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BDI-Präsident Russwurm: „Eine Abgrenzung von China wäre schädlich“

Der neue BDI-Präsident warnt im Interview vor einer Ausweitung des Lockdowns auf die Industrie. In die neue US-Regierung setzt Siegfried Russwurm große Hoffnungen.

Der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, hält Forderungen nach einer Ausweitung des Lockdowns für falsch. „Was das komplette Runterfahren bringen würde, ist völlig unklar. Keiner weiß, ob es überhaupt dazu beiträgt, das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen. Doch der Schaden wäre gewaltig“, sagte Russwurm dem Handelsblatt.

Wenn die Produktion für drei oder vier Wochen stillgelegt würde, müsste man die gleiche Zeit für das Hochfahren verwenden. „Dann reden wir ganz schnell über eine negative Wachstumszahl des BIP für das Gesamtjahr“, warnte Russwurm. Solche Strategien seien nicht sehr realitätsnah und würden „erhebliche Kettenreaktionen in ganz Europa auslösen“, sagte Russwurm.

Mit Blick auf die Wachstumsprognose des BDI vom Jahresbeginn in Höhe von 3,5 Prozent äußerte sich der langjährige Siemens-Manager zurückhaltend: Man halte an der Prognose fest, „wenn unsere internationalen Lieferketten halten, die EU-Binnengrenzen offen bleiben und die Produktion in den Industriebetrieben weiterläuft“, sagte er. „Klar ist: Angesichts des Infektionsgeschehens in Europa ist unsere Einschätzung fragil“, ergänzte Russwurm.

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Der BDI-Präsident wies Forderungen zurück, der Westen müsse sich von China abgrenzen. Ein solches „Decoupling“ sei „weder politisch noch ökonomisch ein überzeugender Ansatz“. Die Abgrenzung von einzelnen Wirtschaftsräumen sei schädlich. „Deshalb müssen wir miteinander Probleme ansprechen und lösen“, sagte Russwurm. Im Übrigen sei auch China abhängig vom Rest der Welt.

Russwurm verteidigte das Investitionsabkommen, das die EU Ende vergangenen Jahres mit China geschlossen hatte. Die Einigung sei überfällig gewesen, beide Seiten hätten sich bewegt. „Allein die Tatsache, dass China zugelassen hat, die Themen Menschenrechte und Arbeitnehmerrechte in das Abkommen aufzunehmen, stellt etwas grundsätzlich Neues dar“, sagte Russwurm.

Er begrüßt die Bemühungen der EU, Europa bis 2050 zum ersten klimaneutralen Kontinent zu machen. „Klimaschutz ist keine europäische Marotte, sondern es gibt einen breiten Konsens und ein ungemein attraktives wirtschaftliches Potenzial“, sagte er.

Allerdings müsse sich die Politik viel stärker um die Wege zum Ziel kümmern. „Es hilft niemandem, wenn Brüssel immer neue Zwischenziele setzt und die Latte noch ein Stück höher legt. Wir müssen jetzt darüber sprechen, wie den am stärksten betroffenen Branchen geholfen werden kann und die notwendigen Investitionen finanziert werden sollen“, sagte Russwurm.

„Es würde niemandem helfen, den Kern der Industrie in seinem Bestand zu gefährden. Im Gegenteil: Die Welt schaut genau hin, wie wir den Weg in Richtung Klimaneutralität bewältigen. Andere Länder werden nur folgen, wenn wir dabei erfolgreich sind“, sagte Russwurm.

Lesen Sie hier das gesamte Interview:

Herr Russwurm, Kanzleramtsminister Helge Braun schlägt vor, die Schuldenbremse befristet auszusetzen, um in den kommenden Jahren zur Bekämpfung der Pandemiefolgen mehr Geld zur Verfügung zu haben. Ist das ein vernünftiger Vorschlag?
Die Aufgaben für die Wirtschaft und den Staat werden in den kommenden Jahren nicht weniger. Wir müssen die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie bewältigen, brauchen Investitionen und Innovationen, etwa für Klimaschutz und Digitalisierung. Das alles kostet Geld. Deutschland muss möglichst schnell raus aus dem Krisenmodus und rein in den Wachstumsmodus.

