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Kittelkleider, Ponys, Aufklärung – die Ära des Otto-Katalogs geht zu Ende

Durch sieben Jahrzehnte lieferte der Otto-Katalog einen Einblick in das Lebensgefühl der Deutschen. Nun wird er eingestellt. Ein Rückblick.

In Paris stehen die Studenten auf den Barrikaden, in Berlin erprobt die Kommune I die freie Liebe. „Ist die Revolution noch zu stoppen?“, titelt der „Stern“ in Hamburg. Wir schreiben das Jahr 1968, gemeinhin bekannt als Zeit des großen Aufbegehrens.

In Bramfeld im Nordosten Hamburgs, nur wenige Kilometer von der „Stern“-Redaktion entfernt, zeichnet der Otto-Katalog ein ganz anderes Bild dieses angeblich so wildbewegten Jahres 1968. „Sie und es, schick beim Hausputz“, steht über der Doppelseite, auf der Kinderschürzen angepriesen werden (für es) und das „Kittelkleid in unempfindlicher Farbstellung in Grobpopeline“ (für sie).

„Er“ hatte derweil Besseres zu tun. „Korrekte Kleidung, erfolgreiche Männer“, steht über den Seiten mit den Herrenanzügen. Dazu lehnt sich eine Blondine bewundernd an ihren korrekten und erfolgreichen Mann. Oder soll er vielleicht ihr Chef sein? Von #MeToo kannte man 1968 schließlich nur das Hashtag, und das hieß damals noch Rautezeichen.

Ziemlich genau 50 Jahre später, am Montag dieser Woche, gab die Otto Group bekannt, dass am 4. Dezember 2018 zum letzten Mal der Hauptkatalog des Handelshauses erscheinen soll. Die Otto-Callcenter registrierten daraufhin ein leicht erhöhtes Anrufvolumen besorgter Kunden.

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Doch betriebswirtschaftlich ist der Katalog für Otto mit seinen 52.000 Mitarbeitern und 13,65 Milliarden Euro Umsatz maximal unbedeutend. Selbst die Tochtergesellschaft Otto GmbH & Co. KG, in der das Versandgeschäft in Deutschland gebündelt ist, macht mit dem Katalog deutlich weniger als fünf Prozent ihres Umsatzes. Die kommen meist zustande, weil Kunden die Bestellnummern aus dem Katalog online bei Otto.de eingeben.

Die Auflage des Katalogs, die zu Hochzeiten bei zwölf Millionen Exemplaren lag, beträgt nur noch einen Bruchteil davon. Nachdem dann noch Michael Otto, Gründersohn, Aufsichtsratsvorsitzender und heutiger Übervater des Familienkonzerns, am Rande einer Firmenfeier das von seinen Managern avisierte Aus des Katalogs mit einem lakonischen „Ihr werdet wissen, was ihr tut“ beschied, stand dem Sieg des elektronischen Fortschritts nichts mehr im Weg.

Fast so alt wie die Bundesrepublik selbst

Mit dem Katalog endet zugleich ein Stück deutscher Parallelgeschichtsschreibung. Der Otto-Katalog ist annähernd so alt wie die Bundesrepublik, 1950 erschien seine erste Ausgabe. 300 Exemplare, die Fotos von Hand ausgeschnitten, einzige Produktkategorie: 28 Paar Schuhe. Seither zeichnet der Katalog zweimal im Jahr ein unverstelltes Bild der deutschen Konsumwirklichkeit. Was ins Otto-Sortiment kommt und mit welchen Bildern und Sprüchen es beworben wird, gehorcht der simplen Regel des Händlers: Es muss sich verkaufen.

Im Spiegel dieses Katalogs sieht das Jahr 1968 dann eben gar nicht mehr nach Revolution, sondern eher nach Restauration aus. Gerne bestellt in jenen Tagen: Siegelringe, Tischfeuerzeuge und die neckische Miniaturpostkutsche, die eine Whiskykaraffe mit zwei Gläsern plus Spieluhr enthält.

Auf Bitte des Handelsblatts hat Otto einen ganzen Aktenwagen mit Katalogen aus sechs Dekaden aus dem Archiv holen und in der Otto-Zentrale in einen „Social Space“ namens „Berg_Huette“ schieben lassen. Man muss sich darunter eine mit Flatscreens garnierte Melange aus Cafeteria und Besprechungszone vorstellen. Bereits die Kombination aus fehlendem Umlaut plus Underscore soll deutlich machen, dass man die Ära des bedruckten Papiers bei Otto aber so was von hinter sich gelassen hat. Ausgerechnet in dieser New-Work-Umgebung liegt nun ein Kubikmeter papierner Konsumgeschichte wie ein sperriges Relikt herum. 60 Jahre unverstellter Blick auf das, was den Bundesbürgern wirklich wichtig war, was sie kaufen und wie sie leben wollten.

