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Kein Wille, keine Vision, kein Wachstum: Was die Gründerkultur in Deutschland vernichtet

In Deutschland gibt es immer weniger Gründer. Gleichzeitig sterben die Unternehmertypen von früher aus. Das bedroht die Zukunft der Wirtschaft.

Die Zukunft der deutschen Wirtschaft ist bedroht. Foto: dpa
Die Zukunft der deutschen Wirtschaft ist bedroht. Foto: dpa
  • Die Gründerszene in Deutschland ist im Umbruch: Die junge Unternehmergeneration denkt anders als die Chefs der alten Traditionsunternehmen.

  • Schwierige Finanzierung und zu viel Bürokratie erschweren die Firmengründung in Deutschland zusätzlich.

  • Es muss sich viel ändern, auf allen Ebenen – von der Schule bis hin zum Insolvenzrecht.

  • Ein Gründer aus München kennt den Erfolgskurs besonders gut. Daniel Krauss von Flixbus erklärt im Interview mit dem Handelsblatt, wie er mit Wettbewerbern umgeht.

Mitten im Gespräch springt Dirk Roßmann von der kleinen Couch im Zentrum seines weitläufigen Büros auf, läuft zu dem grünen Tastentelefon auf seinem Schreibtisch. Er ruft Raoul an, seinen Sohn, der das Familienunternehmen inzwischen führt, und bittet ihn, mal hoch in sein Büro zu kommen. Fünf Minuten später tritt der 34-Jährige ein. „Jetzt kommt der Chef“, ruft Dirk Roßmann und zieht theatralisch den Kopf ein. „Wenn er mich lässt“, scherzt Raoul, als er sich neben den Vater setzt.

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Der 72-jährige Dirk Roßmann, Gründer des gleichnamigen Drogerieimperiums, ist ein Mann mit Humor. Der Machtwechsel ist ein sensibles Thema in seiner Generation von Männern wie Reinhold Würth (Jahrgang 1935), Dieter Schwarz (1939), Martin Herrenknecht (1942), Erich Sixt (1944).

Sie alle prägten die deutsche Wirtschaft in der Zeit nach dem Wirtschaftswunder – und tun es weit über jedes Rentenalter immer noch. Sie erschufen wie aus dem Nichts Milliardenunternehmen und verkörperten einen Unternehmertypus, dem Mario Adorf in „Kir Royal“ mit dem Kleinweilersheimer Klebstoff-Fabrikanten Heinrich Haffenloher ein satirisches Denkmal setzte. Bisweilen selbstherrlich und grobschlächtig, aber auch willensstark, visionär und vor allem: voller Wachstumswillen.

In den nächsten Jahren wird diese Unternehmergeneration der Haudegen endgültig abtreten. Und das just in einer Zeit, in der das Internet Geschäftsmodelle quer durch alle Branchen revolutioniert und Märkte durcheinanderwirbelt. Solche Umbruchzeiten bieten gute Chancen, um neue Imperien zu errichten. US-Internetkonzerne wie Amazon, Facebook und Google legen davon Zeugnis ab.

Wer macht sich diese Umbrüche in Deutschland zunutze? Welche jungen Pionierunternehmer haben heute die Visionen und die Willenskraft, um neue Weltkonzerne zu schmieden – so, wie es die Haudegen der alten Bundesrepublik zwei Generationen vor ihnen getan haben? Mit anderen Worten: Wer in Deutschland legt jetzt die Grundlagen für das Wachstum und die Arbeitsplätze der kommenden Jahrzehnte?

Die Antwort auf diese Frage fällt ernüchternd aus: kaum noch jemand. Gerade mal zwei erfolgreiche Unternehmen haben es in den vergangenen drei Jahrzehnten in den Börsenindex Dax 30 geschafft, die zu diesem Zeitpunkt gründergeführt waren: 1995 SAP und 2018 Wirecard. Dass oben immer weniger ankommen, liegt auch daran, dass unten immer weniger loslaufen.

Der Gründungsmonitor der Förderbank KfW verzeichnet für das vergangene Jahr 547.000 Unternehmensgründungen in Deutschland, minus zwei Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die sogenannte Gründerquote, die Zahl der Existenzgründer pro 100 Einwohner im Erwerbsalter, sinkt seit vielen Jahren.

Bedenklich in einer Zeit, in der sich die Wirtschaft abkühlt und Branchen wie die deutsche Autoindustrie vom technischen Umbruch bedrängt werden. Besorgniserregend ist der internationale Vergleich. Die OECD setzte Deutschland auf Platz 15 aller 36 Mitgliedsländer in Sachen digitaler Innovationsfähigkeit – noch hinter Australien oder Irland. Ein wesentlicher Faktor in der schlechten Bewertung: fehlende Start-ups.

Bei den USA oder China überrascht einen die Gründungsaktivität angesichts der Wachstumsdynamik wenig. Aber gemessen am Anteil der Gründer an der Bevölkerung liegt Deutschland auch hinter England, der Schweiz oder Frankreich.

Die Gründe für die Zurückhaltung der Gründer sind vielfältig. Da ist zum einen die Risikoscheu der jüngeren Generation. Nur zwei Prozent der Hochschulabsolventen denken an eine Gründung.

Viel attraktiver scheint der öffentliche Dienst zu sein, den immerhin fast zehn Prozent anstreben. Der lang anhaltende Wirtschaftsboom fordert in Deutschland seinen Tribut, junge Fachkräfte sind begehrt, die Wirtschaft umwirbt die Hochschulabsolventen. Entsprechend wollen mehr als die Hälfte von ihnen in einem Unternehmen arbeiten.

