalla nun „wissenschaftlich untersuchen“. Ergebnisse erwartet er im ersten Quartal 2021.

Gut möglich, dass die Deutsche Bahn den Puffer am Bahnsteig künftig erweitern wird. In anderen Ländern ist das bereits geübte Praxis, etwa in der Schweiz: Dort stehen Züge manchmal mehrere Minuten, um Fahrgästen den Umstieg von einem in den anderen Zug zu erleichtern. Inwieweit das Szenario auch nach Deutschland kommt, wird sich zeigen. Die Bahn plant jedenfalls wie die Schweiz einen Fahrplan-Takt, der Fern- und Nahverkehr noch besser aufeinander abstimmen soll.

Wie wichtig genügend Zeit am Bahnsteig ist, lässt sich besonders gut an den Flughafenbahnhöfen ablesen. Die Abfahrtspünktlichkeit an den Flughafenbahnhöfen in Köln und Frankfurt verbesserte sich während des Lockdowns um je 3,7 Prozentpunkte, in Düsseldorf um mehr als zwei Punkte. Wo keine Flugreisenden mit Koffer zur Weiterfahrt in den ICE steigen, kann es auch kaum zu Verzögerungen kommen. „Die Veränderung ist allerdings nicht so signifikant wie man es gegebenenfalls erwarten würde“, sagt Stefan Nitz von Refundrebel. Oder anders ausgedrückt: Die Fahrpläne an den Flughäfen seien „relativ gut optimiert hinsichtlich der Standzeiten, sprich: Fahrgäste haben genug Zeit zum Ein- und Aussteigen.“ Die Bahn habe dort offenbar ihre Hausaufgaben gemacht.

Eine Grundsatzfrage ist dennoch weiterhin offen: Warum fährt die Bahn mit ihren ICE- und Intercityzügen eigentlich nicht zu oder annähernd zu hundert Prozent pünktlich, wenn nichts los ist auf den Gleisen und Bahnsteigen? Die Fünf-Minuten-Pünktlichkeit im Fernverkehr stieg während des Lockdowns im Frühjahr auf rund 89 Prozent – ein Plus von sieben Prozentpunkten gegenüber dem Durchschnitt aller bisherigen Monate im Jahr 2020. Aber: Der Fahrplan wurde in der Zeit auf rund drei Viertel reduziert, Fahrgäste blieben aus und auch im Güterverkehr auf der Schiene war deutlich weniger los.

Die Bahn hat dafür eine Erklärung: „Wir haben pro Tag die Rekordzahl von etwa 1000 Baustellen auf dem deutschen Schienennetz“, sagte Michael Peterson der WirtschaftsWoche im Herbst. „Die waren auch da, als die Republik im Lockdown war – es wurde ja weitergebaut, und die Züge waren im Sommer auch wieder gut ausgelastet.“ Man arbeite weiter an der Pünktlichkeit. Es gebe aber Grenzen. „Wir haben mal eine optimale Welt durchgerechnet: eine Welt mit technisch einwandfreien Zügen, ausreichend Personal, ohne Engpässe in unseren Werkstätten“, sagte der Fernverkehrschef. „Selbst wenn bei der Deutschen Bahn alles perfekt liefe, wäre es schwer, auf eine Pünktlichkeit von 100 Prozent kommen. Es gibt jeden Tag Bahnübergangsunfälle, Notarzteinsätze und Wetterprobleme. Allein diese externen Faktoren kosten uns sieben bis acht Prozent jeden Tag.“

Nach dieser Zählung wären 93 Prozent Pünktlichkeit das Optimum auf dem Schienennetz. Die Bahn selbst sieht das deshalb auch etwas pragmatischer: „Unser Ziel sind 85 Prozent Pünktlichkeit“, sagt Pofalla. Wenn man die erreiche, „können wir eine 100-prozentige Umsteigepünktlichkeit schaffen“. Das sollte „operativ das Ziel sein“.

Mehr zum Thema: Der Zustand der ICE-Toiletten gilt als sensibler Pannenindikator der Bahn. Häufige Störungen bedeuten ein großes Verkehrschaos auf dem Netz. Report über ein systemrelevantes Örtchen.