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Habeck auf Grünen-Parteitag: „Geld, das jetzt mobilisiert wird, muss Wirtschaft umbauen“

Die Grünen haben auf ihrem Online-Parteitag über Wege aus der Coronakrise beraten. Der gesellschaftliche Kompass müsse neu ausgerichtet werden, fordert Parteichef Habeck.

„Wir leben in einer Ausnahmesituation“, sagte Baerbock, die mit Kollege Robert Habeck von der Berliner Parteizentrale aus zugeschaltet war. Foto: dpa
„Wir leben in einer Ausnahmesituation“, sagte Baerbock, die mit Kollege Robert Habeck von der Berliner Parteizentrale aus zugeschaltet war. Foto: dpa

Es ist ein ungewöhnlicher Aufritt an diesem Samstag: die diskussionsfreudigen Grünen müssen aufgrund der Coronakrise mit einem digitalen Parteitag vorlieb nehmen. Reden, die online übertragen werden, manche aus der Bundesgeschäftsstelle, andere aus privaten Wohnzimmern, kein Schwätzchen zwischendurch. Normalerweise seien Parteitage auch wie Familientreffen, sagte der Politische Bundesgeschäftsführer Michael Kellner zum Auftakt des Parteitags, das fehle nun.

Doch die Grünen ziehen den Parteitag als erste bundesweite Partei auch online durch, um über Wege aus der Coronakrise zu beraten. „Corona ist eine Ausnahmesituation und gerade deshalb darf das Nachdenken, der Diskurs nicht stillstehen“, sagt Kellner. „Ihr schafft das, Ihr seid alle videogestählt“, macht die Fraktionsvorsitzende der Berliner Grünen, Silke Gebel, den 95 Delegierten Mut.

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Auf dem kleinen Parteitag, auch Länderrat genannt, beschließen die Delegierten die Richtlinien der Politik zwischen den Bundesversammlungen, den großen Parteitagen.

Die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck waren von der Berliner Parteizentrale aus zugeschaltet. „Wir leben in einer Ausnahmesituation“, sagte Baerbock. Sie wache häufig mit der mulmigen Frage auf, was da noch alles kommt.

Für viele Menschen sei die Krise existenziell, mahnte Baerbock in ihrer zwanzigminütigen politischen Rede und forderte erneut ein Konjunktur-Sofortprogramm in Höhe von 100 Milliarden Euro. Sie verlangte, die Klimakrise nicht aus den Augen zu verlieren und innerhalb Europas zusammenzustehen.

„Klimakrise lässt sich nicht wegimpfen“

Alle Maßnahmen, die im Zuge der Coronakrise getroffen worden seien, müssten ständig überprüft werden, verlangte Baerbock. Bei allen finanziellen Hilfen brauche es klare Kriterien. „Wir müssen uns am Gemeinwohl orientieren“, sagte sie. „Geld kann es nur geben, wenn es sozial wirkt und der Ökologie dient.“

Am Ende beschlossen die Delegierten einen Fonds in Höhe von 20 Milliarden Euro, der Kaufanreize in Form von Kauf-Vor-Ort-Gutscheinen sowie direkte Zuschüsse für den lokalen Einzelhandel, Gastronomie und Kultureinrichtungen finanzieren soll. Hartz-IV-Empfänger sollen vorübergehend 100 Euro mehr bekommen, für Kinder soll es 60 Euro mehr geben. Zudem soll derjenige, der seine Kinder zu Hause betreuen muss, ein so genanntes Corona-Elterngeld bekommen können. Das Kurzarbeitergeld soll für kleine Einkommen auf 90 Prozent des Netto-Einkommens erhöht werden, auch Selbstständige sollen eine Art Kurzarbeitergeld bekommen können. Ein gemeinsamer „Erholungsfonds“ der EU-Staaten von mindestens einer Billion Euro soll durch gemeinsame Anleihen, sogenannte Euro-Bonds, finanziert werden.

Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann sprach sich für eine „schrittweise und behutsame Lockerung“ der Einschränkungen aus. „Wir bewegen uns auf dünnem Eis“, sagte der Grüne per Videobotschaft. „Wir müssen uns weiter klug und verantwortungsvoll verhalten.“ Mutmaßungen und Wünsche seien nicht entscheidend, „es helfen nur Fakten und Erkenntnisse“. Das gelte für die Corona- und die Klimakrise gleichermaßen.

Kretschmann appellierte an seine Parteikollegen, einen „kühlen Kopf“ zu bewahren. „Lasst euch nicht bange machen von Umfragen oder hämischen Kommentaren“, sagte er auf jüngste Meinungsumfragen anspielend, die die Grünen anders als noch vor wenigen Wochen nur noch bei 15 Prozent sehen. Zudem hat der Klimaschutz seinen Spitzenplatz auf der politischen Agenda verloren. Die Zahl der Mitglieder allerdings erhöhte sich bundesweit auf mehr als 100.000.