Zugespitzt formuliert: Es fehlt die Not. „Es gibt in Deutschland das ,Exist‘-Stipendium, bei dem Gründer zwei Jahre Geld vom Staat bekommen“, erzählt Flixbus-Gründer Daniel Krauss im Interview mit dem Handelsblatt. „Meiner Erfahrung nach sind die Stipendiaten aber langsamer und weniger erfolgreich als Unternehmer ohne Stipendium, weil sie sich mehr Zeit lassen konnten.“

„Charisma, Hunger und Empathie“, das sind laut Carsten Maschmeyer, Unternehmer, Investor und Juror der Gründersendung „Höhle der Löwen“, die drei Eigenschaften des erfolgreichen Gründers. Gründungen seien eine Frage der Geisteshaltung, des unbedingten Wollens.

Nach seiner Erfahrung scheitern Unternehmen meistens aus zwei Gründen: das falsche Team und ein schlecht organisierter Vertrieb. „Oft stellen zweitklassige Gründer drittklassige Mitarbeiter ein. Das kann nicht funktionieren“, sagt Maschmeyer.

Selbst wer hungrig geblieben ist, hat es nicht einfach. Anders als in anderen Ländern werden Gründer und Unternehmen von der Öffentlichkeit in Deutschland eher negativ und skeptisch angesehen. Bürokratie und deutsche Gründlichkeit erschweren jeden Schritt.

Wer die Anträge auf die Umsatzsteuer-Voranmeldung ausgefüllt bekommt, stößt auf richtig große Schwierigkeiten: kleiner Heimatmarkt, fehlende Finanzierung. In den USA werden jährlich 85 Milliarden Dollar an Risikokapital verteilt, hierzulande sind es nur drei Milliarden Dollar.

Der Pro-Kopf-Vergleich zeigt: In Deutschland wird achtmal weniger Wagniskapital als in den USA investiert. „Das muss sich ändern, so schnell wie möglich“, sagt Adam Bird, Senior Partner der bei der Unternehmensberatung McKinsey.

Ein Großteil der in Deutschland neu gegründeten Betriebe ist gar nicht darauf angelegt, Weltkonzern zu werden. Lediglich ein Viertel der Gründer ist wachstumsorientiert, das heißt, sie antworten in der KfW-Befragung auf die Frage nach der angestrebten Unternehmensgröße: „so groß wie möglich“. Gerade einmal elf Prozent sind innovativ, das heißt, sie betreiben Forschung und Entwicklung, um eine Innovation zur Marktreife zu bringen.

Der Seriengründer und Tech-Investor Frank Thelen zweifelt daran, dass dieser vergleichsweise kleine Pool an Unternehmen ausreicht, um die Generation der Wirtschaftswundertäter zu ersetzen. „Was bisher den Erfolg deutscher Unternehmen auszeichnete, war Fleiß, Genauigkeit und harte, ausdauernde, ehrliche Arbeit.“

Das seien alles wichtige und wertvolle Eigenschaften. Aber die Zeit der Digitalisierung und der disruptiven Technologien erfordere mehr: „den Mut, Fehler zu machen, und die Bereitschaft, groß zu denken“. Deutschland habe erstklassige Ingenieure und Techniker, nur müssen die „ihre Erfindungen aus den Laboren und Forschungsinstituten zu weltweitem Erfolg zu führen“.

Viel versprochen, wenig gehalten

Christian Höhl ist Physiker. Als er noch im Raum Darmstadt freiberuflich als technischer Berater arbeitete, da passierte ihm etwas Kurioses. Für einen Kunden sollte Höhl bei der Entwicklung einer Messtechnik mitwirken. Dabei entstanden unverhofft Probleme. Seine Lösungsideen kamen beim Kunden gut an – zu gut. Der ließ sie sich patentieren. „Ich hatte offensichtlich wertvolle Ideen, und mein ganzes Wissenskapital habe ich dem Kunden für einen Stundenlohn überlassen“, sagt Höhl.

Die Idee zur Firmengründung reift in dem 38- Jährigen. Mit einem Freund, den er seit der fünften Schulklasse kennt, arbeitet er im Sommer 2017 an einem kamerabasierten Messtechnik-Produkt und sucht einen Geldgeber. Im Dezember 2017 wollten sie eigentlich die Firma gründen. Aber die notwendigen Fördergelder blieben aus. Es gebe zwar ein breit gefächertes Angebot an Fördergeldern, jedoch verlangten die Behörden einen sehr detaillierten Businessplan für die nächsten Jahre.

Höhls Produkt befand sich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch in der Entwicklung. Im innovativen Bereich sei es schwieriger, einen Liquiditätsplan „für die nächsten zwei oder drei Jahre mit Ausgaben und Einnahmen zu erstellen“. Dabei habe er sich „als Gründer oft alleingelassen gefühlt“.

Für Höhl und seinen Partner war die Phase der Gründung ein Vollzeitjob. Nachdem sie ihrem Bankberater zum vierten Mal einen umfangreichen Businessplan eingereicht hatten, stießen sie an ihre Grenzen. „Wir haben in den sieben Monaten bei der Finanzierungsfindung den Lebensunterhalt unserer Familien mit unserem Ersparten finanziert“, erklärt der zweifache Familienvater. Dann entschieden sie sich, die GmbH nicht zu gründen.

Die große Ernüchterung. Dabei setzte die Start-up-Szene viel Hoffnung in die neue Bundesregierung. Die Große Koalition sei mit vielen Ankündigungen in die Legislaturperiode gestartet, sagt Florian Nöll, Vorsitzender des Bundesverbands Deutscher Start-ups. Doch von den Versprechen „ist bislang kaum etwas umgesetzt worden“, klagt er.