Auch Tiere gab es im Katalog zu kaufen

1972, mittlerweile ist Willy Brandt Bundeskanzler, findet der Summer of Love seinen Weg dann doch noch in den Otto-Katalog. Auf einmal gibt es sie auch hier, die T-Shirts mit Jimi-Hendrix-Konterfei oder „Make Love, Not War“-Aufdruck. Die Männer, die sie präsentieren, tragen nun lange Koteletten zu breiten Kiefern und wirken wie die KGB-Agenten in einem James-Bond-Film mit Roger Moore.

Auf Seite 520 gibt es „springlebendige süße Ponys“ zu kaufen, „anspruchslos und sehr kinderlieb“, für 745 Mark, nur Vorkasse zuzüglich Frachtkosten. Rückenhöhe bei Kauf circa 89 Zentimeter, „ausgewachsen misst das Tierchen ca. 120 cm“.

Die Frauen, die ein paar Seiten weiter die Strumpfhosen präsentieren, haben 1972 obenrum plötzlich nichts mehr an – wobei kunstvoll drapierte Haare oder angewinkelte Arme die Brüste verdecken. Die ersten Slips und BHs sind nun an den entscheidenden Stellen durchbrochen, was der Katalogtexter als „Charmeuse mit Spitzenplain im Vorderteil“ umschreibt und 4,90 DM kostet.

An dieser Stelle müssen wir auf ein delikates Thema eingehen. Auf die Nachricht vom kommenden Aus des Katalogs entspann sich in sozialen Netzwerken eine kleine Debatte über eine wichtige Nebenfunktion, die der Otto-Katalog offenbar für viele männliche Jugendliche der Babyboomer-Generation erfüllt hat. „Die Unterwäscheseiten haben ganze Generationen aufgeklärt“, schreibt der Autor Max Scharnigg auf Twitter nach dem Einstellungsbeschluss. Eine kleine Umfrage unter Kollegen und Bekannten scheint Scharniggs These zu bestätigen:

„Na klar, auf dem Land hatten wir doch nichts anderes.“

„Internet gab’s halt noch nicht.“

„Ich ja nicht, aber mein Bruder, der hat ...“

Marc Opelt kann sich an dieser Stelle ein Grinsen nicht verkneifen: „Lassen wir es doch bei der Formulierung, dass der Otto-Katalog auch eine aufklärerische Funktion erfüllt hat.“ Der Vorstandschef der Otto GmbH und Co KG, Hose von Carrhart, keine Krawatte, hat 1990 gleich nach dem Studium bei Otto angefangen. Es war die Hochzeit des Versandhandels per Katalog. Amazon war damals nichts anderes als das englische Wort für einen Fluss in Südamerika und Jeff Bezos ein unbekannter Bankangestellter in New York. Ein Triumvirat aus Otto, Neckermann und Quelle dominierte den deutschen Versandhandel – und machte sich gleichzeitig brettharte Konkurrenz. Informanten in den Druckereien stachen die Preise in den neuen Katalogen der Konkurrenz durch, und wer noch konnte, ließ den eigenen Druck stoppen und passte die Preise schnell an.

Das Hochamt bei Otto in jener Zeit: die „Rücktitelmusterung“. Der Vorstand, damals noch unter Leitung von Michael Otto, stand um den Entwurf der besonders umsatzstarken Rückseite des Katalogs herum und beratschlagte, ob die dort angebotene Waschmaschine oder Stereoanlage im Bild nicht noch ein bisschen nach links oder rechts gerückt werden sollte. Wenn der neue Katalog dann draußen war, ging der firmeneigene Otto-Heißluftballon in Katalogform auf Deutschlandtournee.

Der Otto-Konzern tickte im Takt Katalogs

„Früher tickte der ganze Konzern im halbjährlichen Takt des Hauptkatalogs“, erinnert sich Opelt. „Und heute weiß ich gar nicht mehr, wann ich zuletzt über den Katalog nachgedacht habe – bis zu dieser Woche.“ An den alten Katalogen beeindrucken Opelt vor allem „diese endlosen Seiten mit Polyesteranzügen, und jedes zweite männliche Model hat eine Zigarette in der Hand.“

Opelt lässt keine daran Zweifel aufkommen, dass ihm die Zukunft mehr liegt als die Vergangenheit. Über dem USM-Sideboard in Opelts Büro prangt über die gesamte Wand der Slogan „Otto – wir machen digitale Zukunft“. Darunter steht das Buch „The Innovator’s Solution“, in dem Managementguru Clayton Christensen beschreibt, wie sich Traditionskonzerne neu erfinden können.

