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Chaos am Himmel – darum werden Fluggesellschaften immer unpünktlicher

Verspätungen, Ausfälle, Abfertigungschaos: Nie war Fliegen so unerfreulich wie im Sommer 2018. Schuld haben die Airlines. Aber nicht nur. Nahaufnahme einer Branche am Limit.
  • Wie die Airlines auf dem Rücken der Passagiere um Marktmacht ringen.

  • Behörden verschleppen überfällige Reformen.

  • Wer ist pünktlich, wer nicht? Kennzahlen zu Airlines und Flughäfen.

  • Was die vier größten Probleme sind – und wie sie gelöst werden könnten.

Unruhig läuft Peter G. die Straße vor seinem Haus auf und ab. Wo bleibt nur das Taxi zum Flughafen? Zusammen mit seiner Frau und den zwei Kindern will der Mitarbeiter einer Versicherung an diesem Montagmorgen nach Mallorca. Es ist die erste Flugreise der Familie seit zwölf Jahren.

Seit Tagen ist die Anspannung groß, auch weil er in den Zeitungen von all den großen Problemen und Verspätungen der Airlines gelesen hat: „Ich bin mehr als nervös und erst wieder beruhigt, wenn wir alle zu Hause sind.“ Der Rückflug in acht Tagen soll laut Plan um 22.50 Uhr in Frankfurt landen, zehn Minuten vor Beginn des Nachtflugverbots in Frankfurt. Peter G.: „Ich habe keine Lust, mit meiner Familie in Hahn zu stranden.“

Hahn, der ehemalige US-Fliegerhorst tief im Hunsrück, wird in diesen Wochen für Tausende Flugpassagiere zum Schreckensort. In Frankfurt sind nach 23 Uhr keine Starts und Landungen erlaubt, in Ausnahmen noch bis maximal 24 Uhr.

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Weil sich bei den Airlines im Laufe des Tages zunehmend Verspätungen aufbauen, muss der letzte Flug nach Frankfurt häufig zum Flughafen Hahn umgeleitet werden. Zurzeit gehen dort pro Nacht etwa vier verspätete Flüge runter. Was folgt, sind für die genervten Urlauber 125 Kilometer Busfahrt nach Frankfurt – mitten in der Nacht.

Die Sommerferien 2018 sind für alle Flugreisenden unversehens zum Abenteuerurlaub geworden, Nervenkitzel von der ersten bis zur letzten Minute garantiert: Komme ich halbwegs pünktlich hin und wieder zurück? Verpasse ich meinen Flug wegen endloser Schlangen an der Sicherheitskontrolle? Lande ich tatsächlich dort, wo ich hinwill? Muss ich nach der Ankunft noch stundenlang auf mein Gepäck warten?

Oder kann ich meine Reise womöglich gar nicht erst antreten wie neulich die 160 Passagiere in Berlin-Tegel, die 16 Stunden auf ihren Flug nach Mallorca warteten – um dann zu erfahren, dass er gestrichen wurde?

Chaos schon seit Monaten

Die ersten Fluggäste hatten sich am 10. Juli bereits um vier Uhr in der Früh in Tegel eingefunden, abgesagt wurde der Flug von Laudamotion erst am Abend. Das Flugzeug konnte aus technischen Gründen nicht von Mallorca aus starten, fehlte also in Berlin. Ein Ersatzjet kam so spät in Tegel an, dass dessen Crew nicht mehr weiterfliegen durfte, weil sie sonst die vorgeschriebene Betriebszeit überschritten hätte.

Reservepersonal gab es nicht. Flugalltag 2018. Eine Mischung aus Selbstüberschätzung vieler Airlinemanager, überzogenem Kostendruck und Verantwortungswirrwarr hat dazu geführt, dass Flugreisen immer häufiger zu Horrortrips werden.

Der subjektive Eindruck, dass seit Monaten Chaos an Europas Himmel herrscht, lässt sich durch Fakten belegen. Die Verspätungen im europäischen Luftverkehr haben sich nach Angaben des Luftfahrtverbands Iata in diesem Jahr mehr als verdoppelt. In der ersten Jahreshälfte seien die Flugzeuge pro Tag um 47.000 Minuten verspätet gewesen, ein Plus von 133 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum. Die meisten Verzögerungen beruhten auf einem Kapazitäts- und Personalmangel.

Besserung ist nicht in Sicht. Die europäische Flugsicherung Eurocontrol erwartet auch für die kommenden Jahre deutlich mehr Verspätungen im Luftverkehr. Bis zum Jahr 2040 werde sich die Zahl der um bis zu zwei Stunden verspäteten Flüge voraussichtlich versiebenfachen, warnt Eurocontrol.

Das Fluggastrechteportal EUClaim hat berechnet, dass von Januar bis Ende Juni alleine 15.571 Flüge von oder nach sowie innerhalb von Deutschland annulliert wurden – ein neuer Rekord. Im vergleichbaren Vorjahreszeitraum waren es 8.826. Rekordverdächtig sind auch andere Zahlen: 3.778 Flüge waren im ersten Halbjahr um mindestens drei Stunden verspätet, Vorjahreswert: 2.268.

