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Die Spinne im Geld-Netz: So wichtig war Clearstream bei Cum-Ex-Geschäften

Ermittler haben die Deutsche Börse und ihre Tochter Clearstream seit Jahren im Blick. Nun haben sich Hinweise auf mögliche Beteiligungen an Steuerhinterziehungen weiter verdichtet.

The Cube, Sitz der Deutschen Börse in Eschborn. Foto: dpa
The Cube, Sitz der Deutschen Börse in Eschborn. Foto: dpa

Für Theodor Weimer war es eine Art Déjà-vu. Am Dienstagmorgen standen Ermittler vor seiner Unternehmenszentrale, einem mächtigen Würfel aus Stahl und Glas. Weimer führt die Deutsche Börse und indirekt deren Tochter Clearstream in Eschborn nahe Frankfurt. Rund 50 Beamte verlangten Einlass.

Es war eine Szene, die an den 28. November 2012 erinnerte, als die Hypo-Vereinsbank in München durchsucht wurde. Auch sie wurde damals von Weimer geführt. Auch bei ihr fahndeten die Ermittler nach Beweisen für illegale Steuergeschäfte der Marke Cum-Ex.

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Bei diesen Geschäften ließen sich Anleger die einmal gezahlte Kapitalertragsteuer auf Aktiendividenden mithilfe von Banken mehrfach erstatten. Dazu verschoben sie um den Stichtag der Dividendenzahlung herum untereinander Aktien mit (lateinisch: „cum“) und ohne („ex“) Dividendenanspruch.

Damals wie heute war Weimer nicht verantwortlich für den Betrug an der Allgemeinheit, den die Behörden vermuten. Damals wie heute muss Weimer ihn abarbeiten. Bei der Hypo-Vereinsbank kostete die Affäre damals mehr als 100 Millionen Euro, zuzüglich Anwaltskosten in ähnlicher Höhe. Die Bank verklagte ehemalige Vorstände auf Schadensersatz – die juristischen Kämpfe sind noch immer nicht ausgestanden.

Dass Weimer von einem unter Cum-Ex-Verdacht stehenden Institut zum nächsten wechselte, spricht nicht gegen ihn. Die heftig umstrittenen Aktiendeals waren jahrelang in ganz Europa beliebt. Weit mehr als 100 Geldhäuser sollen sich daran beteiligt haben, der Schaden wird allein in Deutschland auf zwölf Milliarden Euro geschätzt. Doch wenn auch nichts gegen Weimer persönlich spricht, so haben die Strafverfolger doch sein Tochterunternehmen im Visier, das am Dienstag ungebetenen Besuch erhielt.

Ohne Clearstream ist Aktienhandel kaum denkbar – auch nicht solcher zum Schaden des Steuerzahlers. Die Deutsche-Börse-Tochter wickelt die Geschäfte ab und fungiert zugleich als Zentralverwahrer für Wertpapiere. Die blanken Zahlen zeigen, welche Bedeutung Clearstream hat: Im Jahr 2015 verwahrte das Institut im Schnitt Wertpapiere mit einem Volumen von über 13 Billionen Euro und führte 138 Millionen Transaktionen aus.

Dienten davon welche dem Betrug am Steuerzahler? Um solche und andere Fragen zu beantworten, musste sich Mathias Papenfuß 2016 in Berlin einfinden. Als Vorstandsmitglied der Clearstream Banking AG (CBF) und der Clearstream Banking Luxemburg (CBL) war er vor den Cum-Ex-Untersuchungsausschuss des Bundestags geladen. Eine gute Dekade lang hatte die Politik das Problem der doppelten Steuererstattungen ignoriert – massive Berichterstattung drängte die Volksvertreter schließlich zur politischen Aufarbeitung des Skandals.

Papenfuß, ein Mann mit raspelkurzen Haaren und einer Vorliebe für Fliegen, räumte bei seiner Befragung in Berlin eine gewisse Erfahrung mit den Geschäften auf Kosten des Steuerzahlers ein. Schon 2002 sei ihm das Thema Cum-Ex begegnet. Erst 2009 allerdings habe man „ein bisschen mehr Augenmerk“ darauf gelegt. Das Bundesfinanzministerium schickte damals ein Rundschreiben an die Branche, erste Presseartikel erschienen.

Kein Augenmerk auf Steuerschäden in Milliardenhöhe – womöglich auch abgewickelt über die Handelssysteme seines eigenen Hauses? Die Politiker fragten nach. Papenfuß blieb dabei. Vor 2009 habe man „mit einer anderen Brille draufgeguckt“. Mehr Fragen musste der Manager nicht beantworten. Als der Ausschuss seinen Kollegen Thomas R. vorlud, war dessen Auskunft noch kategorischer. Clearstream habe nicht erkennen können, was da geschah.

Zweifel der Staatsanwälte

Die Staatsanwaltschaft zweifelt. Thomas R. ist inzwischen Beschuldigter in dem Steuerskandal. Inzwischen zählt die Staatsanwaltschaft mehr als zehn mögliche Mittäter – auch dies war Anlass für die Razzia am Dienstag.

Die Ermittler vermuten, Clearstream habe Kunden systematisch geholfen, sich an der Allgemeinheit zu bereichern, die Börsentochter sei die Spinne im Netz. Genau dies wurde bisher dementiert.