Sie hätten also keine Einwände, die Schuldenbremse für einen längeren Zeitraum auszusetzen?
Der Kanzleramtschef hat in seinem Gastbeitrag für Ihre Zeitung doch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass höhere Steuern und Sozialabgaben oder der Verzicht auf wichtige Investitionen für Wirtschaft und Gesellschaft eine Belastung wären – und eben nicht zu mehr Wachstum führten. Die Schuldenbremse an sich steht nicht infrage.

Das heißt?
Es fehlen allein öffentliche Investitionen von mindestens einem halben Prozentpunkt der Wirtschaftsleistung – also gut 20 Milliarden Euro pro Jahr. Und auch für die Investitionen der Unternehmen braucht es ein passendes Klima. Die Schuldenbremse ist aktuell ausgesetzt. Für einen überschaubaren Zeitraum erzwingt das die Pandemie. Entscheidend ist, wofür Kredite verwendet werden, also wie das Geld eingesetzt wird. Und von Anfang an muss klar sein, wie die Schulden wieder abgebaut werden.

Vor allem in der Union gibt es viele, die davor warnen, dass sich Deutschland vom Pfad der finanzpolitischen Tugend verabschieden würde und die Lasten einer solchen Politik von den nachfolgenden Generationen bezahlt werden müssen. Sind das für Sie keine guten Argumente?
Ich verstehe die Sorge, durch den kurzfristigen Verzicht auf die Schuldenbremse könnten die Schleusen für alle Bereiche weit geöffnet werden. Das wäre falsch. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass im Himmel jetzt Jahrmarkt ist und wir uns alles leisten können. Es braucht die richtige Balance zwischen Ausgaben und Einnahmen.

„Wir haben einen immensen Investitionsstau in Deutschland“

Stimmt die Balance bei der deutschen Industrie? Bei Ihrem Antritt als neu gewählter BDI-Präsident vor drei Wochen haben Sie gefordert, es muss Investitionen geben, Steuern dürfen nicht erhöht werden und am besten gibt es noch eine Unternehmensteuerreform. Da ist doch im Himmel Jahrmarkt, oder?
Schauen wir auf die Zusammenhänge: Wir haben einen immensen Investitionsstau in Deutschland. Den löst man mit öffentlichen und privaten Investitionen auf. Wenn die Unternehmen investieren sollen, sind höhere Steuern Gift. Ein Unternehmen richtet seine Entscheidung, wo in der Welt neue Fabriken und Arbeitsplätze entstehen sollen und wo nicht, auch nach der Steuerlast aus. Das mag mancher für verwerflich halten. Für den Bundesfinanzminister ist es aber wichtig. Im internationalen Standortwettbewerb möglichst gut abzuschneiden ist ein Gebot der Klugheit.

Was würde den Unternehmen denn kurzfristig helfen?
Der BDI hat der Politik die Ausweitung des steuerlichen Verlustrücktrags vorgeschlagen. Das würde Unternehmen bei der Liquidität helfen und Wertschöpfung und Arbeitsplätzen hierzulande zugutekommen.

Funktionieren die Wirtschaftshilfen, die die Bundesregierung den Unternehmen anbietet?
Dass die Hilfe so schleppend anläuft, liegt an IT-Plattformen und komplizierten Auszahlungsbedingungen. Keiner macht Bund und Ländern einen Vorwurf, dass das nicht sofort geklappt hat. Wir haben alle noch keine Pandemie erlebt. Aber Fehler müssen rasch behoben werden, damit Hilfsgelder fließen. Sonst läuft den Unternehmen die Zeit weg.

Gilt das auch für die restriktiven Beihilferegeln der EU, die die Auszahlung größerer Summen verhindern?
Wenn in der aktuellen Krisensituation Hilfen für deutsche Firmen durch Brüssel wegen des EU-Beihilferahmens blockiert werden, ist das kaum nachvollziehbar. Grundsätzlich sind Mahnungen aus Brüssel auf ausbleibende Reformen nicht neu und auch nicht unbedingt immer falsch. Jede Bundesregierung sollte daran arbeiten, den Standort fit zu halten.