Vor allem Eurowings und Lufthansa verärgern die Fluggäste

Die Schlichtungsstelle für den öffentlichen Personenverkehr (SÖP) berichtete vor wenigen Tagen über sprunghaft angestiegene Beschwerden von Fluggästen. Im ersten Halbjahr seien 7.745 Schlichtungsanträge eingegangen, 45 Prozent mehr als im entsprechenden Vorjahreszeitraum.

Vor allem Eurowings, der Billigableger von Lufthansa, hat in den zurückliegenden Wochen die Wut vieler Passagiere auf sich gezogen. Eurowings ist in Deutschland nicht nur die größte Billigairline. Die Airline steht zudem unter besonderer Beobachtung, weil sie jenseits der beiden großen Drehkreuze Frankfurt und München auch nahezu den gesamten innereuropäischen Geschäftsreiseverkehr der Lufthansa-Gruppe übernommen hat. Gerade wer zu beruflichen Terminen fliegt, ist auf verlässliche Flugzeiten und funktionierenden Service angewiesen.

So wie Achim Kammerer. Zunächst war er Senator, die zweithöchste Statusstufe im Lufthansa-Meilenprogramm Miles & More. Seit drei Jahren nun zählt er zum HON Circle. Von diesen extremen Vielfliegern mit der schwarzen Statuskarte gibt es laut Schätzungen rund 12.000. Kammerer ist Unternehmer in der IT-Branche, insgesamt arbeiten 140 Mitarbeiter in seinen Firmen.

Auf sieben bis zehn Langstreckenflüge kommt er pro Jahr, dazu kommen 50 bis 70 Kurzstreckenflüge. Er bucht immer Airlines der Lufthansa-Gruppe, notgedrungen oft auch Eurowings. Der für Kammerer nächstgelegene Flughafen ist Karlsruhe, von dort hat er gar keine Alternative zum Billigableger.

„Natürlich ist das gerade kein schöner Zustand“, sagt Kammerer. „Innerdeutsch und innereuropäisch macht Fliegen gerade keinen Spaß bei den vielen Verspätungen und Annullierungen.“ Dabei sieht Kammerer die Schuld keineswegs allein bei den Fluggesellschaften: „Es gab in letzter Zeit permanent irgendwo einen Fluglotsenstreik, dazu kam eine lang anhaltende Schlechtwetterperiode. Obendrein ist mit Air Berlin ein kompletter Carrier vom Markt verschwunden.“

Er sei noch immer sehr zufrieden mit der Lufthansa-Gruppe. „Das hängt aber natürlich auch mit meinem Status als HON zusammen.“ Bei Verspätungen oder Annullierungen wird Kammerer von einem speziellen Callcenter angerufen, das ihm alternative Reisemöglichkeiten vorschlägt. Bei einem späten Flug am Abend bekommt Kammerer schon mal einen Privatshuttle zur Passkontrolle, während alle anderen Passagiere auf der Außenposition auf den Bus warten mussten.

Problem 1: Sicherheitskontrollen

Zu Stoßzeiten kommt es an den Sicherheitskontrollen der Flughäfen immer wieder zu Wartezeiten von einer Stunde oder mehr. Bundespolizei und private Sicherheitsdienste machen sich gegenseitig für die Missstände verantwortlich. Tatsächlich verzögern aufwendige Genehmigungsverfahren die Einführung moderner Durchleuchtungsanlagen. Starre Planungszyklen erschweren es, bei Bedarf rasch zusätzliches Kontrollpersonal zu mobilisieren.

Von diesem Serviceniveau können Durchschnittspassagiere und selbst Vielflieger ohne HON-Status nur träumen. Frank Sarfeld bekam seine erste Senatorkarte 1992, damals gab es das Meilenprogramm Miles & More noch gar nicht. „Für mich war die Lufthansa immer ein Stück Heimat, man fühlte sich wohl“, sagt der ehemalige Manager und heutige Berater. Das habe sich spätestens mit dem Ausbau von Eurowings geändert: „Früher war man Fluggast, heute wird man einfach nicht mehr wertgeschätzt.“

Verschollenes Gepäck, ewige Verspätungen, dauernde Annullierungen, Chaos im Terminal D in Berlin-Tegel, nicht stattfindender Bordservice, kein erreichbarer Kundenservice – „alles, was ich vor zwei Jahren bei der Air Berlin erlebt habe, passiert hier gerade wieder“, sagt Sarfeld. „Wenn einem die Dame am Eurowings-Schalter nicht mehr sagen kann, wo die Lufthansa-Lounge ist, läuft doch irgendwas falsch.“

Manager überschätzten sich selbst

Wer den für Eurowings verantwortlichen Lufthansa-Vorstand Thorsten Dirks in diesen Tagen trifft, bekommt nach wenigen Minuten einen vielsagenden Satz zu hören: „Meine Lernkurve war steil.“ Am 1. Mai 2017 trat der vormalige Mobilfunkmanager Dirks seinen Job an – und hatte eigentlich andere Themen auf seiner Agenda, etwa die Digitalisierung der Airline.

Doch erst kam die Insolvenz von Air Berlin, und dann explodierte die Zahl der Verspätungen und Annullierungen. Plötzlich muss sich Dirks um profane Dinge wie die Sicherung des Flugbetriebs kümmern.