Sein Verband hat auf drei DIN-A4-Seiten aufgelistet, welche Versprechen aus dem Koalitionsvertrag zur Halbzeit der Legislaturperiode umgesetzt sind, welche sich zumindest in Arbeit befinden und bei welchen kein Fortschritt erkennbar ist. Auf drei grüne Haken für „umgesetzt“ kommen zwölf rote Kreuze für „nicht umgesetzt“. So fehlt der vollmundig angekündigte „Digitalfonds für Deutschland“, über den es institutionellen Investoren leichter gemacht werden soll, Kapital in Start-ups zu stecken.

Ebenso wenig kam der versprochene bundesweite Ansprechpartner für Datenschutzfragen. Es bestehen weiterhin nebeneinander 18 Datenschutzbehörden, die sich in der Rechtsauslegung oft widersprechen – ein Wachstumshindernis vor allem für junge Internetunternehmen. Unerfüllt blieben bislang auch die Versprechen für ein moderneres Insolvenzrecht, eine befristete Befreiung von der monatlichen Umsatzsteuer-Voranmeldung für junge Unternehmen und allgemein weniger Bürokratie für Gründer.

Von 300 befragten Start-up-Gründern geben laut Digitalverband Bitkom 63 Prozent an, dass sie unzufrieden mit der Ausführung amtlicher Angelegenheiten sind, so seien öffentliche Stellen schwer zu erreichen. „Ein Bürokratieabbau, eine effiziente Verwaltung und eine gründerfreundliche Steuerpolitik am Standort Deutschland wären wünschenswert“, meint Tristan Niewöhner, der selbst mit seinem ersten Start-up scheiterte und heute junge Unternehmen berät.

Die geringe Zahl von wachstumsorientierten Unternehmensgründungen in Deutschland gefährdet auf Dauer den Wohlstand in der Bundesrepublik. Es sei wichtig, das Thema politisch und kulturell hoch zu hängen. „Kapitalgeber oder auch private Investoren müssen konkret angesprochen und umworben werden“, fordert McKinsey-Partner Bird. Ein positives Beispiel ist der französische Präsident Emmanuel Macron. Jährlich lädt er zu einem Tech-Summit „Viva Tech“ mit Promifaktor in Paris ein.

Er signalisiert: Der Präsident persönlich kümmert sich um das Thema Unternehmertum. „Deutschland war in den vergangenen 100 Jahren von Technologie und Entwicklung getrieben“, fasst Bird zusammen. Jetzt lebe das Land von seiner Substanz.

Konzerne, in denen die Gründer oder ihre Nachfahren keine Rolle mehr spielen, schaffen im Schnitt deutlich weniger Arbeitsplätze als solche, in denen die Unternehmerfamilie noch eine Rolle spielt. Zwischen 2007 und 2016 steigerten die 27 Dax-Konzerne, die nicht von Familien kontrolliert werden, die Zahl ihrer Beschäftigten um vier Prozent auf 1,55 Millionen.

Eine bescheidene Bilanz angesichts von zehn Jahren Dauerwachstum in Deutschland. Jene deutschen Unternehmen, hinter denen eine Unternehmerfamilie steht, nutzten den Boom anders – zum Wohl der Gesellschaft. Die Zahl ihrer Beschäftigten wuchs um 27 Prozent auf 2,54 Millionen Menschen.

Aber auch der Erfolg von Unternehmerdynastien währt nicht ewig. Man muss nicht gleich so weit gehen wie Otto von Bismarck, dem folgender Satz über Familienunternehmen zugeschrieben wird: „Die erste Generation verdient das Geld, die zweite verwaltet das Vermögen, die dritte studiert Kunstgeschichte, und die vierte verkommt vollends.“ Aber ganz falsch lag der erste Kanzler des Deutschen Reichs mit seiner Einschätzung auch nicht.

Die Sturm-und-Drang-Zeit eines Unternehmens ist meist untrennbar mit einer, maximal zwei Generationen verbunden. Das Geschäftsmodell hat sich überlebt, der Erbengeneration fehlt der nötige Biss zur Erneuerung. Deshalb braucht jede Volkswirtschaft einen regelmäßigen Nachschub an Pionierunternehmern, wenn sie nicht erstarren will.

Diesen Nachschub kann es auch in Deutschland geben, ist Christian Leybold überzeugt. Als Managing Partner des Wagniskapitalunternehmen Eventures gehört er zu den wichtigsten Geldgebern für wachstumsorientierte Internetunternehmen in Deutschland.

„Auch wenn die Zahl der Gründer zahlenmäßig nicht steigt: Das Ökosystem aus Hochschulen, Wagniskapitalgebern und Gründerteams ist in Deutschland in den vergangenen Jahren kontinuierlich besser geworden“, sagt Leybold. „Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis aus diesem Ökosystem auch in Deutschland wirklich große, gründergeführte Konzerne hervorgehen werden.“

Das Besondere an Eventures: Das Unternehmen verwaltet in seinen Fonds vor allem die Wagniskapitalinvestments der großen deutschen Familienkonzerne, etwa von Kärcher, Otto oder der Schwarz-Gruppe (Lidl). Die Protagonisten das alten Wirtschaftswunders investieren bei Eventures in ein mögliches neues.