Die Pandemielage verdunkelt zunehmend die konjunkturellen Aussichten. Bleibt der BDI bei seiner Wachstumsprognose von 3,5 Prozent für das laufende Jahr?
An den 3,5 Prozent halten wir fest, wenn unsere internationalen Lieferketten halten, die EU-Binnengrenzen offen bleiben und die Produktion in den Industriebetrieben weiterläuft. Klar ist: Angesichts des Infektionsgeschehens in Europa ist unsere Einschätzung fragil.

Die Industrie ist von den Lockdown-Maßnahmen nicht direkt betroffen. Nun gab es aber bei Airbus in Hamburg einen Corona-Ausbruch. Welche Konsequenzen wird das haben?
Es ist keine Frage, natürlich erkranken auch in Betrieben tätige Menschen an Corona. Aber zu den Fakten: Dort am Standort Hamburg gibt es rund 12.000 Mitarbeiter. Darunter 21 Covid-Infizierte, etwa 500 wurden sofort in Quarantäne geschickt. Das zeigt, wie schnell das Unternehmen die Lage im Griff hatte. Es gibt akribische Planungen und rasche Notfallmaßnahmen zur schnellen Eindämmung, und die haben sich dort offenkundig bewährt.

Von der Forderung der Zero-Covid-Initiative, alles für drei Wochen dichtzumachen, um die Infektionszahlen nach unten zu prügeln, halten Sie nichts?
Genau. Was das komplette Runterfahren bringen würde, ist völlig unklar. Keiner weiß, ob es überhaupt dazu beiträgt, das Infektionsgeschehen in den Griff zu bekommen. Doch der Schaden wäre gewaltig. Wenn jemand drei oder vier Wochen die Produktion stilllegen will, braucht es danach mindestens noch mal so lange, um sie wieder hochzufahren. Dann reden wir ganz schnell über eine negative Wachstumszahl des BIP für das Gesamtjahr. Wirtschaft ist nun mal mit all der Logistik und den Zulieferern komplex. Und die Versorgung mit wichtigen Produkten muss auch in einer Krise gewährleistet werden. Solche Strategien sind nicht sehr realitätsnah und würden zudem erhebliche Kettenreaktionen in ganz Europa auslösen.

„In den Unternehmen wird breitflächig Homeoffice angeboten“

Praktisch umsetzbar wäre doch aber ein Anstieg der Homeoffice-Rate. Die ist doch noch immer zu gering.
Homeoffice wird in den Unternehmen großflächig umgesetzt, und das ist in der ernsten Lage gut so.

Der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin haben also völlig umsonst an die Arbeitgeber appelliert, mehr Homeoffice anzubieten?
In den Unternehmen wird breitflächig Homeoffice angeboten. Ich kann nicht ausschließen, dass es irgendwo einen Chef oder eine Chefin gibt, die das anders halten. Aber ganz überwiegend sind die Büros leer und ist es auf den Fluren still. Homeoffice geht allerdings auch nicht überall.

Was geht denn nicht von zu Hause aus, außer der Produktion?
Nehmen Sie die Entwicklung komplexer Systeme. Da müssen die Entwickler im wahrsten Sinne des Wortes auch mal etwas begreifen und am Prototyp vor Ort sein. Deshalb ist es richtig, dass die Betriebsparteien das vor Ort regeln, denn die können das am besten.

Wie bewerten Sie die Probleme bei der Impfstoffbeschaffung?
Wenn mir einer im April vergangenen Jahres gesagt hätte, dass es heute zwei zugelassene Impfstoffe gibt, ich hätte es nicht geglaubt. Es ist viel erreicht worden. Und ja, es hat gerumpelt am Start. Nun muss die EU und müssen Bund und Länder alles tun, damit das Impfen bald reibungslos funktioniert und Tempo reinkommt.

„Der Westen muss eine gemeinsame Agenda entwickeln“

Während wir in Deutschland und im Rest Europas noch tief in der Krise stecken, schaut China optimistisch nach vorn und vermeldet sogar für 2020 Wachstum. Was machen die Chinesen besser?
Die Chinesen haben sich ihren aktuellen Vorsprung mit einer Einschränkung von Freiheitsrechten erkauft, die ich mir für die westliche Welt nicht wünsche. Ist das ein Modell für unser Gemeinwesen, für unser Verständnis von Freiheit? Ich glaube, nein.