Am Beispiel Eurowings lässt sich gut die wichtigste Ursache für das Chaos am Himmel über Europa aufzeigen: die Selbstüberschätzung der Verantwortlichen in der Branche. Nach der Pleite von Air Berlin stürzte sich jede Fluggesellschaft auf die Lücken, die die einst zweitgrößte deutsche Airline hinterließ.

An vorderster Front natürlich Lufthansa, die den wichtigen deutschen Heimatmarkt absichern wollte. Europas größte Fluggesellschaft wollte sich große Teile von Air Berlin einverleiben, auch um die Billigrivalen Ryanair und Easyjet in Deutschland kleinzuhalten. Obwohl noch gar nicht klar war, welche Teile Lufthansa wirklich von Air Berlin bekommen würde, stellte die Lufthansa-Gruppe einen Sommerflugplan auf, für den sie alle Jets von Air Berlin benötigt hätte, die die Lufthansa übernehmen wollte.

Doch die EU-Kartellbehörde in Brüssel hatte Bedenken gegen die Übernahme der Air-Berlin-Tochter Niki durch Lufthansa. Schließlich landete die Tochter beim einstigen Niki-Gründer Niki Lauda, der daraus Laudamotion machte und die Firma anschließend an Ryanair verkaufte. Plötzlich fehlten Eurowings fest eingeplante 20 Jets für Verbindungen, deren Plätze sie schon fleißig an Passagiere verkauft hatte.

Die wurden zum Opfer eines großen Airline-Monopolys, das sich ums Besetzen von Märkten und Strecken drehte und ums Kleinhalten von Konkurrenten. Mit anderen Worten: Bei dieser Konfrontation ging es um so ziemlich alles – nur nicht um die Interessen der Kunden.

Selbst jene Flugzeuge, die Lufthansa tatsächlich von Air Berlin übernehmen durfte, bereiteten Probleme. „Die Dokumentation der Air-Berlin-Flugzeuge war nicht in dem Zustand, wie wir ihn erwartet haben. Deshalb mussten wir die länger aus dem Betrieb rausnehmen“, berichtet Oliver Wagner, Chief Commercial Officer von Eurowings.

Mangel an Jets und Ersatzteilen

In der Branche machen Erzählungen die Runde von Flugzeugakten, die auf Mandarin verfasst waren und für die Umschreibungen beim Luftfahrtbundesamt (LBA) erst übersetzt werden mussten. Als das erledigt war, fehlte es dem LBA an Personal, um die plötzliche Flut von Umschreibungen zu bewältigen. Die Ferienfluggesellschaft Condor flog jüngst sogar zwei Jets extra nach Braunschweig zum Sitz des LBA, um die Prüfung zu beschleunigen.

Zudem gingen einige der von Air Berlin geleasten Jets ins Ausland, denn als die Insolvenz publik wurde, schauten sich Leasinggeber sofort nach einer neuen Nutzung um. „Es gibt einen Mangel an Jets, auch an gebrauchten Flugzeugen“, so Wagner von Eurowings. „Selbst Ersatzteile sind knapp, etwa für Triebwerke.“ Erst vor wenigen Tagen konnte Eurowings die letzte Air-Berlin-Maschine in die eigene Flotte aufnehmen.

Den Eurowings-Passagieren verschaffte der Flugzeugmangel so manch exotisches Reiseerlebnis. Etwa, wenn sie sich zwischen Düsseldorf und Hamburg in einer Maschine von Czech Airlines wiederfanden. Die hatte sich Eurowings samt tschechischer Crew ausgeliehen, um mal wieder ein Loch im Flugplan zu stopfen.

Wie hart die Flugzeuge umkämpft sind, zeigt ein bizarrer Streit, der zwischen Lufthansa und Ryanair entbrannt ist. Lufthansa hat vor einer Woche die Mietverträge über neun Jets gekündigt, die man Laudamotion wegen einer Auflage der EU-Kommission zur Verfügung gestellt hatte.

Laudamotion habe Rechnungen nicht bezahlt, deshalb habe man das Recht, die Verträge zu kündigen. Ryanair wiederum wirft der „Hansa“ vor, die Beteiligung Laudamotion damit „zu destabilisieren und zu schädigen“. An diesem Freitag treffen sich die Kontrahenten vor einem Londoner Gericht, denn die Mietverträge legen Großbritannien als Rechtsstand fest.

Airlines buhlen um Piloten

Nicht nur Flugzeuge, auch Piloten sind weltweit knapp. Chinesische Fluggesellschaften etwa sollen ehemaligen Air-Berlin-Flugkapitänen bis zu sechsstellige Antrittsprämien bieten. Viel Geld angesichts der Tatsache, dass die Gehälter, die Eurowings im Cockpit oder auch der Kabine bietet, im Branchenvergleich nicht sonderlich hoch sind.