Auf der Bilanzpressekonferenz der Börse betonte Vorstandschef Weimer, dass sich sein Tochterunternehmen Clearstream in Sachen Cum-Ex nichts vorzuwerfen habe. „Clearstream berät nicht in Steuerfragen, spricht keine Empfehlungen aus zu steuerlichen Angelegenheiten“, sagte Weimer. Das Unternehmen führe auch keine derartigen Transaktionen auf eigene Rechnung durch und erhebe somit auch keinerlei Anspruch auf Steuererstattungen.

Beteiligt waren Clearstream-Mitarbeiter am Cum-Ex-Skandal trotzdem – und ihr Unternehmen auch, vermutet die Staatsanwaltschaft. In den zwei Jahren, die seit der letzten Durchsuchung vergangen sind, hat sich viel getan. Ermittlungsverfahren wurden vorangetrieben, in ganz Deutschland haben sich Staatsanwälte untereinander und mit der Finanzaufsicht ausgetauscht. Banken haben schon mehrere Hundert Millionen Euro zurückgezahlt. Um ihre Chancen auf milde Urteile zu erhöhen, haben sich viele Beschuldigte von Schweigern zu Kronzeugen gewandelt.

Das Handelsblatt hat Einblick in Dokumente, die das Zusammenspiel von Clearstream und der britischen Großbank Barclays illustrieren, das exemplarisch sein soll. Die Bank hatte seit Jahren Geschäftsbeziehungen zur Deutsche-Börse-Tochter in Frankfurt. Am 19. Februar 2007 kam es dann zu einem wegweisenden Treffen.

Die Dividendensaison stand an. Deutsche Unternehmen schütten ihre Gewinne in der Regel im April und Mai aus. Barclays hatte für das Jahr 2007 große Cum-Ex-Pläne, brauchte aber Anleitung. Das deutsche Jahressteuergesetz war geändert worden. Was bedeutete das für das Vorhaben? Barclays schickte gleich sieben Mitarbeiter zu einem Informationsgespräch mit den Deutschen.

Umweg über Luxemburg

Clearstream stellte fünf Spezialisten ab, um die Fragen der Barclays-Abordnung zu beantworten. Das Kundengespräch, so zeigten interne Unterlagen, war minutiös vorbereitet. Die Deutschen legten Präsentationen vor, machten Beispielrechnungen auf, prognostizierten Gewinne.

Ab sofort, so erklärten sie ihren britischen Gegenübern, sei es nicht mehr ratsam, Cum-Ex-Handel über Konten von Clearstream in Frankfurt abzuwickeln. Wenn ein Kunde dann nämlich eine Steuererstattung beantrage, müsse er nachweisen, dass diese Steuer vorher auch gezahlt wurde.

Das war ungünstig für jeden Cum-Ex-Akteur, basierte doch der Gewinn vor allem darauf, Kapitalertragsteuern einmal zu zahlen, aber mehrfach erstattet zu bekommen. In dem Treffen am 19. Februar 2007 zeigte Clearstream einen Ausweg auf: Luxemburg.
Auch dort, berichteten die Deutschen, hatte die Börse nutzbare Konten. Für Luxemburg galten aber andere Regeln als für Frankfurt.

Wortreich beschrieben die Clearstream-Mitarbeiter die technischen Details. Ihre Präsentation „Customer Tax Guide – Germany“ enthielt ein Kapitel mit dem Titel „Short Sales and Manufactured Dividends“. Der Wortführer jenes Tages aufseiten von Clearstream ist heute Beschuldigter.

Begriffe wie Short Sales (Leerverkäufe) und Manufactured Dividends (gefertigte Dividenden) sind für Steuerfahnder und Staatsanwälte längst zu Warnlampen geworden. Sie weisen den Ermittlern den Weg zum nächsten Verdächtigen – und zur nächsten Bank, die zur Vermögensabschöpfung gebeten werden könnte. Gewinne aus illegalen Aktiengeschäften sollen auch von denen zurückgeholt werden, die selbst keine Aktien handelten.

Das macht die Lage für Clearstream möglicherweise brenzlig. Gespräche wie mit Barclays sollen Mitarbeiter auch mit der australischen Bank Macquarie geführt haben. Dort zählen heute mehr als 20 aktive und ehemalige Mitarbeiter zu den Beschuldigten, darunter die amtierende Vorstandschefin und ihr Vorgänger.

Die Staatsanwaltschaft macht keine Angaben dazu, wie viele dieser Beispiele sie noch kennt. In den Unterlagen, die das Handelsblatt einsehen konnte, fällt immer wieder der Begriff „Shunting“. Das „Rangieren“ von Handelsströmen – immer so, wie es steuerlich am günstigsten war – wurde zum Verkaufshit.

Clearstream ist nach der Derivatetochter Eurex die zweitwichtigste Sparte der Deutschen Börse. Im vergangenen Jahr fuhr das Tochterunternehmen Nettoerlöse von 718 Millionen Euro ein und trug damit rund ein Viertel zum Umsatz von Deutschlands größtem Börsenbetreiber bei.

Clearstream hatte Hunderte von Kunden. Entscheiden die Ermittler, mögliche Steuerschäden durch jeden einzelnen bei der Tochter der Deutschen Börse abgewickelten Deal abzuschöpfen, könnten Milliardenbeträge zustande kommen.

Die Bank bleibt dabei: Sie ließ sich nichts zuschulden kommen. Rückstellungen für mögliche Strafen hat der Konzern Finanzkreisen zufolge bislang nicht gebildet. Bei Investoren kamen die Neuigkeiten über die Durchsuchung schlecht an. Nach ihrem Bekanntwerden am Dienstagmittag sackte die Deutsche-Börse-Aktie ab und verlor zeitweise rund zwei Prozent.