Es lohnt sich, einen genaueren Blick auf die Haudegengeneration zu werfen. Darauf, was die Gründer von damals angetrieben hat und bis heute antreibt und wie sie sich von heutigen Unternehmern unterscheiden. Womöglich hilft das, zu verstehen, wie Deutschland den Gründergeist jener Jahre wiederbeleben kann.

Rebellion gegen Familie und Gesellschaft?

Auf dem Aktenschrank gegenüber von Büro A. 4.0.27 steht eine kleine Skulptur in einem Glaskästchen. Ein älterer Mann in Matrosenuniform, mit Halbglatze und karikaturesk markanter Nase. Der hält ein rotes Steuerrad, in dessen Mitte sich ein Zentaur aufbäumt – der mythologische Pferdemensch oder eben: der Ross-Mann.

Dirk Roßmann hat in viereinhalb Jahrzehnten ein Drogerieimperium mit mehr als zehn Milliarden Euro Umsatz und 56.000 Mitarbeitern erschaffen, er ist mehrfacher Milliardär. Vor einigen Monaten hat der 72-Jährige seine Biografie veröffentlicht.

Die ausgiebige Radiowerbekampagne, die er danach schaltete, ist ihm heute etwas peinlich. Eine gerahmte Seite der „Spiegel“-Bestsellerliste aus der Woche, in der „…dann bin ich auf den Baum geklettert!“ auf Platz eins stand, hängt natürlich trotzdem neben seiner Tür.

Roßmann erzählt in dem Buch von seiner schwierigen Kindheit. Die väterliche Drogerie steht regelmäßig so kurz vor der Pleite, dass Bernhard Roßmann ranzige Cremes auf dem Dachboden lagert, um sie nicht abschreiben und Insolvenz anmelden zu müssen. „Väterlich“ trifft es nicht so ganz: Roßmann ist ein Kuckuckskind, sein leiblicher Vater ist ein Freund der Familie.

In der Mittelschule gilt der junge Dirk als „nicht besonders intelligent“ und leidet unter der Brutalität der Lehrer, von denen einer einen Schüler mal fast besinnungslos schlägt. „Die Leute waren verstört“, sagt Roßmann über diese Zeit. In den Schulen unterrichteten vielerorts heimgekehrte Nazis, traumatisiert vom Krieg und bewaffnet mit dem Rohrstock. „Auch ich war ziemlich kaputt“, erinnert er sich.

Die Journalistin Sabine Bode hat viel über die Generation der Kriegskinder geschrieben. Jene, die zu jung für den Volkssturm war, aber in ihren ersten Lebensjahren das zerstörte Land, die Lebensmittelkarten, die psychisch zerrütteten Kriegsheimkehrer und die Altnazis erlebte.

Viele der späteren Weltunternehmer hatten eine wenig glückliche Kindheit. Wie bei Roßmann sind ihre Eltern oft selbst Kleinunternehmer, die ihre Söhne weniger zu schulischen Höhenflügen als zum frühen Eintritt in die Familienfirma antreiben.

Statt Selbstverwirklichung ist Disziplin die Kardinaltugend der Adenauer-Jahre. Günter Fielmann will Fotograf werden, was ihm sein Vater verbietet. Also lernt er in Hamburg Optiker. Adolf Würth meldet seinen 14-jährigen Reinhold 1949 von der Schule ab, weil er einen Lehrling braucht. Fünf Jahre später stirbt der Vater. Reinhold Würth, noch nicht einmal volljährig, ist plötzlich für den Wohlstand der Familie verantwortlich.

Bode hat festgestellt, dass viele erfolgreiche Männer aus dieser Generation kein Vatervorbild hatten. Viele Väter waren gefallen, traumatisiert oder zumindest zeittypisch distanziert. „Das ist eine unglaublich gute Motivation, etwas Eigenes aufzuziehen, sich nicht abhängig zu machen.“

Eine Kindheit voller Unsicherheit, Enge und Pflichtgefühl verbindet viele Haudegen. Dirk Roßmann bricht die Schule und die Ausbildung zum Drogisten ab, hadert als Teenager mit Haarausfall und Misserfolg bei den Mädchen.

Roßmann kann heute vergnügt davon erzählen, er lümmelt nun mit einem angewinkelten Bein auf der Couch: „Die einen scheitern und verzweifeln daran. Und die anderen sagen aus der Frustration heraus: Jetzt erst recht! Ich lass mich nicht unterkriegen!“ Den letzten Satz schreit er nahezu, als müsste er sein jüngeres Ich noch einmal einschwören.

Anders als die Unternehmergeneration des späten 19. Jahrhunderts, zu der Gottlieb Daimler, Robert Bosch oder Werner von Siemens gehören, war die Haudegengeneration keine Tüftlergeneration, sondern eine der Verkäufer und Internationalisierer. Was ihnen an Technik- oder Managementwissen fehlte, machten sie durch Willenskraft, Risikobereitschaft und Kreativität wett. Dass es eine Truppe von Außenseitern war, scheint auf ihrem Weg nach oben geholfen zu haben. Scheitern war keine Option.

Sicher, ganz unten geht es heute noch immer rau zu in der Republik. Doch drei Viertel des Landes leben mittlerweile in einer wohlig gedimmten Mittelschichtsexistenz. Unternehmertum als Ausbruch aus einer verkorksten Biografie, als Rebellion gegen familiäre und gesellschaftliche Enge? Das hat kaum noch einer nötig.

Der Nachfolger steht vor Problemen

Wie sehr sich die Zeiten und Mentalitäten geändert haben, zeigt sich im direkten Vergleich zwischen Dirk und Raoul Roßmann: Der Sohn von Dirk Roßmann und seiner zweiten Frau Alice machte seine Ausbildung im Unternehmen. Schon als er damit anfing, war das Familienunternehmen international erfolgreich. „Mit dem Unternehmersein fremdele ich ein bisschen“, sagt Raoul Roßmann.