Ein Eurowings-Copilot steigt mit 44.000 Euro ein, ein Flugbegleiter mit 21.000 Euro pro Jahr. Nach zehn Jahren gibt es für Flugkapitäne 102.000 Euro, für die „Purser“ genannten Kabinenchefs 33.000 Euro. „Es herrscht Wettbewerb zwischen den besten Tarifverträgen“, räumt Wagner von Eurowings ein, gibt sich aber selbstbewusst: „Wir sind überzeugt, hier gut aufgestellt zu sein.“

Diejenigen Flugzeugführer von Air Berlin, die trotz der vergleichsweise niedrigen Gehälter bei Eurowings geblieben sind, müssen aufwendig umgeschult werden. Denn selbst wenn etwa ein A320-Kapitän von Air Berlin nun den gleichen Jet bei Eurowings fliegt, muss er erst die anderen Abläufe bei seinem neuen Arbeitgeber lernen und für den Einsatz zertifiziert werden. Das Gleiche gilt für das Kabinenpersonal.

Problem 2: Enge Pläne

Engpässe an den Flughäfen und bei den Fluglotsen führen dazu, dass viele Flüge ihre geplante Startzeit (Slot) verpassen und bereits beim Start verspätet sind. Da viele Flugpläne kaum Zeitreserven vorsehen, ist es kaum möglich, diese Verzögerungen wieder einzufliegen. Abhilfe schaffen können mehr Zeitpuffer im Flugplan, mehr Reserveflugzeuge und mehr Kerosin an Bord, um bei Bedarf schneller fliegen zu können.

Am Ende war die Integration von 70 Jets und 3.000 Mitarbeitern wohl schlicht zu viel. „Wir sind selbstkritisch genug, um zu sehen, dass wir bei diesem Integrationsprojekt hier und da zu ambitioniert waren“, sagte Lufthansa-Vorstand Dirks zu Wochenbeginn der „Berliner Zeitung“. Mittlerweile sieht das Lufthansa-Vorstandsmitglied immerhin erste Anzeichen der Besserung.

Tatsächlich ist das erste Ferienwochenende im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen verhältnismäßig glimpflich abgelaufen. Eurowings transportierte insgesamt 270.000 Passagiere in mehr als 2.000 Flügen. Davon mussten „nur“ noch 25 abgesagt werden. Mittlerweile habe Eurowings immerhin wieder das Verlässlichkeitsniveau der anderen Airlines erreicht, heißt es intern bei Eurowings.

Ein kleiner Trost, denn rosig sieht es bei der Konkurrenz auch nicht aus. So gab Ryanair am Donnerstag bekannt, wegen eines Streiks beim Kabinenpersonal am kommenden Mittwoch und Donnerstag 600 Flüge aus und nach Belgien, Spanien und Portugal zu streichen. Das entspricht einem Achtel aller Ryanair-Flüge an diesen beiden Tagen.

Roland Keppler empfängt seinen Gast am Flughafen Frankfurt in Jeans und weißem Hemd. Vor dem Chef der deutschen Ferienfluggesellschaft Tuifly liegt eine ganzseitige Zeitungsanzeige des Bundesverbands der Deutschen Luftverkehrswirtschaft (BDL) auf dem Tisch. „Auch der Himmel stößt mal an seine Grenzen“, lautet die Überschrift: „Wir arbeiten gemeinsam hart daran, Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit zu verbessern und das Fliegen wieder zu einem angenehmen Reiseerlebnis zu machen.“

Keppler hat an der Anzeige mitgewirkt. Er spricht von einer herausfordernden Situation: „Nicht nur die Beziehung mit den Kunden muss gesteuert werden, auch die mit unseren Mitarbeitern und die mit unserer Mutter Tui, für die wir hauptsächlich fliegen.“ Im Juni musste Tuifly in Frankfurt 23-mal eine sogenannte Spätlandung in Anspruch nehmen, also nach Beginn des eigentlichen Nachtflugverbots ab 23 Uhr.

Dabei hat die Airline anders als Eurowings gar keine Flugzeuge und Crews von Air Berlin übernommen. Und doch leidet auch Tuifly unter den Folgen der großen deutschen Airline-Insolvenz. Denn es fehlt die Möglichkeit, sich bei Bedarf Ersatzflugzeuge und -crews zu beschaffen. „Der Markt ist leer, es gibt keine Reserven, die man gegebenenfalls kurzfristig einkaufen könnte – zumindest nicht, wenn man konsequente Sicherheitsstandards ansetzt. Und da machen wir absolut keine Abstriche“, so Keppler.

Ein ernstes Problem, denn gerade im ersten Sommer nach der Air-Berlin-Pleite sind die Flugzeiten besonders eng getaktet. Um die begehrten Start- und Landerechte (Slots), die sie von Air Berlin bekommen haben, nicht wieder zu verlieren, müssen die Fluggesellschaften diese bedienen. Da aber Fluggerät und Crews knapp sind, geschieht das weitgehend mit dem bestehenden Personal.

Verspätungen und Flugausfälle sind die nahezu zwangsläufige Folge – da ist es wieder, das ebenso branchenübliche wie schäbige Monopolyspiel auf dem Rücken der Kunden.

Auch die zum Reisekonzern Thomas Cook gehörende Fluggesellschaft Condor versucht mit allen Kräften, das Verspätungsproblem in den Griff zu bekommen. Jeden Morgen bekommt das Management die aktuellen Performancedaten. Die wichtigsten Kennzahlen darin: die Pünktlichkeit, ausgedrückt in der „on-time performance“ (OTP), sowie die sogenannten „aircraft on ground“ (AOG) – also Flugzeuge, die nicht fliegen können.

