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Nach Jahren der Umverteilung droht eine Ära der Arbeitskämpfe

(Bloomberg) -- Eisenbahnen, die nicht mehr fahren, Mülleimer, die nicht geleert werden, Hunderttausende auf den Straßen — ein Frühling der Unzufriedenheit zieht sich durch Europa. Nach Jahrzehnten der Umverteilung von unten nach oben und angestachelt von einer beispiellosen Teuerungswelle kocht der Kessel von London über Paris bis Berlin über.

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Die Stimmung unter Arbeitnehmern und Gewerkschaften ist zunehmend auf Krawall gebürstet im Kampf um den Anteil am Volkseinkommen, der ihnen zusteht — aktuell in Form von Lohn und Gehalt, aber, wie derzeit in Frankreich, auch zukünftig als Rente oder Pension. Im öffentlichen Dienst treffen die Forderungen überdies auf leere Kassen — wegen Pandemie, Krieg, Energiekrise und nun auch noch steigenden Zinsen.

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Es ist auch ein Kampf um die Köpfe, Herzen und Geldbörsen der Öffentlichkeit, die in verschiedenen Rollen an dem Konflikt teilnimmt. Als selbst von wegschmelzenden Reallöhnen betroffene Arbeitnehmer, als Steuerzahler, als Nutzer öffentlicher Dienstleistungen, als Wähler und als Verbraucher, denen höhere Löhne später auch als steigende Preise wieder begegnen können.

Für Marcel Fratzscher, Leiter des in Berlin ansässigen Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, könnte die sich verändernde Dynamik ein Vorbote für jahrelange schwere Auseinandersetzungen sein. “Wir erleben zurzeit eine Wende auf dem Arbeitsmarkt: Die Zeiten eines Arbeitgebermarktes, in dem Arbeitgeber Löhne und Arbeitsbedingungen mehr oder weniger diktieren konnten, scheinen vorbei”, so der ehemalige Notenbanker.

Zwischen 1980 und 2018 ist der Anteil der Arbeitnehmer an der Wirtschaftsleistung in den USA um 7,6% gesunken, in Deutschland und Frankreich sogar um etwa 12%, hat die Resolution Foundation errechnet, ein Londoner Think Tank. “Es gibt viele Gründe für diesen Rückgang: einer davon ist die Globalisierung, ein anderer ist der technologische Wandel”, sagt Rosalia Vazquez-Alvarez, eine Expertin der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf. “Auch die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer hat eindeutig abgenommen.”

Doch diese Entwicklung der letzten Jahrzehnte ändert sich gerade. An vielen Stellen beginnen Arbeitskräfte knapp zu werden, etwa durch die demografische Entwicklung, in Großbritannien auch durch den Austritt aus der Europäischen Union. “Die Nachfrage ist nach wie vor hoch, und der Mangel an Fachkräften ist nach wie vor sehr groß”, so Chris Gray vom Personalvermittlungsriesen Manpower. Das erhöht wieder die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer, während die zweistellige Inflation die Unzufriedenheit anfacht.

Freilich sind nicht alle sicher, dass Lohnerhöhungen auch zu einem größeren Anteil am gesamtwirtschaftlichen Kuchen führen. Greg Thwaites von der Resolution Foundation gibt etwa zu bedenken, dass Unternehmen sich einen Teil durch Preiserhöhungen wieder zurückholen.

Klar ist, dass der Kampf der Arbeitnehmer um einen größeren Anteil am Einkommen in den großen europäischen Volkswirtschaften derzeit an Dynamik gewinnt. Im Vereinigten Königreich und in Deutschland, wo der Anteil der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer von 30% zur Jahrtausendwende auf 16% geschrumpft war, steigt die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder wieder. Auch die öffentliche Unterstützung scheint aufgrund der weithin geteilten Verstimmtheit über die wirtschaftliche Ungleichheit recht solide.

In Großbritannien, wo die Skepsis gegenüber Gewerkschaften zuletzt eher größer war, ergab eine Ipsos-Umfrage im Februar, dass eine Mehrheit der Wähler Streiks befürwortet. Laut YouGov erreicht die öffentliche Sympathie für Streikende dort bis zu 63% bei Krankenschwestern. Geringer fällt sie allerdings bei Lokführern aus, die nur 36% Zustimmung genießen.

Und obwohl Deutschland am Montag durch Streiks im Verkehrssektor praktisch zum Stillstand gebracht wurde, äußerte eine Mehrheit der Befragten in Meinungsumfragen eine gewisse Sympathie. “Unsere Kollegen sind jetzt viel selbstbewusster, wenn es darum geht, für ihre Forderungen einzutreten”, erklärt die Eisenbahnergewerkschaft EVG und stellte fest, dass mehr ihrer Mitglieder bereit sind, an Aktionen teilzunehmen. “Die Arbeiterbewegung gewinnt wieder an Stärke.”

Der Verkehrssektor wird weiterhin hierzulande eine zentrale Front im Kampf zwischen Arbeit und Kapital darstellen. Das betrifft auch die Luftfahrt. Bei der Deutschen Lufthansa AG, Europas größter Fluggesellschaft, kam es bereits im vergangenen Jahr zu Arbeitskämpfen. Ein Streik des Flughafenpersonals führte im Februar zu 1.300 gestrichenen Flügen. Da die Vereinbarung mit den Piloten, nicht zu streiken, im Juni ausläuft, drohen in der Hauptreisezeit im Sommer erneut Unterbrechungen.

Das stellt auch die deutsche Mitbestimmung auf die Probe, häufig gerade dafür gepriesen, teure Konfrontationen zwischen Arbeit und Kapital zu vermeiden. Christine Behle, stellvertretende Vorsitzende der Gewerkschaft Verdi, stand zuletzt einerseits als Gewerkschafterin an der Spitze des Bodenpersonalstreiks — andererseits als Lufthansa-Aufsichtsrätin auf der Arbeitnehmerbank vor rund 70 Millionen Euro damit verbundenen Verlusts.

Die Gewerkschafterin ficht das jedoch nicht an. “Inflation, hohe Energie- und Lebensmittelpreise bringen die Arbeitnehmer in eine unsichere Lage”, sagt Behle. “Viele wissen nicht mehr, wie sie ihre Miete bezahlen und den Kühlschrank füllen sollen.”

Überschrift des Artikels im Original:Europe’s Era of Agitation Heralds More Clashes on Spoils of Work

--Mit Hilfe von William Horobin, Alexander Weber, Zoe Schneeweiss und Andrew Atkinson.

©2023 Bloomberg L.P.