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Kapitalismuskritik und Brexit alarmieren die Wirtschaft

Erstmals seit den 70er-Jahren debattieren die Briten wieder heftig über die Vor- und Nachteile der freien Marktwirtschaft. Steht das Mutterland des Kapitalismus vor einem Linksruck? Die Unternehmen schlagen Alarm.

Lange Gesichter beim Parteitag der britischen Konservativen in Manchester. Wieder einmal ist der Streit um die Brexit-Strategie der Regierung lichterloh entbrannt, die Partei tief gespalten und die Spekulationen um die politische Zukunft von Premierministerin Theresa May sind angesichts der Querschüsse ihres Außenministers Boris Johnson allgegenwärtig.

Zu allem Überdruss sieht sich die Regierung auch noch gezwungen, ihre Haltung zur freien Marktwirtschaft und zum Kapitalismus zu verteidigen. Denn sie gerät angesichts der wachsenden Popularität von Labour-Chef Jeremy Corbyn auf einmal sogar ideologisch in die Defensive: im Mutterland des Kapitalismus wird nämlich derzeit wieder heftig über die Vor- und Nachteile der Marktwirtschaft gestritten. „Niemand behauptet, dass die Marktwirtschaft ein perfektes System ist. Aber es ist das beste System, um Menschen auf die Dauer Wohlstand zu ermöglichen und gute öffentliche Dienstleistungen für alle zu gewährleisten“, betonte Finanzminister Philip Hammond am Montag in seiner Rede vor dem Parteitag.

Für Tories eigentlich eine Selbstverständlichkeit, die keiner Erwähnung bedarf. Dass es im Herbst 2017 anders ist, zeigt, wie sehr die nach links abgedriftete Labour-Partei die öffentliche Debatte dominiert. In der vergangenen Woche hatte Corbyn sich selbst bereits als Regierungschef im Wartestand bezeichnet und unwidersprochen erklärt, in Großbritannien habe sich die politische Mitte nach links verschoben. So etwas hat es seit den 70er-Jahren nicht mehr gegeben. Der seit Margaret Thatcher geltende wirtschaftsliberale Konsens, den sowohl die Konservativen als auch die Tories hochgehalten hatten, ist zerbrochen. Die Labour-Partei hat sich inzwischen auf die Verstaatlichung von Bahngesellschaften, Wasserwirtschaft, Energieversorgern und den sogenannten Public Private Partnerships festgelegt und will Unternehmen und Besserverdienende durch hohe Steuern schröpfen.

Aber auch Theresa May gibt sich nicht unbedingt als Verfechterin eines lupenrein marktwirtschaftlichen Kurses. Bei ihrem Amtsantritt im Juli 2016 und beim darauffolgenden Parteitag versprach sie ihren Landsleuten eine Wirtschaftsordnung, von der alle – nicht nur die Eliten – profitieren und wollte sogar Arbeitnehmer in die Aufsichtsräte schicken. Neulich lobte sie die freie Marktwirtschaft zwar wieder – allerdings bei einer Feier der Bank of England, wo Kapitalismuskritik wohl kaum opportun gewesen sein dürfte.

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„Großbritannien ist mit einer großen Herausforderung konfrontiert, die das Schicksal der nächsten Generation bestimmen wird. Ein hochprozentiger Cocktail aus Brexit-Ungewissheit und einer dogmatischen Haltung auf der rechten und auf der linken Seite des politischen Spektrums gefährdet Jobs, Investitionen und den Erhalt des derzeitigen Lebensstandards,“ warnt Carolyn Fairbairn, die Generaldirektorin des Unternehmerverbandes CBI. Finanzminister Hammond habe zwar das Prinzip freier Märkte leidenschaftlich verteidigt und die Bedeutung hervorgehoben, die der Zusammenarbeit von Regierung und Unternehmen bei der Bekämpfung von gesellschaftlicher Ungleichheit zukomme, lobte sie, fügte dann aber hinzu: „das ist zwar notwendig aber nicht hinreichend“. Die Wirtschaft brauche dringend eine klare Vision und ein entschlossenes Handeln.

Fairbarn sprach – für Wirtschaftsbosse ungewöhnlich – Klartext: Großbritanniens Wirtschaftswachstum sei innerhalb der sieben führenden Industrienationen (G-7) inzwischen nur das Schlusslicht – abgerutscht von Platz Eins. Eingebrochen sei das Vertrauen von Verbrauchern und Unternehmen, die steigende Inflation schwäche die Kaufkraft der privaten Haushalte, kritisierte sie. Noch schärfer formulierte es Adam Marshall, der Chef des Verbandes der britischen Handelskammern. Er sprach von einer wachsenden Ungeduld mit der „Zerstrittenheit und der mangelnden Organisation im Herzen der Regierungspartei“ und kritisierte hier vor allem die Planlosigkeit und die Meinungsverschiedenheiten der Tories im Hinblick auf die Brexit-Verhandlungen.


Tiefe Gräben bei den Tories

Wie tief die Gräben bei den Tories sind, machte die resolute Chefin der Konservativen in Schottland deutlich: Ruth Davidson sprach von einem „Psychodrama“, das ihre Partei zu zerreißen drohe – ein klarer Seitenhieb auf Außenminister Boris Johnson, der unmittelbar vor Beginn der Tory-Konferenz mit einem Interview im Boulevardblatt „The Sun“ erneut provoziert hatte. Er erklärte dort, eine Übergangsphase beim EU-Austritt dürfe „keine Sekunde länger als zwei Jahre“ dauern – obwohl das Kabinett sich noch nicht konkret auf die Länge eines solchen Übergangs festgelegt hatte. Die Wirtschaft wünscht sich ohnehin mehr Zeit: drei Jahre sollten es schon sein, meint Marshall. Johnson, der am Dienstag seine mit Spannung erwartete Rede vor dem Parteitag halten wird, will Premierministerin May durch sein Interview mit der „Sun“ und mit einem Namensartikel in der konservativen Zeitung „Daily Telegraph“ auf eine knallharte Brexit-Linie zwingen: in der Übergangsphase dürfe Großbritannien keine neuen Vorschriften oder Regularien aus Brüssel akzeptieren, forderte er außerdem.

Finanzminister Hammond, der als Befürworter eines weichen Brexit gilt und hier im Sinne der britischen Wirtschaft handelt, spielte die Differenzen im Kabinett zwar herunter, räumte aber Unmut über die mangelnden Fortschritte bei den Brexit-Verhandlungen ein. „Wir sind alle frustriert von dem langsamen Tempo der vergangenen Monate“, sagte er. Dann betonte er, er stehe voll hinter der Regierungschefin, die angesichts ihres desaströsen Wahlergebnisses im Juni und dem ewigen Brexit-Streit als schwer angeschlagen gilt.

May selbst versucht beim Parteitag mit einer Reihe von innenpolitischen Reformen die Initiative zurückgewinnen. Doch das alles kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass bei den Brexit-Verhandlungen nicht wie von der britischen Wirtschaft gewünscht, Ende Oktober die nächste Phase beginnen wird, in der es um die künftigen Beziehungen zwischen der EU und Großbritannien gehen wird. Es könnte noch schlimmer kommen, sollte sich die Tory-Partei nach einem eventuellen Putsch gegen May in heftige Nachfolgekämpfe verstricken. Außenminister Johnson will offenbar darauf hinarbeiten: Er gebe ihr bestenfalls noch ein Jahr, ließ er kolportieren.