Im Juni war Condor die Fluggesellschaft, die mit 51 Spätlandungen am Frankfurter Flughafen am häufigsten von der Ausnahmeklausel Gebrauch machen musste. Ein Thema für die vor drei Monaten gegründete „Verspätungs-Taskforce“, die direkt an Condor-Chef Ralf Teckentrup berichtet.

Es hakt nicht nur bei den Airlines

Das Condor Control Center in Frankfurt verrät viel über die Komplexität des Fliegens. Dieser Raum ist die Leitzentrale, von der aus die Ferienfluggesellschaft ihre Jets und Abläufe steuert. Rund ein Dutzend Mitarbeiter arbeitet hier an diesem Vormittag. Vorne rechts ist das Crew-Center, dort werden die Besatzungen der Flugzeuge gemanagt. Dahinter befindet sich das Ground-Handling-Center.

Es verantwortet die Passagierservices sowie die Bodendienste an den verschiedenen Flughäfen weltweit. Links davon verrichtet das Maintenance Control Center seine Arbeit und überprüft zum Beispiel ständig den technischen Zustand der Jets. Der Dispatcher kümmert sich um die Rahmenbedingungen eines Flugs, etwa das Wetter, die Flugroute oder sonstige Besonderheiten. Der Verkehrsleiter schließlich empfiehlt eine Flugroute und hält den Kontakt zum Cockpit.

Auf einem seiner vier Bildschirme kann er mit einem Blick den aktuellen Flugstatus sehen, auch Verspätungen. „Heute ist es etwas ruhiger“, sagt Verkehrsleiter Torsten Pehns, der Leiter der Verkehrszentrale. Die allermeisten Rechtecke – sie stehen für einen Flug – sind blau, was so viel bedeutet wie, dass alles so weit passt. Zwei gelbe Rechtecke stechen ins Auge. „Das sind Flugzeuge, die werden im Laufe des Tages möglicherweise Verspätungen aufbauen, das müssen wir im Auge behalten“, sagt Pehns.

Pehns ist Mitglied der Verspätungs-Taskforce. Die hat an vielen Stellschrauben gedreht, um die Verspätungen in den Griff zu bekommen. Eine der Maßnahmen: Die Reserve hat Condor von vier auf sechs Jets aufgestockt. „Einen davon werden wir heute wohl auch brauchen“, sagt Pehns und zeigt auf ein oranges Rechteck: „Dieses Flugzeug hat ein technisches Problem, da werden wir eine Ersatzmaschine einsetzen.“

Eine andere Maßnahme: Die Flugzeuge in Frankfurt nehmen von vornherein mehr Sprit auf. „Wenn wir Verspätungen aufholen können, sagen wir den Piloten, dass sie schneller fliegen sollen. Das kostet dann zwar mehr Kerosin, aber wir sind pünktlich“, so Pehns.

Dennoch gibt es immer wieder Tage, da wird es im Condor Control Center hektisch. „Es gibt so viele Faktoren, die Einfluss auf einen Flug haben“, sagt Pehns und kramt eine aktuelle Statistik heraus.

Zwischen Januar und Mai wurden am Frankfurter Flughafen 1.258 Flüge witterungsbedingt abgesagt, verglichen mit nur 674 im Vorjahreszeitraum. An 22 Tagen war der Verkehr in Europa durch Lotsenstreiks beeinträchtigt, die Verspätungen summierten sich auf über eine Million Minuten. Im gleichen Zeitraum des Vorjahres hatte es neun Streiktage gegeben, mit einer addierten Verspätung von rund 319.000 Minuten.

Problem 3: Flugsicherung

Nach dem Start müssen sich Flugzeuge an vorgegebene Luftrouten halten, die wiederum von Fluglotsen überwacht werden. In bestimmten Kontrollzonen kommt es dabei immer wieder zu Verzögerungen, als besonders anfällig gelten Karlsruhe und Marseille. Abhilfe schaffen könnten mehr Fluglotsen und ein einheitlicher europäischer Luftraum, in dem Flugzeuge nicht mehr an jeder Grenze von einer nationalen Flugsicherung an die nächste übergeben werden.

Vor allem Engpässe bei den Lotsen sind laut Pehns ein wichtiges Thema im Condor Control Center – auch an diesem Tag. Mehrere Rechtecke sind mit einem roten Strich gekennzeichnet. „Das sind Slot-Verschiebungen, also eine Verschiebung eines Starts durch die Flugsicherung“, erklärt Pehns. Einer der größten Engpässe sei der Korridor über Karlsruhe, einer der zentralen „Autobahnen“ für Jets gen Süden.

Dort wird der sogenannte obere Luftraum kontrolliert. Da es in Karlsruhe wieder zu Personalengpässen kommt, werden Kontrollsektoren zusammengelegt, was wiederum die Zahl der Jets verringert, die den Karlsruher Korridor durchfliegen können. Mit einer Verspätung von insgesamt 21.396 Minuten war dieser Bereich laut Daten von Eurocontrol im Juni in Europa der traurige Spitzenreiter, gefolgt von der Region über Marseille mit 16.410 Minuten.

