Werbung
Deutsche Märkte öffnen in 4 Stunden
  • Nikkei 225

    37.780,35
    +151,87 (+0,40%)
     
  • Dow Jones 30

    38.085,80
    -375,12 (-0,98%)
     
  • Bitcoin EUR

    60.164,24
    +252,24 (+0,42%)
     
  • CMC Crypto 200

    1.391,11
    +8,54 (+0,62%)
     
  • Nasdaq Compositive

    15.611,76
    -100,99 (-0,64%)
     
  • S&P 500

    5.048,42
    -23,21 (-0,46%)
     

Die französische Revolution des Parteiensystems

Das Ancien Régime der Parteien ist nicht nur in Frankreich am Ende. Wenn jede Wahl als Zitterpartie empfunden wird, hat sich etwas grundlegend geändert.

2017 wird als Jahr einer fundamentalen Veränderung in die französische und damit wohl auch europäische Geschichte eingehen. Das kann man jetzt, eine Woche nach der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen und eine Woche vor der zweiten Runde, schon sagen.

Fast überall in Europa wälzen sich die parteipolitischen Verhältnisse um. Aber in Frankreich, das seit etwa 300 Jahren stets Pionier der gesellschaftlichen und politischen Entwicklung in Europa ist, vollzieht sich dieser Prozess auch heute wieder zuerst und in besonders drastischer, geradezu revolutionärer Deutlichkeit. Dort ist das Ancien Régime der etablierten Parteien der V. Republik am vergangenen Sonntag zusammengebrochen. Die Kandidaten der gemäßigten Linken, Benoît Hamon, und der gemäßigten Rechten, François Fillon, schafften es beide nicht in die Stichwahlen. Die sozialistische Partei ist mit rund sieben Prozent am Boden zerstört. Möglicherweise wird sie sich bald ganz von der politischen Bühne verabschieden. Einige bekannte Köpfe sind schon zum siegreichen Emmanuel Macron und seiner Bewegung „En Marche!“ übergelaufen. Bei den sich auf de Gaulle zurückführenden gemäßigt rechten „Republicains“ sieht es nur wenig besser aus. Wie Hamon empfahl Fillon, nun im zweiten Wahlgang Macron zu wählen. Der wird dadurch zum Sachwalter der bisherigen etablierten Parteien erklärt.

Der wahrscheinliche Präsident Macron kann sich mit seinen noch nicht mal vierzig Lebensjahren als unverbrauchter großer Erneuerer inszenieren, ist aber andererseits mit ENA-Abschluss, als früherer Investmentbanker und Wirtschaftsminister die personifizierte Funktionselite. Er ist die ideale Besetzung, um mehr oder weniger alles hinter sich zu scharen und zu revitalisieren, was von den alten, als korrupt und verlebt empfundenen Parteien übrig ist.

Die Erleichterung in fast allen westlichen Demokratien über Macrons Sieg in der ersten Runde zeigt, wie groß die Nervosität ist. Die französischen Präsidentschaftswahlen werden wie die anderen großen Wahlen und Referenden des vergangenen und aktuellen Jahres, zuletzt in den Niederlanden, als Zitterpartie wahrgenommen: Stets steht die gesamte politische Klasse Europas und deren Grundkonsens in der Defensive gegen Fundamentalkritik, vertont durch die sogenannten Populisten. Und es gibt wenig Grund zu der Annahme, dass das in absehbarer Zukunft anders sein wird. Der parteipolitische Ausnahmezustand wird zum Dauerzustand.

WERBUNG

Bei all der öffentlichen Unterstützung, die Macron aus Berlin zuteil wird, geht völlig unter, was seine Präsidentschaft für Deutschland bedeuten würde. Nämlich nicht viel Gutes. Dass dessen europapolitische Vorstellungen zu Lasten der deutschen Steuerzahler gehen, weil er ein echtes EU-Budget und die Sozialisierung der Staatsschulden inklusive Euro-Bonds will, scheint völlig egal zu sein. Hauptsache er ist pro-EU und lobt Merkel - und vor allem ist er gegen Le Pen.

Die etablierten politischen Kräfte, ob in Deutschland, Österreich, den Niederlanden oder Frankreich, haben das Wachstum der populistischen Herausforderer und damit die Fundamentalisierung von Wahlen auch selbst mit zu verantworten. Seit den 1990er Jahren haben sie ihre früheren programmatischen Gegensätze zu Gunsten eines marktbejahenden (Kritiker würden sagen „neoliberalen“), globalisierungs- und europäisierungsfreudigen Konsenses entsorgt. In den christdemokratischen, beziehungsweise gaullistischen Parteien wurden konservative Skeptiker dieses Fortschrittskonsenses ebenso marginalisiert wie die marxistisch geprägten Antikapitalisten in den sozialdemokratischen. Das Ergebnis ist eine selbsterklärte Alternativlosigkeit einer Parteien-Technokratie, die Colin Crouch als „Postdemokratie“ kritisiert.