„Ich denke darüber nach, wie ich Rossmann weiterentwickeln kann, nicht, wie ich dem Unternehmen meinen Stempel aufdrücke. Dazu ist mir zu bewusst, was wir jetzt schon haben.“ Raoul Roßmann wägt seine Worte, blickt beim Sprechen meist durch die langen Fenster in die Landschaft.

„Er ist sehr anders“, sagt Dirk Roßmann, als sein Sohn wieder an die Arbeit gegangen ist. „Ehrgeiz, Mut, eine gewisse Unbedarftheit und Glück“ seien die Faktoren zu einem Erfolg gewesen.

In den späten 60er- und frühen 70er-Jahren, in denen die meisten Haudegen ihre Unternehmen übernehmen oder gründen, sind das genau die passenden Voraussetzungen: Die karge Nachkriegszeit ist vorbei, das Wirtschaftswunder hat in ganz Europa eine kaufkräftige Mittelschicht geschaffen. Die Gründung der Europäischen Gemeinschaft 1957 schafft einen Binnenmarkt, in dem sich von Deutschland aus Europa erobern lässt.

Auch in Deutschland tun sich plötzlich neue Märkte auf: Als 1972 die Preisbindung für Drogerieartikel fällt, teilen schnell vier Unternehmer derselben Generation den deutschen Markt unter sich auf: Neben Roßmann sind das dm-Gründer Götz Werner, Anton Schlecker und Erwin Müller, ein Friseur, der aus seiner Innung geflogen war, weil er seinen Laden entgegen deren Statuten auch montags öffnete.

„In ein paar Jahren wird es in Deutschland keine 20.000 Drogerien mehr geben, die alle 300 D-Mark am Tag umsetzen“, sagt Roßmann, habe er sich damals gedacht. „Das habe ich in einer Sekunde verstanden. Andere hatten den Gedanken auch, aber die waren nicht so schnell.“

Was Roßmann da schildert, ist ein Lehrbuchbeispiel für einen Pionierunternehmer, wie es der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter 1912 in seiner „Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung“ beschrieben hat: Entschlossen setzt der Pionierunternehmer einmal erkannte Innovationen bei Produkten oder Produktionsverfahren um, errichtet oder durchbricht Monopole und zerstört dadurch alte Marktstrukturen – die berühmt gewordene „schöpferische Zerstörung“.

Der erfolgreiche Pionierunternehmer streicht satte Gewinne ein, wobei es ihm darum meist gar nicht geht. Denn viel wichtiger, als reich zu werden, ist es ihm, ein Reich zu errichten. Der Unternehmer im Schumpeter’schen Sinne ist ein Getriebener, der gar nicht anders kann, als immer weiter zu wachsen, weil er überall ungenutzte Chancen sieht.

In Abgrenzung zum echten Pionierunternehmer schildert Schumpeter den Typus des „Wirts“: Dem genügt es, mit den vorhandenen Produkten und Produktionsverfahren vor sich hin zu wirtschaften. Damit eckt er deutlich seltener an. Aber Innovation und Fortschritt schafft er nicht. Schumpeter war zutiefst pessimistisch, was die Zukunft des Kapitalismus angeht. Er rechnete damit, dass in immer größeren Teilen des Wirtschaftslebens die Wirte dominieren und die Pioniere verdrängen.

Das wäre durchaus rational, denn die meisten Pionierunternehmer scheitern an ihren eigenen Visionen. Florian Nöll vom Start-up-Verband spottet darüber, dass die meisten Jungunternehmer zum Glück nicht so genau Bescheid wüssten über die katastrophalen Folgen einer Insolvenz für die eigene Biografie, „sonst würden noch weniger gründen“.

Warum aber investiert der Unternehmer, wenn es so riskant ist? Genau das ist für Jens Beckert, Soziologe und Direktor des Max-Plack-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, „die Schlüsselfrage“: Natürlich glaube man als Unternehmer an den Erfolg.

„Doch die Entscheidungen basieren eben nicht einfach auf rationaler Kalkulation“, so Beckert. „Da kann man viel von Keynes lernen und seinem Begriff der ,Animal Spirits‘.“ Ohne diese animalischen Instinkte „kämen die meisten unternehmerischen Aktivitäten zum Erliegen, die Investoren würden nur noch Bargeld halten, die Wirtschaft würde in eine Depression rutschen“.

Sind wir in Deutschland womöglich heute an diesem Punkt angelangt? Behält Schumpeter mit einigen Jahrzehnten Verspätung doch noch recht? Stirbt mit den Pionierunternehmern der Wirtschaftswunderjahre auch der unternehmerische „Animal Spirit“ aus und mit ihm die Kraft zu radikaler Innovation?

Flixbus als Ausnahme unter den deutschen Start-ups

Wenn ja, dann wäre André Schwämmlein eine Ausnahmeerscheinung. Der Ausbruch aus einer verkorksten Biografie kann nicht sein Motiv gewesen sein. Und dennoch: Fast 40 Jahre nachdem Dirk Roßmann und einige andere das frisch liberalisierte Drogeriegeschäft aufgemischt haben, zieht auch der damalige Berater der Boston Consulting Group (BCG) die richtigen Schlüsse aus einer veränderten Marktsituation.