Auch bei Otto ist die Digitalisierung nicht perfekt gelaufen. Manches hätte schneller gehen können, vielleicht wäre Jeff Bezos mit Amazon dann zumindest in Deutschland nicht zum neuen Marktführer im Versandhandel aufgestiegen. Aber immerhin: Vom einstigen Triumvirat aus Otto, Quelle und Neckermann ist nur der Familienkonzern aus Hamburg-Bramfeld übrig geblieben. Das Handelsgeschäft von Otto läuft heute zum überwiegenden Teil digital, wächst und ist profitabel. Aus dem anfänglichen Innovator’s Dilemma, der fatalen Neigung von Traditionsunternehmen, zu lange am tradierten Geschäftsmodell festzuhalten, hat Otto mit einiger Verzögerung tatsächlich eine Innovator’s Solution gemacht, eine funktionierende Verbindung von Alt und Neu.

Doch selbst wenn der Verstand längst Richtung Zukunft marschiert, kann das Herz an der Vergangenheit hängen. Der Wagen mit den Katalogen im „Social Space Berg_Huette“ erregt zumindest einige Aufmerksamkeit. Eine ältere Mitarbeiterin beugt sich nachdenklich über den Katalog von 1982: „Kurz danach haben wir den Verkauf über BTX eingeführt. Da habe ich gedacht: In fünf Jahren brauchen wir keinen gedruckten Katalog mehr, das geht dann alles über den Fernseher.“

1982, in Bonn erobert Helmut Kohl die Kanzlerschaft. Und im Otto-Katalog sehen plötzlich alle Männer aus wie Kohl-Intimus Horst Teltschik: Föhnfrisuren, Pilotenbrillen, Schulterpolster. Im aufgeklappten Aktenkoffer („Echt Leder“, 79 DM) steckt als Dekoration eine Ausgabe von „Capital“. Weiter hinten im Katalog trainieren schnauzbärtige Jürgen-Hingsen-Typen mit nackten, tiefbronzierten Oberkörpern an den ersten Bodybuilding-Maschinen. Zum Schluss wirbt Otto für Ratenzahlung: „In jedem Fall ist der effektive Jahreszins nur 12 Prozent.“

Zum Einkaufen braucht den Katalog kaum noch jemand

Und wieder steht eine Otto-Mitarbeiterin neben dem Aktenwagen: „Mensch, das ist ja der Katalog mit der Schiffer vorne drauf. Genau so wollte ich damals aussehen.“

Auf die Schulterpolster-Ära der 80er-Jahre folgte die große Zeit der Supermodels. Otto leistete sich für seine Kataloge nun eigene Fotoproduktionen mit den ganz großen Namen. „Claudia Schiffer, Cindy Crawford, Ellen MacPherson, später dann Heidi Klum und Toni Garrn“: Marco Schubert kennt die Liste der Otto-Titelmodels noch heute auswendig. Schon als Kind hat sich Schubert seine ersten Buntstifte lieber bei Otto bestellt, statt sie im Schreibwarenladen an der Ecke zu kaufen. „Otto, das war große, weite Welt“, sagt der Grafikdesigner.

Schubert, Smartwatch zu Wildledersneakern, verantwortet heute die Markenführung von Otto und war lange für die Produktion des Hauptkatalogs verantwortlich: „Jede Seite musste strenge Umsatzvorgaben erfüllen, denn Platz im Katalog war unsere knappste Ressource.“ Dementsprechend stellte sich für Schubert immer die Frage: „Wie viele Produkte kann ich auf eine Seite packen? Wie knapp kann ich die Produktbeschreibung formulieren?“ Abwägungen, die sich in den unbegrenzten Weiten des Internet erübrigt haben.

Noch laufen die Überlegungen, wie sich das Ende des Katalogs mit einer ganz besonderen letzten Ausgabe zelebrieren lässt – oder ob sich das nicht mehr lohnt. Zum Einkaufen braucht den Katalog kaum noch jemand. Aber wer in 50 Jahren nach einer Zeitkapsel sucht, die eingefangen hat, wie die Deutschen im Jahr 2018 wirklich leben wollten, der sollte den letzten Otto-Katalog gut aufheben.