„Die folgenden Aufbauprogramme“, so Kretschmann, „müssen grün imprägniert sein“. Aber man dürfe sich nichts vormachen: die Klimakrise sei viel schwieriger zu bewältigen als Corona, denn „sie lässt sich nicht wegimpfen.“ In einer schweren Wirtschaftskrise sei es nochmal schwieriger. „Da ist Flexibilität gefragt, damit wir mit unserem Kernthema mehrheitsfähig bleiben“, mahnte Kretschmann. „Das wird uns allen viel abverlangen.“ Es brauche jetzt europäisches Denken und Handeln.

Der gesellschaftliche Kompass muss neu ausgerichtet werden

Parteichef Robert Habeck, der den am Dienstag vorgelegten Leitantrag der Parteispitze in die Diskussion am Samstag einbrachte, forderte die Neuausrichtung des gesellschaftlichen Kompasses. Die kapitalistische Logik nach dem Motto „Hauptsache billig“ sei an ihr Ende gekommen, sagte Habeck.

Wer hätte gedacht, dass es in Deutschland beispielsweise an Atemmasken fehle? „Wir brauchen eine neue Robustheit der Realwirtschaft, regionale Produktionskapazitäten, mindestens für kritische Güter und Waren.“ Das Geld, das jetzt mobilisiert werde, sagte Habeck, „muss unsere Wirtschaftsweise auf Klimaneutralität umbauen“.

Die Chance eines Green Deals sei nach der Finanzkrise vertan worden, weil Union, FDP und SPD damals das Alte bewahren wollten. „Milliarden wurden verbrannt, ohne ökologische und soziale Lenkungswirkung zu entfalten.“ Er habe aber die Hoffnung, dass es dieses Mal anders laufen könnte.

Hilfen an Industrieunternehmen müssten der ökologischen Modernisierung dienen. Und Voraussetzung sei, dass diese Unternehmen auf Boni und Dividenden verzichten und außerdem öffentlich machen, wo und ob sie Steuern zahlen oder nicht. Und „ja, wir reichen den Unternehmen die Hand zur Rettung, aber wenn sie sie ergreifen, dann besiegeln wir einen Pakt für Nachhaltigkeit“.

Hilfen für die Automobilindustrie könne es nur geben, wenn es der Klimapolitik diene. Wenn die Branche zusätzliches Geld bekomme, müssten umweltschädliche Subventionen abgebaut und in der Kfz-Steuer ein Bonus-Malus-System eingebaut werden. Die EU-Flottengrenzwerte müssten dem Pariser Klimaabkommen angepasst werden. Eine erneute Abwrackprämie wie vor zehn Jahren lehnte der Parteichef ab.

Erneute Forderung nach Verminderung der Ökostrom-Umlage

Wie Baerbock forderte Habeck, in Europa gemeinsam zu handeln. „Ein neuer Nationalismus ist nicht die Alternative.“ Dass Habeck die Grünen für prädestiniert sieht, die Probleme Deutschlands anzugehen, versteht sich von selbst. Gemeinsam widerstandsfähig zu sein, brauche neue politische Kraft, sagte der Parteichef. Gerade jetzt, in der Krise, wo große Entscheidungen in kurzer Zeit gefällt würden und das Leben auf viele Jahrzehnte prägen würden, komme es darauf an, sich einzumischen.

Habeck forderte erneut eine Verminderung der Ökostrom-Umlage um fünf Cent je Kilowattstunde, um Haushalte mit niedrigem Einkommen zu entlasten. Das wären rund 75 Prozent. „Wir gleichen das aus der Steuer aus“, sagte Habeck. Die Zahlungen an die Erneuerbaren müssten selbstverständlich weitergehen.

Dass die Grüne Jugend im Voraus eine „Vermögensabgabe für Superreiche“ in den Leitantrag hinein verhandeln wollte, war verhindert worden. Das Reizwort soll nicht im Parteitagsbeschluss stehen. Auch für Formulierungen zur Autoindustrie und möglichen neuen Kaufanreizen waren Kompromisse gefunden worden. Es soll nun heißen, die Kaufanreize müssten „auf klimaneutrale Mobilität fokussiert werden“.

Einen Schub in die richtige Richtung, verlangte Fraktionschef Anton Hofreiter. Keinen in den ökologischen Abgrund. Die Coronakrise, so Hofreiter, sei eine eindringliche Mahnung an die Gesellschaft, damit der Ausnahmezustand nicht zum Normalzustand werde.