Über die Flugsicherung in Marseille, die häufig streikt, laufen besonders viele Flüge. Laut dem größten europäischen Luftfahrtverband A4E (Airlines for Europe) sollen die Streiks von Fluglotsen in Frankreich in diesem Jahr Grund für 5.000 Flugausfälle und viele Verspätungen gewesen sein. Einem Bericht des französischen Senats zufolge, der im Juni veröffentlicht wurde, ist somit allein Frankreich verantwortlich für 33 Prozent der Verspätungen im gesamten Flugverkehr in Europa.

Die Nerven liegen blank

„Alle Flüge etwa nach Mallorca und Spanien gehen über Frankreich“, benennt Eurowings-Manager Wagner das Problem. „Ich bin da wenig zuversichtlich, dass sich die Situation bis Ende des Sommers verbessern wird.“

Matthias Maas, Bundesvorsitzender der Gewerkschaft der Flugsicherung (GdF), sieht hingegen nicht streikende Lotsen als Hauptursache des Problems, sondern Personalmangel im Tower. Gerade hat er einen Brandbrief an die Geschäftsführung der Deutschen Flugsicherung (DFS) geschrieben. Sicher gebe es einen Personalmangel, heißt es darin.

Die DFS habe es aber in „fahrlässiger Weise“ versäumt, die Ausbildungskapazitäten wieder zu steigern. Auch die Airlines bekommen ihr Fett weg. Die hätten in der Vergangenheit viel zu sehr auf immer geringeren Gebühren bestanden, beklagt Maas: „Man kann nun mal nicht alles haben: billiger fliegen, aber gleichzeitig einen besseren Service durch noch mehr Mitarbeiter und mehr Kapazität durch neue Flugsicherungssysteme erwarten. So gesehen ernten Herr O’Leary und all seine CEO-Kollegen derzeit genau das, was sie in den letzten fünf bis acht Jahren gesät haben.“

Den Brief wiederum will die DFS nicht unkommentiert stehen lassen. Zum einen verweist DFS-Chef Klaus-Dieter Scheurle schon länger auf ein grundlegendes Problem: Die Harmonisierung der europäischen Flugsicherung werde nicht umgesetzt. Zum anderen sei das Personal der DFS durchaus ausreichend gewesen für das Verkehrsaufkommen bis zum Jahr 2016. Aber die stark gestiegene Nachfrage seit 2017 habe alle überrascht, auch die Airlines.

Dem geplagten Passagier helfen diese wechselseitigen Schuldzuweisungen zwischen Fluggesellschaften, Gewerkschaften und Flugsicherung herzlich wenig. Sie zeigen vor allem, wie blank die Nerven inzwischen bei allen Beteiligten liegen.

Das gilt auch für das Thema Sicherheitskontrollen. Die sind an den Flughäfen häufig völlig überlastet und sorgen dafür, dass ein pünktlicher Flug die Passagiere bisweilen noch mehr stresst als ein leicht verspäteter – weil dann in der endlosen Kontrollschlange nur noch Drängeln oder Betteln hilft, um pünktlich ans Gate zu kommen.

Die Kontrolle von Passagier und Handgepäck ist eine hoheitliche Aufgabe, zuständig ist die Bundespolizei. Die beauftragt wiederum meist Sicherheitsfirmen mit der Durchführung der Kontrollen. Das Problem: Der Bedarf wird recht starr und mit viel Vorlauf geplant, eine Reaktion auf kurzfristig anschwellende Passagierzahlen ist fast unmöglich.

Hinzu kommt: Das Kontrollgerät entspricht häufig nicht dem Stand der Technik, weil die behördliche Freigabe für technologische Innovationen, die an anderen Flughäfen in Europa längst genutzt werden, zu lange dauert. Längst gibt es zum Beispiel Abfertigungsanlagen, bei denen mehrere Passagiere gleichzeitig ihr Handgepäck aufs Band legen können, was den Durchsatz pro Kontrollstelle enorm erhöht.

An deutschen Flughäfen ist seit Einführung des Bodyscanners nicht mehr viel passiert. Wenn dann der Flughafen auch noch stoisch behauptet, die Wartezeit an der Sicherheitskontrolle betrage momentan 30 Minuten, die Bundespolizei aber gleichzeitig von einer Stunde Wartezeit spricht (so geschehen 2017 in Hamburg), dann eskaliert beim Schlange stehenden Passagier endgültig der Frustpegel. Zumal auch in diesem Bereich alle Verantwortlichen vor allem damit beschäftigt zu sein scheinen, sich gegenseitig die Schuld zuzuweisen.

So mahnte die Bundespolizei kürzlich die Düsseldorfer Sicherheitsfirma Kötter ab, unter anderem weil die zu wenig Personal an den Kontrollstellen vorhalte. Wenige Tage später schlug der Bundesverband der Luftsicherheitsunternehmen (BDLS) zurück und beklagte öffentlich die kurzsichtige Planung durch die Auftraggeber – also die Bundespolizei.

