(Bloomberg) -- Kaum hatte er den wichtigsten Posten in der deutschen Industrie übernommen, da erreichte den Vorstandsvorsitzenden der Volkswagen AG, Oliver Blume, auch schon eine Hiobsbotschaft.
Ein hochrangiger Manager war nach China entsandt worden, um die Wettbewerbssituation zu eruieren, und seine Einschätzung war düster. In der Wolfsburger Firmenzentrale teilte er seinem neuen Chef mit, dass Europas größter Autobauer das Elektroauto-Rennen in seinem wichtigsten Markt verliere und keine Aussicht habe, den Rückstand aus eigener Kraft aufzuholen.
Während der Pandemie war Volkswagen in China ins Hintertreffen geraten, und als das Land sich wieder zu öffnen begann, hatten BYD Co., Nio Inc. und andere lokale Marken die Zahl der Hybrid- und Elektromodelle verdoppelt. Die meisten waren billiger und besser als die Angebote von VW.
Mit dem wirtschaftlichen Abschwung in China richtet sich der Blick dieser neuen Konkurrenten zunehmend auf Europa. Gleichzeitig leiden Volkswagen und andere deutsche Hersteller unter den hohen Energiepreisen infolge des Wegfalls billigen russischen Erdgases sowie wirtschaftspolitischer Entscheidungen.
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Auf der anderen Seite des Globus expandiert Tesla Inc. weiter — unter anderem mit einer Fabrik vor der Haustür von VW — und reklamiert die Innovationsführerschaft im Automobilsektor für sich, indem es neben Mercedes-Benz und BMW auch Audi, die Cash Cow des Wolfsburger Giganten, angreift. Statt der schnittigen Audi-Limousinen, die “Vorsprung durch Technik” versprechen, sind Teslas die erste Wahl für Konsumenten geworden, die zeigen wollen, dass sie am Puls der Zeit sind.
Der Wettbewerbsdruck von oben und unten, von den USA bis China, könnte sich für Volkswagen zur größten Krise seit dem Dieselskandal 2015 ausweiten. Die Probleme könnten sogar noch schwieriger zu bewältigen sein und spiegeln die Risiken wider, die sich für die deutsche Wirtschaft abzeichnen.
“Wie in allen Industrien stellt sich auch bei der Automobilindustrie die Frage, ob und wie wir in Zukunft global vorn mitspielen”, sagte Außenministerin Annalena Baerbock vergangene Woche auf der Münchner Automesse. “Für unser Land, wo die Automobilindustrie einen großen Teil der Wertschöpfung ausmacht, ist das nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine Frage der Sicherheit.”
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VW läuft die Zeit davon, die Elektroauto-Strategie richtig hinzubekommen. Der Konzern droht im schrumpfenden Markt für Autos mit Verbrennungsmotor gefangen zu bleiben, bis er seine aufgeblähte Struktur nicht mehr tragen kann. Die Schwierigkeiten des Unternehmens spiegeln sich in einem Börsenwert wider, der weniger als ein Zehntel des Wertes von Tesla beträgt, obwohl der Umsatz mehr als dreimal so hoch ist wie der des texanischen Rivalen.
Das Unternehmen hat bereits Minderheitsbeteiligungen an der Sportwagenmarke Porsche und der Lkw-Sparte Traton ausgegliedert. Forderungen nach einer weitergehenden Aufspaltung könnten laut werden, wenn Volkswagen Marktanteile in Europa verliert, sagt Bernstein-Analyst Daniel Röska.
Doch Blume und sein Team setzen darauf, dass sich die enormen Ressourcen von Volkswagen auszahlen, wenn sich Elektrofahrzeuge richtig durchsetzen. “Es ist ein Marathon, und nicht jeder, der als Erster oder Schnellster losläuft, kommt auch im Ziel an”, sagt Ralf Brandstätter, China-Chef von Volkswagen.