Der Vorsprung Chinas wächst. Bereitet Ihnen das Sorgen?
Den Vorsprung Chinas beim Wachstum gegenüber dem Rest der Welt sehen wir ja nicht erst im Pandemiejahr. Das ist ein Trend, der durchaus Sorgen machen kann. Chinas Gewicht in der Weltwirtschaft nimmt zu, das der westlichen Länder ab. Auch das ist ein Grund, warum wir bei uns selbst mehr auf Wachstum setzen müssen, im Übrigen jetzt auch unbedingt wieder auf entschlossene transatlantische Zusammenarbeit. Äquidistanz zu USA und China wäre grundverkehrt.

China ist kein leichter Wirtschaftspartner und fährt bisweilen einen sehr egoistischen Kurs, auch mit Blick auf den Umgang mit Minderheiten im eigenen Land. Wie geht man damit um?
Die These „Wandel durch Handel" hat Grenzen und ist kein Ersatz für das Gespräch von Staat zu Staat. Aber natürlich ist der chinesische Wirtschaftsraum mit seinem riesigen Markt und seiner dynamischen Entwicklung zu groß, um ihn einfach links liegen zu lassen. Und auch globale Herausforderungen wie der Klimawandel lassen sich nur mit China lösen. Deshalb muss der Westen eine gemeinsame Agenda für den Umgang mit China entwickeln. Für uns Europäer heißt das: Nur eine starke EU ist in der Lage, unsere Werte und unsere Interessen weltweit zu verteidigen.

War es richtig, dass die EU Ende vergangenen Jahres China mit dem Abschluss des Investitionsabkommens entgegengekommen ist?
Die Einigung war überfällig. Beide Seiten haben sich bewegt. Allein die Tatsache, dass China zugelassen hat, die Themen Menschenrechte und Arbeitnehmerrechte in das Abkommen aufzunehmen, stellt etwas grundsätzlich Neues dar. Das ist ein großes Zugeständnis der Chinesen.

Rechtfertigen die wenigen Spiegelstriche im Vertragstext tatsächlich ein so weitreichendes Abkommen? Die Chinesen sind seit Jahren geübt darin, Zugeständnisse in Aussicht zu stellen, konkret ändert sich aber meist wenig.
Was ist denn die Alternative? Sollen wir den dynamischsten Teil der Weltwirtschaft einfach aus unseren Überlegungen streichen? Besonders wichtig für die deutsche Industrie sind klare Regeln für den Umgang mit Staatsunternehmen und Subventionen sowie gegen erzwungenen Technologietransfer. Darauf müssen wir und muss der Westen gemeinsam drängen. China isolieren zu wollen würde niemandem nutzen, aber allen schaden.

Sie spielen auf das „Decoupling“ an, also auf die Entkopplung von China. In den USA wird das ja durchaus diskutiert. Völlig abwegig scheint es nicht zu sein, oder?
Es wäre weder politisch noch ökonomisch ein überzeugender Ansatz. China ist ein Faktor. Dem stellen wir uns schon aus Eigeninteresse – und da schließe ich die Amerikaner ausdrücklich mit ein.

Im Umkehrschluss heißt das: Wir sind zu abhängig von China. Trifft dieser Eindruck zu?
Das gilt für jeden Partner in der Weltwirtschaft. Die Weltwirtschaft ist vernetzt wie nie. Auch China ist abhängig vom Rest der Welt. Das globale Dorf ist Realität. Die Abgrenzung von einzelnen Wirtschaftsräumen wäre für jeden schädlich. Deshalb müssen wir miteinander Probleme ansprechen und lösen. Mit der neuen US-Regierung eröffnen sich für den Westen neue Chancen, die es in den vergangenen vier Jahren leider nicht gab.

Das globale Dorf erweist sich im Moment nicht gerade als krisenfest. Komplexe Lieferketten sind nicht robust, die Abhängigkeit von nur noch einem Lieferanten ist schädlich. Was ist zu tun?
Die Antwort darauf kann nur eine Diversifizierung sein. Eine gute Tugend im professionellen Einkauf ist, nicht alle Eier in einen Korb zu legen. Unterschiedliche Lieferanten, die idealerweise aus unterschiedlichen Regionen der Welt kommen, vergrößern die Resilienz. Die Art und Weise von Störungen ist mitunter überhaupt nicht vorhersehbar. Das hat uns Corona deutlich vor Augen geführt.