In München sitzen Schwämmlein und sein Beraterkollege Jochen Engert am Ende ihrer 60-Stunden-Woche jeden Freitag mit Schwämmleins Schulfreund Daniel Krauss zusammen, um sich Geschäftsideen zuzuwerfen, um sich zu dritt selbstständig zu machen. Irgendwann in diesen Monaten liest Schwämmlein einen Artikel über die bevorstehende Liberalisierung von Fernbusreisen.

„Es war klar, dass das ein Riesenmarkt wird“, sagt Daniel Krauss heute. Aber eben einer, um den sich Flixbus, das die drei Freunde rasch gründen, mit anderen Start-ups, mit der Bahn, der Post und mehreren internationalen Reisekonzernen zankt.

Kein Jahrzehnt später gibt es in Deutschland nur noch einen relevanten Fernbusbetreiber – Flixbus. Auf ihrer rasanten Fahrt an die europäische Spitze haben Krauss, Engert und Schwämmlein kleine und große Konkurrenten abgehängt und abgedrängt. In einer neuen Finanzierungsrunde wird Flixbus mit einem Gesamtwert von zwei Milliarden Euro bewertet.

Seit vergangenem Jahr fahren ihre Busse auch in den USA. Über das Wort „ihre“ kann man debattieren, das Digitalunternehmen besitzt nur einen einzigen Bus – aus regulatorischen Gründen. Ganz zeitgemäß ist Flixbus ein Plattformunternehmen, das Marketing, Vertrieb und Organisation des Busverkehrs digital steuert – die eigentlichen Fahrten erledigen aber mittelständische Busunternehmen.

Zwischen Dirk Roßmann und den Flixbus-Gründern liegen Jahrzehnte – dennoch gibt es bemerkenswerte Parallelen. Als die Politik einen neuen Markt schuf, zögerten beide nicht lange und besetzten Märkte, bevor es jemand anders tun konnte: „Wenn Märkte aufgeteilt sind, ist es unheimlich schwer für einen Neuen, Geld zu verdienen“, sagt Roßmann über seinen zweiten Expansionsschub, als er „ganz schnell 100, 200 Läden in Ostdeutschland und bald danach auch in Polen aufmachen“ musste.

Ganz ähnlich klingt Flixbus-Chef Schwämmlein, wenn er über die US-Expansion der Münchener spricht: „Wenn jemand uns in den USA kopiert hätte, dann hätten wir da eigentlich keine Chance mehr gehabt.“

Trotzdem trauen sich diesen Schritt in die USA nur wenige deutsche Start-ups zu. Auch nicht Oliver Samwer, der mit seiner Start-up-Fabrik Rocket Internet „die größte Internetplattform außerhalb der USA und Chinas“ aufbauen wollte.

Die meisten Samwer-Unternehmen meiden die USA, weil sie ihre Ideen für neue Geschäftsmodelle von dort kopiert hatten. Samwer hatte seine ersten Millionen mit dem Verkauf seines deutschen Ebay-Klons Alando an das US-Original gemacht, mit seinem Geld förderten er und seine beiden Brüder das deutsche Airbnb (Wimdu), das deutsche Facebook (StudiVZ), das deutsche Twitter (Frazr).

Ausbruch aus einer verkorksten Biografie? Spielt auch bei den Samwers keine Rolle. Sie entstammen einer Juristenfamilie aus der Kölner Oberschicht, alle drei haben selbstverständlich studiert.

Tatsächlich ist Oliver Samwer, der unumstrittene Anführer der drei Brüder, eine Art Transitionsfigur zwischen den alten und den neuen Unternehmern: Habituell ist er den alten Haudegen durchaus ähnlich, ein schneller, oft barscher Entscheider, der gerne die Kontrolle behält.

Samwer bezeichnet sich selbst als den „Schrauben-Würth“ des Internets. Doch unternehmerisch sind Samwer und die neue deutsche Gründerwelle, die er auslöst, anders geprägt: Die neuen Haudegen aus der Samwer-Schule sind bereit – müssen bereit sein –, früh Unternehmensanteile an Investoren zu verkaufen, um ihr Wachstum finanzieren zu können.

Der Internetkapitalismus, in dem Flixbus oder auch der mittlerweile im MDax gelistete Essenslieferant Delivery Hero groß geworden sind, ist zu schnelllebig, als dass sich die Marktführerschaft mit Eigenkapital oder Bankkrediten erobern ließe.

Die hohen Marketingausgaben und den Aufbau internationaler Büros binnen Monaten nach der Gründung finanziert keinem Start-up die örtliche Sparkasse. Dazu braucht es Angel-Investoren und Venture Capitalists (VCs), die Kapital gegen Anteile und damit Mitspracherechte tauschen.

Gefangen im „Tal des Todes“

In den Gesetzmäßigkeiten dieses Wagniskapitalgeschäfts verbirgt sich ein weiterer entscheidender Grund, warum in Deutschland so wenige Unternehmensgründungen zu Weltkonzernen heranwachsen: das „Tal des Todes“, eine Lücke im deutschen Wagniskapitalmarkt, die vielen Start-ups den vorzeitigen Exitus beschert.

„Es ist in Deutschland relativ einfach, eine Anschubfinanzierung für ein vielversprechendes Geschäftsmodell zu bekommen“, so Verbandschef Nöll. Das liege auch daran, dass der Markt für dieses sogenannte Seed-Stage „mehrheitlich staatlich induziert“ sei. Ein Großteil des Kapitals stamme aus öffentlichen Quellen, etwa über die Gründerförderung der KfW.