Auf Europas größter Automobilmesse haben die chinesischen Hersteller in diesem Jahr gezeigt, dass sie bereit sind, den Kampf nach Deutschland zu tragen. Die Zahl der Aussteller auf der Münchner Messe hat sich im Vergleich zu 2021 mehr als verdoppelt, und BYD hat die Limousine Seal, die noch in diesem Jahr für etwa 45.000 Euro auf den Markt kommt, als direkten Konkurrenten für das Tesla Model 3 und mehrere Elektroautos von Volkswagen positioniert.
Volkswagen steht wie kaum ein anderes Unternehmen für das deutsche Wirtschaftswunder der Nachkriegszeit. Die aktuellen Herausforderungen für das Unternehmen und das Land sind nach wie vor eng miteinander verknüpft. Beide sind in hohem Maße den Risiken ausgesetzt, die sich aus den wachsenden wirtschaftlichen und politischen Ambitionen Chinas ergeben. Die asiatische Supermacht ist Deutschlands größter Handelspartner und hatte im vergangenen Jahr einen Anteil von knapp 40% an den weltweiten Auslieferungen von VW. Die Schwierigkeiten von Volkswagen bei der Umstellung auf Autos, bei denen Software wichtiger ist als Pferdestärken, sind ein Zeichen dafür, wie schwer es dem ganzen Land fällt, sich an das digitale Zeitalter anzupassen.
VW ist ein komplexes und schwerfälliges Gebilde — so wie Deutschland. Das Unternehmen beschäftigt fast 700.000 Menschen in mehr als 100 Fabriken auf der ganzen Welt. Es stellt alles her, von exotischen Lamborghini-Sportwagen über sparsame Skoda-Kombis bis hin zu leistungsstarken Scania-Lkw. Eine komplizierte interne Machtdynamik behindert den Wandel. Jahrzehntelanger Erfolg nährte die Selbstgefälligkeit.
Was unsere Experten sagen:
“Die Automobilindustrie in Deutschland ist eng mit anderen Branchen des verarbeitenden Gewerbes und des Dienstleistungssektors verwoben. Die Produktion hat noch immer nicht das Niveau vor der Pandemie erreicht und ist damit ein wichtiger Faktor für die anhaltende Schwäche der deutschen Industrie.”
— Martin Ademmer, Ökonom bei Bloomberg Economics
Von der Politik vorangetrieben, vollzieht sich der Umstieg auf Elektrofahrzeuge in China noch schneller als in anderen Ländern. Bis Mitte des Jahrzehnts soll die Hälfte aller auf dem größten Automarkt der Welt verkauften Fahrzeuge Elektrofahrzeuge sein.
Chinas Bedrohung der deutschen Vormachtstellung in der Automobilindustrie war in München zu besichtigen. BMW-Manager bewunderten den schnittigen Roadster Cyberster der Marke MG der SAIC Motor Corp., der nächstes Jahr für rund 57.000 Euro auf den Markt kommen soll und damit auf einer Linie mit dem benzingetriebenen Z4 von BMW liegt. Bei BYD verfolgte Daniela Cavallo, die oberste Arbeitnehmervertreterin von VW, aufmerksam die Präsentation.
“Unsere internationale Konkurrenz schläft nicht”, sagte Hildegard Müller, Chefin des deutschen Automobilverbandes VDA, vergangene Woche auf der IAA in München. “Unsere Unternehmen erwirtschaften einen Großteil ihrer Gewinne im Ausland und tragen so dazu bei, Arbeitsplätze in Deutschland zu sichern. Aber der Druck steigt, weil das Wirtschaftswachstum schwach ist und die Bedingungen international nicht mehr wettbewerbsfähig sind.”
Neben einer Reihe von technischen Fortschritten konzentrierten sich die deutschen Marken auf ihre Tradition — etwas, womit Tesla und die chinesische Konkurrenz nicht mithalten können. Auf dem Stand von Mercedes-Benz war eine Elektroversion des experimentellen Supersportwagens C111 aus dem Jahr 1970 zu sehen. BMW erinnerte mit der Neuen Klasse bewusst an seine bahnbrechende Fahrzeugreihe aus den 1960er Jahren und VW zeigte das Elektroauto-Konzept GTI, das an die gleichnamige sportliche Version des Golf erinnert.