Manche fordern sogar eine Renationalisierung von Lieferbeziehungen. Was halten Sie davon?
Das halte ich für eine steile These. Der Lieferant vor der Haustür – nein, das taugt nicht als allgemeine Regel. Resilienz baut sich auf durch eigenes Know-how und alternative Optionen, nicht durch unmittelbare räumliche Nähe.

Dennoch kann man den Eindruck gewinnen, dass der multilaterale Handel seinen Zenit überschritten hat. Wie sehen Sie das?
Ich teile diesen Eindruck ganz und gar nicht. Wirtschaft ist kein Nullsummenspiel. Internationale Arbeitsteilung und multilateraler Handel sind für die Beteiligten ein unglaublicher Wohlstandsmotor.

Was muss man konkret tun, um den Multilateralismus zu beleben?
Ein wesentlicher Schritt ist die Wiederbelebung der WTO. Die USA müssen jetzt die Blockade des Streitschlichtungsgremiums beenden und der Kandidatin für die Generaldirektion mit maximaler Unterstützung erlauben, ihr Amt anzutreten. Sie soll baldmöglichst die Weichen für wichtige Reformen stellen.

Noch einmal zurück zu China: Bei vielen Produkten gibt es kaum noch Möglichkeiten, Lieferanten außerhalb Chinas zu finden. Die EU-Kommission und die Bundesregierung bemühen sich daher, Kernkompetenzen zurückzuholen, etwa in der Mikroelektronik oder in der Batteriezellfertigung. Ist das sinnvoll?
Ich halte es für einen vernünftigen Ansatz, wenn wir als Deutsche und Europäer versuchen, Abhängigkeiten zu reduzieren. Aber es muss auf Dauer wirtschaftlich sein. Nehmen Sie die Mikroelektronik: Klar wäre es gut, wenn wir bei der Hochleistungsmikroelektronik nicht allein von einem Lieferanten abhängig wären, der in diesem Fall in Taiwan sitzt. Sondern wenn wir diese Produkte auch aus Europa beziehen könnten.

Der Vorsprung des Unternehmens in Taiwan ist riesengroß. Ist es nicht eine Verschleuderung von Steuergeldern, wenn man versucht, diesen Vorsprung aufzuholen?
Überhaupt nicht. Wichtig ist, vor Augen zu haben, wie man einen eingeschwungenen Zustand erreicht, sodass sich die entsprechenden Projekte wirtschaftlich tragen. Eine Dauersubventionierung würde niemandem helfen. Anschubfinanzierung dagegen ergibt allen Sinn der Welt. Eine wettbewerbsfähige Produktion ist das Ziel. Gerade bei Halbleitern kommt eine ganze Reihe von Komponenten und Maschinen aus Deutschland. Da geht es um hochanspruchsvolle Hardware an den Grenzen der Physik, das ist eine unserer großen Stärken.

„Klimaschutz ist keine europäische Marotte“

Die Europäer haben beschlossen, bis 2050 der erste klimaneutrale Kontinent der Welt zu werden. Die Chinesen bekunden zwar ihren guten Willen, weihen aber ein Kohlekraftwerk nach dem anderen ein. Sind die Europäer naiv?
China muss sicher noch mehr tun, aber es gibt weltweit eine wachsende Übereinstimmung bei den Zielen. Das gilt ausdrücklich auch für die europäische Industrie. Die Annahme, die Industrie halte das Ziel Klimaneutralität 2050 in Wahrheit für völlig überzogen oder unerreichbar, ist schlichtweg falsch.

Woher wissen Sie das?
Ich treffe in der Industrie ausschließlich Menschen, die ehrgeizigen Klimazielen zustimmen und mit Technologie und Innovationen dazu beitragen wollen, diese zu erreichen.

Auch außerhalb Europas?
Ich war vergangene Woche am Tag eins nach der Inauguration des neuen US-Präsidenten Teilnehmer bei einer Veranstaltung der B20, das ist das Pendant der Wirtschaft zur Gruppe der G20-Staaten, also der 20 größten Volkswirtschaften der Welt. Als eine seiner ersten Amtshandlungen hat John Kerry, der Klimabeauftragte Präsident Bidens, dort eine beeindruckende Rede gehalten, in der er klargemacht hat, wie ernst die neue US-Regierung Klimaschutz zu ihrem Thema machen will. Der Wiedereintritt der USA in das Pariser Klimaabkommen war bekanntlich eine der ersten Amtshandlungen Präsident Bidens.