Doch im Anschluss fehle es oft an Kapitalgebern für die sogenannte Erstrundenfinanzierung, in der es gilt, das Unternehmen auf einen möglichst schnellen Wachstumspfad zu katapultieren: „In Deutschland gibt es vergleichsweise wenige Wagniskapitalfonds die in dieser Phase aktiv sind, und niemand kommt extra aus San Francisco rüber, um hier zwei Millionen in ein Start-up zu stecken.“

Erst in späteren Finanzierungsrunden, wenn die Investments und damit die möglichen Gewinne größer werden, seien deutsche Start-ups auch für US-Investoren interessant. Nöll: „Das geht so ab zehn Millionen los.“

Die Folge dieser Finanzierungslücke: Weil die frühen Investoren stets damit rechnen müssen, dass der Finanzierungsprozess in einer der nächsten Runden abreißt, sind sie vergleichsweise risikoavers und drängen häufig auf einen frühen Verkauf der Unternehmen, um ihre Gewinne mitzunehmen.

In den USA hingegen gilt: Solange ein Unternehmen seine prognostizierten Wachstumszahlen erfüllt, ist die Anschlussfinanzierung zu jedem Zeitpunkt gesichert. US-Start-ups können sogar mit Milliardenbewertungen an die Börse gehen, ohne sich auch nur in der Nähe der Gewinnschwelle zu bewegen.

Das mag betriebswirtschaftlich nicht immer vernünftig anmuten, aber weil der lukrative Ausstieg ab einem bestimmten Stadium kaum noch infrage steht, lassen Wagniskapitalgeber in den USA ihren Beteiligungsunternehmen vergleichsweise viel Raum zum Wachsen.

Auch Wagniskapitalmanager Leybold kennt dieses Tal des Todes, sieht dafür aber weniger die Kapitalgeber in der Verantwortung: „Es ist durchaus normal, dass es zwischen der Seed-Finanzierung und der ersten Wachstumsrunde, der sogenannten Series A, für viele Start-ups nicht weitergeht, schließlich bedeutet diese Phase den Unterschied zwischen einer überzeugenden Powerpointpräsentation und dem Praxistest von Geschäftsmodell und Gründerteam.“

Wenn man als Unternehmer in diesem Tal des Todes sterbe, liege es natürlich nahe, statt des Geschäftsmodells das fehlende Wagniskapital verantwortlich zu machen. Leybold: „Die Wahrheit liegt wahrscheinlich in der Mitte.“

Die Haupthürde für die Finanzierung von Gründern sieht er eher in der mangelnden Ausdifferenzierung der Wagniskapitalbranche in Deutschland: „Schwierig wird es immer dann, wenn man sich mit seiner Unternehmensidee außerhalb der Norm bewegt.“

Bei speziellen Anwendungen etwa in der Robotik sei es vergleichsweise schwierig, in Deutschland an einen passenden Wagniskapitalgeber zu geraten. „In den USA hingegen findet sich für jedes erdenkliche Gebiet ein Wagniskapitalgeber mit einer entsprechenden Expertise.“

Gerade die erfolgreichsten deutschen Start-ups haben ihre Investoren oft in den USA gefunden, der Einstieg eines VCs von der US-Ost- oder -Westküste gilt für deutsche Start-ups als Ritterschlag. Bei Flixbus war es der Einstieg der Finanzinvestoren General Atlantic, Silverlake und Permira. Wenn es einmal schlechter liefe, könnten die Investoren die Flixbus-Chefs jederzeit entmachten. „Unsere Investoren wissen, dass gründergeführte Unternehmen erfolgreicher sind“, sagt Krauss dazu.

Schon deshalb haben die neuen Unternehmer nicht das Zeug zum Patriarchen: Leute, die ihnen reinreden, sind fast von Beginn ihrer unternehmerischen Reise mit dabei. Flixbus hat drei gleichberechtigte Gründer, einen Kaufmann, einen Programmierer, einen Visionär. Die drei Chefs von Zalando teilen sich bis heute ein Büro. Die flachen Hierarchien, die offenen Bürotüren sind manchmal, aber nicht immer Fassade. Ein Haudegen alter Prägung hätte damit Probleme.

Gesamtwirtschaftlich bringt der US-Einfluss auf die Kultur der neuen deutschen Unternehmen aber auch Gefahren: Viel von der Wertschöpfung, die die erfolgreichsten deutschen Gründungen der vergangenen Jahre geschaffen haben, landet auf den Konten ausländischer Investoren, statt ein Kunstmuseum in Künzelsau oder höhere Gehälter für die Mitarbeiter zu finanzieren.

Die neue deutsche Gründerszene ist internationaler und großstädtischer als die alte. Digitalunternehmen neigen zu Clustern, dort ziehen ihre jungen, oft aus dem Ausland stammenden Mitarbeiter eher hin, dort wollen viele Unternehmer auch selbst lieber leben. Oliver Samwer scharte die Gründer, in die er investierte, in Berlin um sich. Selbst die Flixbus-Gründer, die alle aus Franken stammen, gründeten in München.

Was passiert mit dem regional ausgeglichenen (west)deutschen Wirtschaftsmodell, wenn sich die Champions von morgen alle in den Großstädten ballen? Wenn die Unternehmer für Heimatsentimentalitäten im Zweifel keinen Nerv mehr haben, sondern dorthin ziehen, wo es die Wettbewerbsbedingungen oder die Investoren diktieren?