Ein Jahr nach Blumes Amtsantritt zeichnen sich die Konturen seiner Antwort auf die Alarmglocken vom vergangenen Oktober ab. Dazu gehören eine Reihe neuer Partner, ein dritter Anlauf zur Entwicklung einer wettbewerbsfähigen Elektroauto-Plattform und ein neues Management für den VW-internen Softwareentwickler Cariad, der mit Tesla und anderen Konkurrenten nicht Schritt halten konnte.
“Jedes Unternehmen muss bei sich selbst anfangen — innovieren, entwickeln und am Ende Leistung bringen”, sagte Blume in München. “Es liegt an uns.”
Der aggressivste Schritt war die Zahlung von 700 Millionen Dollar (652 Millionen Euro) für einen Anteil von fast 5% am chinesischen Autohersteller Xpeng. Die Beteiligung an dem verlustbringenden Unternehmen, das es in seinem Heimatland nicht einmal unter die Top 10 bei Elektroautos schafft, war der Preis für den Zugang zu einer Technologieplattform, die VWs eigene Entwicklung beschleunigen könnte. Die Beteiligung wird weithin als letzter Versuch gesehen, das Ruder herumzureißen.
Dem Xpeng-Deal gingen neue Kooperationsvereinbarungen mit einem Batteriehersteller, einem Spezialisten für autonomes Fahren und einem Infotainment-Entwickler voraus. Die erweiterte Liste chinesischer Partner erhöht die Komplexität und vertieft die Verstrickungen in einem Land, das sich in zunehmender Systemkonkurrenz mit dem Westen befindet.
Für den 55-jährigen Blume, der seit seinem Eintritt in ein Traineeprogramm im Jahr 1994 bei Volkswagen ist, folgt der Ansatz einem vertrauten Drehbuch: Im Zweifelsfall muss man expandieren. Das ist eine übliche Strategie für einen Konzern, der 10 Marken betreibt und weiter wächst.
VW ist strukturell auf Expansion ausgerichtet. Die Hauptakteure sind die Nachfahren von Ferdinand Porsche, der den Ur-Käfer schuf, die darauf bedacht sind, dass die Dividende weiter fließt; das Stammland Niedersachsen, das eine besondere Sperrminorität hält; und der mächtige Betriebsrat des Unternehmens. Keiner von ihnen ist für eine Verkleinerung, und es braucht Zeit, Konsens herzustellen
“VW ist wie ein großer Tanker, der Zeit braucht, um zu wenden”, sagt Mathias Miedreich, CEO des belgischen Herstellers Umicore SA, der einen Vertrag mit dem Autohersteller über die Lieferung von Batteriematerialien hat. “Wenn der Tanker erst einmal zu wenden beginnt, kann man ihn nicht mehr aufhalten.”
Die Neigung, zu wachsen, um ein Problem zu lösen, zeigt sich auch in den Bemühungen von Volkswagen in den USA. Seit dem Abflauen der Käfermanie in den späten 1970er Jahren kämpft der deutsche Autobauer um eine bedeutende Rolle auf dem Markt. Der jüngste Vorstoß ist eine neue 2-Milliarden-Dollar-Fabrik in South Carolina, um die Geländewagenmarke Scout wiederzubeleben, die vier Jahrzehnte lang auf Eis lag. Ab 2026 sollen batteriebetriebene SUVs und Pickups als Retro-Antwort auf Teslas Cybertruck produziert werden.
VWs chaotischer Übergang zu Elektrofahrzeugen hat seine Wurzeln im Abgasbetrugsskandal. Jahrelang hatte das Unternehmen den “sauberen Diesel” als kraftstoffsparende Alternative zu Hybridfahrzeugen angepriesen, bis es schließlich zugeben musste, dass diese Behauptungen falsch waren und Millionen seiner Fahrzeuge illegale Mengen an Schadstoffen ausgestoßen hatten.
Die Enthüllungen schadeten dem Ruf der deutschen Ingenieurskunst und lösten eine Aufholstrategie unter Blumes Vorgänger Herbert Diess aus. Der ehemalige BMW-Manager, der kurz vor den Enthüllungen über den Dieselbetrug zum Unternehmen kam, schwor, einen historischen Wandel herbeizuführen, aber er sorgte vor allem beim Betriebsrat von VW für Unmut, während Softwareprobleme dazu führten, dass neue Modelle floppten und andere verschoben wurden.