„Niemand ist glücklich über die Situation“, sagt Ernst G. Walter, der Bundesvorsitzende der Bundespolizeigewerkschaft (DPoIG): „Wir sollten endlich aufhören, den Schuldigen zu suchen. Wir müssen das System ändern, das ist der einzige Weg.“ Tatsächlich prüft das Bundesinnenministerium gerade, ob mehr Verantwortung für die Kontrollen an die Flughäfen delegiert werden kann. Doch das wird dauern.

Problem 4: Abfertigung

Endlich ist der Passagier am Ziel – und dann kommt erst keine Treppe ans Flugzeug, dann lässt der Bus auf sich warten, und dann ist auf dem Gepäckband stundenlang kein Koffer zu sehen. Hauptursache: Personalmangel. Für die anstrengenden und meist schlecht bezahlten Jobs auf dem Rollfeld lassen sich kaum noch Leute finden. Ausweg: bessere Bezahlung, finanziert durch höhere Abfertigungsgebühren für die Fluggesellschaften.

Über all dem steht ein Kernproblem: die enorme Fragmentierung des Luftverkehrs, gepaart mit beinharter Konkurrenz und entsprechendem Kostendruck. Die Passagiere wollen so günstig fliegen wie möglich. Also versuchen die Fluggesellschaften, überall an der Kostenschraube zu drehen – beim eigenen Personal, aber auch, indem sie Druck auf Partnerfirmen ausüben. Flughäfen, Flugsicherung, Dienstleister. Alle sollen ihre Kosten und Gebühren senken.

Die Folge: Es fehlt an Personal. Boden-Dienstleister etwa haben große Probleme, Mitarbeiter für die Arbeit auf dem Vorfeld zu finden. „Für das Geld ist keiner bereit, bei Wind und Wetter Gepäck zu verladen“, berichtet ein Airportmanager frustriert. So kann es passieren, dass ein Flug abends verspätet reinkommt, aber nicht mehr ausreichend Mitarbeiter zum Entladen bereitstehen.

Auch hier eskalierte das Problem im Sommer 2017 in Hamburg: Über eine Stunde dauerte es, bis die Passagiere nach der Landung ihr Gepäck hatten. Eine Maschine konnte gar nicht im vorgesehenen Zeitfenster entladen werden und nahm das Gepäck der entgeisterten Passagiere kurzerhand wieder mit zurück nach Barcelona.

Endlosschlangen bei den Sicherheitskontrollen, Chaos in den Flugplänen, Personalmangel im Tower, Überlastung bei der Gepäckausgabe. Ja, gibt es denn beim Fliegen nichts mehr, was reibungslos funktioniert? Doch, gibt es.

Die Profiteure des Chaos

Im Bereich Kundenbetreuung am Hauptsitz des Flugrechteportals EUClaim im niederländischen Arnheim sind am Dienstagvormittag dieser Woche nur zwei von sechs Arbeitsplätzen besetzt. Dabei herrscht hier gerade Hochbetrieb – lautlos und vollautomatisiert.

EUClaim arbeitet mit seinen 45 Angestellten ebenso wie andere Flugrechteportale, die Flightright oder Fairplane heißen und Passagieren gegen eine satte Provision jene Entschädigungszahlungen verschaffen, die ihnen bei Verspätungen oder Flugausfällen zustehen. Diese Portale sind die großen Profiteure des Chaos am Himmel. Auf deren Internetseiten können Passagiere Flugnummer und Datum eingeben und binnen Sekunden einsehen, ob sie einen Entschädigungsanspruch haben.

Möglich gemacht wird dieses Geschäftsmodell erst durch die nonchalante Zermürbungstaktik, mit der Fluggesellschaften ihren angeblich so geschätzten Kunden die rechtmäßige Entschädigung vorenthalten. Wer Mitte Juni per E-Mail einen Entschädigungsanspruch bei Eurowings geltend machte, bekam die automatisierte Antwort („do not reply“), dass die Bearbeitungszeit sechs Wochen betragen könne.

Ein mitgeschickter Link, über den Entschädigungsansprüche angeblich per Onlineformular geltend gemacht werden können, scheint nur eine einzige Antwort zu kennen: „Leider konnten wir zu Ihren Flugdaten keine passende Buchung in unserem System finden.“

„92 Prozent unserer Kunden haben es vorher bei der Airline versucht und haben eine Absage bekommen“, sagt Stefanie Müller von Flightright.

Laut der EU-Verordnung 261/2004 haben Passagiere bei einem Ausfall oder bei einer Verspätung ab drei Stunden einen Anspruch auf Entschädigung – aber nur, wenn die Fluggesellschaft etwas dagegen hätte unternehmen können. Oft ist das Auslegungssache.

Bei einem unvorhergesehenen Unwetter zum Beispiel muss die Airline nicht zahlen. Wenn aber über einem Flughafen Nebel liegt, ist das noch nicht direkt „höhere Gewalt“, mit der sich die Airlines häufig herausreden. Vielleicht ist der Nebel dort zu der Jahreszeit zu erwarten – dann hätte die Fluggesellschaft bei der Flugplanung Puffer einkalkulieren müssen, die Verspätung ist ihre Schuld.