Austausch zwischen jungen und alten Unternehmern

Weilheim auf der Schwäbischen Alb. Neben dem Bahnhof, von dem die Hohenzollerische Landesbahn jede Stunde in die Kreisstadt Tuttlingen fährt, steht das Rathaus und davor zwei Wegweiser. Ein kleiner, der in Richtung von Friedhof, Kirche, Pfarramt und Sparkasse zeigt. Und ein großer, türkisfarbener, der auf die Marquardt-Zentrale verweist. Das trifft die Größenverhältnisse hier ganz gut.

Ein schwäbischer Automobilzulieferer, der mehr als eine Milliarde Euro Umsatz macht. Früher kannte man das Unternehmen als den „Schalter-Marquardt“, der Schalter für Staubsauger und Kofferradios baute. Heute entwickelt das Unternehmen unter anderem Batteriemanagementsysteme für Elektroautos.

„Wir wollen den Menschen, die sich uns gegenüber committen, hier eine Zukunft geben“, sagt Harald Marquardt. Der 57-Jährige führt das Familienunternehmen seit 1996 in dritter Generation, den Umsatz verzehnfachte er in seinen 23 Jahren an der Spitze, gründete Standorte in China, Indien und Rumänien. In vielen Details wirkt Marquardt – grauer Haarkranz, ansteckendes Lachen – wie der wohlwollende Unternehmerfürst aus der Generation seines 1928 geborenen Vaters.

Doch Marquardt wägt seine unternehmerischen Entscheidungen genau ab: „In einer größeren Stadt sind wir einer von vielen. In München konkurrieren wir mit Siemens, Microsoft, BMW. In Stuttgart mit Bosch und mit Daimler“, sagt er. „Wer hier zu uns kommt, ist kein Jobhopper. Der will bleiben.“

Einer, der kam, aber nicht blieb, war Daniel Krauss. Der spätere Flixbus-Gründer hatte seinen ersten Job nach dem Studium als Entwickler bei Marquardt, arbeitete in Weilheim und in Detroit für den Zulieferer, bevor er zu Microsoft nach München wechselte. Als den Menschen, der ihn beruflich am meisten prägte, bezeichnet er bis heute: Harald Marquardt.

Als bei Marquardt in der Weltwirtschaftskrise 2008 ein Viertel des Umsatzes wegbricht und Entlassungen drohen, fällt der Unternehmer keine einsame Entscheidung.

Der Chef ruft die „jungen Wilden“ zusammen, eine Handvoll Nachwuchskräfte, die die Geschäftsleitung beraten sollen. „Sie sollten auch abstruse Vorschläge machen, ohne vor uns zu kuschen“, erinnert sich Marquardt. „Wenn wir immer mit Abteilungsleitern zusammensitzen, wo sollen neue Ideen herkommen, in einer Krise, wie wir sie noch nie hatten?“

Einer der „jungen Wilden“ ist Daniel Krauss. Die Beratergruppe mietet eine Turnhalle, veranstaltet ein Event namens „World Café“, in dem Mitarbeiter verschiedener Abteilungen über Lösungen diskutieren sollen. Andererseits verlangen die „jungen Wilden“ auch radikale Lösungen. „Sie haben zum Beispiel vorgeschlagen, ganze Abteilungen dichtzumachen oder outzusourcen“, erzählt Marquardt. „An manchen Stellen mussten wir ziemlich bremsen.“

Am Ende baute Marquardt das Unternehmen behutsamer um, als es der spätere Flixbus-Gründer getan hätte. Doch Marquardt und Krauss blieben in Kontakt, auch nachdem der „Junge Wilde“ das Familienunternehmen längst verlassen hatte.

Es ist selten, dass Unternehmer alter und neuer Schule einen so engen Austausch pflegen über Werte, Traditionen und die Frage, wie man eine Firma erfolgreich führt. Es ist eine Frage, die man heute wohl anders beantworten muss als Ende der 1960er- und 1970er-Jahre, als die Haudegen zu ihren späteren Welterfolgen ansetzten – in einem historisch günstigen Moment, als auch ein Schulabbrecher mit unbedingter Willenskraft und einer guten Idee ein Milliardenunternehmen schaffen konnte.

Unter den Gründern von heute ist „Serial Entrepreneur“ ein beliebteres Wort als „Lebenswerk“, die Erben der Haudegen dagegen haben nicht mehr ihren Wachstumshunger und ihre Risikofreude. Sie werden aus zehn Milliarden Euro Umsatz kaum hundert Milliarden machen, ihr Unternehmen vermutlich aber auch nicht so krachend gegen die Wand fahren wie Anton Schlecker. Sie haben Imperien zu regieren, nicht zu erobern.

Damit es auch in Zukunft noch genug Gründer in Deutschland gibt, die Reiche errichten wollen, statt einfach nur reich zu werden, muss auch die deutsche Gesellschaft Unternehmertum als selbstverständliche Option nicht nur akzeptieren, sondern propagieren.

Das beginnt in der Schule, wo unternehmerische Planspiele den Schülerinnen und Schülern das Gründen als realistische Möglichkeit vermitteln können. Es setzt sich fort in einer toleranteren Fehlerkultur, die zum Beispiel in einem modernen Insolvenzrecht zum Ausdruck kommen müsste. Und würde es deutschen Versicherungen und Pensionsfonds regulatorisch einfacher gemacht, ihr Kapital in Venture-Capital-Fonds zu investieren, könnte sich auch das „Tal des Todes“ für viele deutsche Start-ups schließen.

Zu Zeiten der Haudegen reichten noch Aufstiegswille und Alternativlosigkeit, um den Gründergeist zu beflügeln. Die Ära dieser Patriarchen neigt sich dem Ende entgegen. Doch Pionierunternehmer brauchen wir weiterhin. Wir sollten es ihnen ein wenig leichter machen.