Und die Hälfte der US-Bundesstaaten hatte sich von sich aus verpflichtet, den Pariser Klimazielen treu zu bleiben. Kerrys Botschaft war eindeutig: Die USA sind wieder an Bord. Klimaschutz ist keine europäische Marotte, sondern es gibt einen breiten Konsens und ein ungemein attraktives wirtschaftliches Potenzial. Dem wird sich auch China nicht entziehen können.

Wie erreicht man die Ziele, ohne klassische Industriebranchen wie Stahl oder Chemie sterben zu lassen?
Es würde niemandem helfen, den Kern der Industrie in seinem Bestand zu gefährden. Im Gegenteil: Die Welt schaut genau hin, wie wir den Weg in Richtung Klimaneutralität bewältigen. Andere Länder werden nur folgen, wenn wir dabei erfolgreich sind.

Was fordern Sie von der Politik?
Die Politik muss sich viel stärker um die Wege zum Ziel kümmern. Es hilft niemandem, wenn Brüssel immer neue Zwischenziele setzt und die Latte noch ein Stück höher legt. Wir müssen jetzt darüber sprechen, wie den am stärksten betroffenen Branchen geholfen werden kann und die notwendigen Investitionen finanziert werden sollen.

Was schlagen Sie vor?
Patentrezepte gibt es nicht. Es muss sichergestellt sein, dass die betroffenen Branchen nach einer gewissen Übergangszeit wieder global wettbewerbsfähig sind. Dauersubventionierung ist keine Lösung, genauso wenig der Export von Produktionsstätten dorthin, wo Klimaschutz aktuell noch nicht so wichtig ist. Wenn Unternehmen in der EU mehr Klimaschutz realisieren müssen als anderswo, bedeutet das mehr Belastung als anderswo. Deshalb ist unbedingt ein erweiterter Carbon-Leakage-Schutz erforderlich.

Nehmen wir die Stahlindustrie. Was ist zu tun?
Erstens geht es sehr zeitnah darum, welche Investitionen in neue Anlagen erforderlich sind. Diese Frage ist vergleichsweise leicht zu beantworten, die Ingenieure sind weitgehend fertig mit den erforderlichen Innovationen. Zweitens: Mit welchem Mechanismus lassen sich die höheren Kosten für grünen Stahl ausgleichen?

Welche Lösung schwebt Ihnen vor?
Dafür müsste man zum Beispiel die Zahlungsbereitschaft der Endkunden kennen. Werden sie mehr Geld für ein Auto bezahlen, das aus grünem Stahl hergestellt ist? Drittens: Wo kommt der grüne Wasserstoff her, den ein Stahlhersteller künftig benötigt? Da sehe ich derzeit ein erhebliches Mengenproblem. Deutschland wird in großem Umfang auf den Import grüner Energie angewiesen sein. Ich halte es daher für extrem wichtig, Wasserstoffpartnerschaften mit verschiedenen Ländern aufzubauen – in Europa und seiner unmittelbaren Nachbarschaft und etwa mit Chile oder Australien. Der weltweite Hochlauf der Produktion bezahlbarer grüner Energie ist die größte der drei Baustellen.

Wie bewertet der BDI-Präsident die Debatte um Nord Stream 2? Soll die Pipeline fertiggestellt werden?
Die Pipeline hat zwei Schieber, am Anfang und am Ende. Die Entscheidung darüber, wie viele Millionen Kubikmeter Gas unser Kontinent wann kauft, können wir von Jahr zu Jahr neu treffen. Eine bestehende Pipeline, aus der wir kein Gas abnehmen, ist für Russland wahrscheinlich ein stärkeres Signal, als die letzten noch fehlenden Rohre im Hafen von Mukran liegen zu lassen. Ist die Pipeline fertig, erweitert Europa Bezugsoptionen für sein Energiesystem und seinen Handlungsspielraum – und gewinnt Souveränität.

Herr Russwurm, vielen Dank für dieses Interview.