Ob Passagiere einen Anspruch haben oder nicht, wird anhand einer Datenbank festgelegt. Dafür ist bei EUClaim Paul Vaneker verantwortlich. Er analysiert alle Flug- und Wetterdaten. Die Muttergesellschaft Lennoc Flight Intelligence, die ebenfalls am Standort in Arnheim sitzt, sammelt die Daten für EUClaim. „Wir bekommen von der World Meteorological Organization 1,2 Millionen Wettermeldungen pro Tag“, sagt Lennoc-Geschäftsführer Hendrik Noorderhaven. Bei Datenanalyst Paul Vaneker läuft all das zusammen.

Airlines wehren sich gegen Flugrechtportale

Schräg hinter seinem Arbeitsplatz geht es zu ein paar Glastüren, verziert mit Aufklebern von kleinen Flugzeugen. Die Juristen, die hinter den Glastüren sitzen, brauchen ihre Ruhe. Einen Großteil der Forderungen begleichen die Fluggesellschaften freiwillig, sobald sie merken, dass sie es nicht mit einem wehrlosen Passagier, sondern mit einem Flugrechteportal zu tun haben.

Aber mittlerweile muss EUClaim in den Niederlanden zwanzigmal pro Woche vor Gericht. Für 40 Prozent der mehr als 30.000 Ansprüche von Passagieren muss EUClaim rechtliche Schritte einleiten. „Wir hätten niemals gedacht, dass die Fluggesellschaften so sehr zurückschlagen würden“, sagt Lennoc-Geschäftsführer Noorderhaven.

Bei der Entschädigung gibt es auch kompliziertere Fälle, weil manche Fluggesellschaften Flüge verkaufen, die Maschine und die Crew aber von einer anderen Airline gestellt werden. Auf dem Ticket steht dann „ausgeführt von“. Wenn so ein Flug ausfällt, gibt es Streit, wer die Entschädigung zahlt. Vor Kurzem hat der Europäische Gerichtshof (EuGH) geurteilt, dass die anbietende Gesellschaft, nicht die ausführende, zahlen muss. „Das macht uns das Leben leichter“, sagt Paul Vaneker.

Konflikte gibt es dennoch genügend mit den Airlines. 2016 wollte die irische Linie Ryanair in ihrem Kleingedruckten ihren Kunden sogar verbieten, Rückerstattungsansprüche an Dritte abzutreten. Damit wäre das Geschäftsmodell von Fluggastrechteportalen gefährdet gewesen. Ryanair hat das Verfahren verloren. Kein Wunder, dass die Airlinelobby in Brüssel nun alles versucht, um die Entschädigungsregel aufzuweichen.

Der geplagte Passagier kann sich nur wünschen, dass die EU hart bleibt, schließlich sind die spürbaren Entschädigungen ein wichtiger Ansporn für die Fluggesellschaften, sich um mehr Pünktlichkeit zu bemühen.

Die Experten von EUClaim haben errechnet, dass alleine bei Flügen von und nach sowie innerhalb von Deutschland seit Januar bis Ende Juni Entschädigungsansprüche von fast einer halben Milliarde Euro aufgelaufen sind. Dabei sei berücksichtigt, dass mehr als 50 Prozent der Flüge nicht entschädigungsfähig seien, weil höhere Gewalt eine Rolle gespielt habe, so EUClaim.

Hinzu kommen zusätzliche interne Kosten durch Verspätungen und Ausfälle. Neue Flugpläne müssen erstellt werden, kurzfristig Gerät und Crew angeheuert werden. Eine von Piloten dem Handelsblatt zugespielte Übersicht listet die „operativen Verspätungskosten“ gestaffelt nach Flugzeugtyp und Verspätungsdauer auf.

Enorme Extrakosten bei Verspätungen

Bei einem Mittelstreckenjet des Typs A320, der drei Stunden Verspätung hat, kommen je Flug schon mal gut 58.000 Euro Extrakosten zusammen. Bei einem Langstreckenflugzeug wie der Boeing 747-400 steigt dieser Wert je Flug auf rund 194.000 Euro.

Angesichts solcher Zahlen sollten eigentlich alle in der Luftfahrtbranche ein gemeinsames Interesse haben, die Engpässe möglichst schnell zu beheben.

Vielleicht beschleunigt es die Veränderungsprozesse ja, wenn häufiger mal Spitzenpolitiker am Flughafen hängen bleiben. So wie Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU), die am Dienstag twitterte: „@Lufthansa_DE Ständig werden Flüge annulliert, letzter Flug nach Berlin heute – was ist los? So vergrault man sich seine Kunden.“

Die Antwort der Lufthansa, kleiner Trost für alle geplagten Normalkunden, zeugt immerhin nicht von einem übertrieben großen Promibonus für Klöckner: „Tut mir leid zu hören, dass Sie von einer Flugstreichung betroffen sind. Wenden Sie sich bitte an meine Kollegen am Flughafen, oder rufen Sie im Servicecenter an, damit Sie umgebucht werden können.“

Rückübersetzt aus dem Kundenservicejargon heißt das so viel wie: Frau Ministerin, sehen Sie zu, wo Sie bleiben!

Mitarbeit: Mona Fromm, Tanja Kuchenbecker, Christian Rickens, Christian Wermke