Anfang 2022, als der Druck auf Diess zunahm, beauftragte Volkswagen McKinsey mit der Ausarbeitung eines Plans zur Lösung des Cariad-Problems. Die Entwickler von Audi, Porsche und der Software-Abteilung kämpften mit internen Streitigkeiten über die Markenzugehörigkeit und waren mit der Aufgabe überfordert, zwei neue Plattformen zu entwickeln — eine für Audi und Porsche und eine für die anderen Volkswagen-Marken. Ineffiziente Top-Down-Entscheidungen und Manager ohne Erfahrung in der Softwareentwicklung verschlimmerten die Situation noch.
Diess wollte die VW-Kultur aufbrechen, aber zum letzten Sommer hin war sein Schock-Ansatz nicht mehr gefragt. Auf einer Sitzung im Juli wurde er vom Aufsichtsrat, dem auch Vertreter der Qatar Investment Authority angehören, die 17% der stimmberechtigten VW-Aktien besitzt, abgesetzt.
Die Situation bei Cariad blieb so desolat, dass Blume nach seinem Amtsantritt im September eine “Rettungstruppe” ins Leben rief, um eine neue Strategie zu entwickeln, und die Aktualisierung der fünfjährigen Finanzplanung im Herbst absagte.
Als VW-Urgestein ist Blume, der auch die der Familie Porsche-Piëch nahestehende Marke Porsche führt, im Umgang mit den Mächtigen im Unternehmen geübt. Während das für Ruhe in Wolfsburg sorgen könnte, stellt sich die Frage, ob sich die Aufnahme weiterer Partner in China auszahlen wird und inwiefern sich Blumes Schritte, endlich mehr Rendite aus den Massenmarken von VW herauszuholen, von früheren gescheiterten Versuchen unterscheiden.
Der Beginn seiner Amtszeit war von Erleichterung im Unternehmen geprägt. Begleitet vom tosenden Applaus Hunderter von Managern bei einem Treffen in Lissabon, nannte der 29-jährige Firmenveteran fast ein Dutzend Themen, auf die er sich in den kommenden Monaten konzentrieren wollte.
Doch seine eigentliche Prioritätenliste — die ihm von Mitgliedern des Porsche-Piëch-Clans übergeben wurde — war viel kürzer: Cariad reparieren, den Verlust von Marktanteilen in China stoppen, in den USA wachsen, die Margen der Marke VW erhöhen und ein wettbewerbsfähiges Elektro-Portfolio bei Audi aufbauen. Nichts davon ist einfach.
In seinem ersten Jahr im Amt hat er den Audi-Chef ausgetauscht, der Marke VW Einsparungen verordnet, um den Gewinn bis 2026 um 10 Milliarden Euro zu steigern, und eine Überprüfung des Portfolios im Hinblick auf mögliche Verkäufe eingeleitet.
Auch wenn VW von Komplexität und Machtkämpfen geplagt wird, hat das Unternehmen doch reichlich Geld, um zurückzuschlagen. Die Autosparte verfügte Ende Juni über eine Nettoliquidität von 33,6 Milliarden Euro. Und nachdem vor einem Jahr eine Minderheitsbeteiligung an der Marke Porsche an die Börse gebracht wurde, gibt es viele andere Optionen, um bei Bedarf mehr Geld zu beschaffen.
“Konkurrenz sollte uns anspornen, aber nicht schrecken”, sagte Bundeskanzler Olaf Scholz in seiner Rede auf der IAA. “In den 80er Jahren hieß es: Jetzt überrollen japanische Autos alle anderen Märkte. Zwanzig Jahre später waren es Autos ‘Made in Korea’, heute sind es vermeintlich chinesische Elektroautos.”
Überschrift des Artikels im Original:Germany Frets Volkswagen Is Heading Down the Road to Nowhere
--Mit Hilfe von Craig Trudell, Elisabeth Behrmann, Zoe Schneeweiss, Iain Rogers und Keith Naughton.
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