Die bisherigen Wähler beider Parteifamilien, die deren konsensualen Kurs als Bedrohung ihrer materiellen und kulturellen Sicherheit empfinden, werden damit politisch heimatlos - und empfänglich für neue politische Alternativen. In Frankreich, wo die Arbeiterschaft und die Landbevölkerung mittlerweile in weiten Teilen zum Front National übergelaufen sind, ist dieser Prozess am weitesten fortgeschritten. Mit über 21 Prozent der Wählerstimmen ist der FN nicht mehr als Randphänomen marginalisierbar. Zählt man die Wähler des linksextremen Jean-Luc Mélenchon dazu, der nur in seiner Einwanderungsfreundlichkeit wesentlich von Le Pen abweicht, wird deutlich: rund 40 Prozent der französischen Wähler stehen gegen den Konsens der Eliten. Da offenbart sich, dass aus einer gesellschaftlichen Konfliktlinie eine neue politische Konstellation geworden ist, in der die alten Kontrahenten gemeinsam auf der einen Seite stehen, und eine neue Opposition ihnen entgegensteht. Ob es dem stärkeren Teil der neuen Opposition, dem Front National, gelingt, den schwächeren Teil, die Mélenchon-Anhänger, zum Partner zu gewinnen, wird eine entscheidende Frage für deren künftige Regierungsfähigkeit sein.


Deutsche Besonderheiten

Deutschland scheint von dieser neuen Parteienkonstellation noch weit entfernt. Doch das könnte sich ändern. Eine entscheidende Voraussetzung besteht auch hierzulande: Der programmatische Schulterschluss von Christ- und Sozialdemokraten plus Grünen ist längst Realität. Seit den 90er Jahren gehen alle miteinander Pizza essen, man duzt sich überparteilich und jeder kann mit jedem koalieren.

Welcher deutsche Wähler könnte schon die programmatischen Unterschiede zwischen Schulz‘ SPD und Merkels CDU benennen? Sie finden sich allenfalls in technokratischen Details und ideologischen Nuancen, die in wenigen Schlagworten wie „soziale Gerechtigkeit“ zu Mobilisierungszwecken fast grotesk überbetont werden. Verglichen mit den Zeiten Adenauers und Schumachers oder Barzels und Brandts sind heutige Wahlkämpfe zwischen CDU und SPD längst zu Karikaturen früherer Richtungsentscheidungen geworden. Merkel und Schulz unterscheidet, wie ein Kollege der „Welt“ treffend schrieb, tatsächlich „nur der Bart“.

Dass die AfD so viel schwächer als der Front National ist, dürfte einerseits an der unverhältnismäßig guten Lage des deutschen Arbeitsmarktes liegen und andererseits an der hierzulande aus historischen Gründen besonders ausgeprägten Sensibilität gegen nationalistische, in irgendeiner Weise als „rechts“ empfundene Positionen. Dazu kommt der Mangel an demagogischem Talent bei der AfD. Dennoch: Harter politischer Streit, ja Feindschaft, wie man sie aus Bundestagsdebatten der 19070er Jahre kennt und jetzt in Frankreich zwischen Macron und Le Pen erlebt, kommt in der Bundesrepublik von 2017 nur auf, wenn die AfD im Spiel ist.

Dieses Entstehen einer neuen parteipolitischen Konfliktkonstellation ist nicht inhaltlich aber strukturell mit dem parlamentarischen Aufstieg der Sozialdemokraten am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts zu vergleichen. Die von den damals etablierten konservativen und liberalen Parteien unbefriedigten Interessen der neuen Arbeiterklasse führten damals in allen europäischen Ländern zum Aufschwung von mehr oder weniger marxistischen Arbeiter-Parteien.

In Bismarcks Deutschland galten sie zunächst als „Reichsfeinde“, eine Stigmatisierung, die jeden anständigen Bürger davon abhalten sollte, sie zu wählen. Aber selbst härtere Repressalien – die von 1878 bis 1890 gültigen „Sozialistengesetze“ – konnten deren zunehmende Stimmengewinne nicht verhindern. Bei den Reichstagswahlen 1912 wurden sie die größte Partei, ohne die kaum noch zu regieren war. In Großbritannien kippte das Zweiparteiensystem von Konservativen und Liberalen, das die britische Geschichte des 19. Jahrhunderts geprägt hatte, ab 1906 in nur wenigen Legislaturperioden zum Zweiparteiensystem von Konservativen und Arbeiterpartei, dass dann bis heute die britische Politik prägte.

Gesellschaftliche Interessenkonflikte, wie der zwischen den Profiteuren der migrationsoffenen, europäisch integrierten oder gar globalisierten Markt-Gesellschaft und den weiterhin national denkenden Gegnern und Verlierern dieser Entwicklung, lassen sich auf Dauer nicht mit moralisierenden Argumenten übertünchen. Wenn etablierte Parteien das ganze Spektrum der politischen Interessen nicht mehr selbst repräsentieren können oder wollen, werden sie sich letztlich damit abfinden müssen, dass ihnen eine neue politische Konkurrenz entsteht, die den Job übernimmt.

KONTEXT

Wirtschaftspolitische Pläne von Emmanuel Macron

Steuern

Die Unternehmenssteuer soll von derzeit 33 auf 25 Prozent gesenkt werden. Die Steuergutschrift für Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung (CICE) soll umgewandelt werden in eine dauerhafte Entlastung für Arbeitnehmer mit niedrigen Löhnen.

Arbeitszeit

An der 35-Stunden-Woche soll festgehalten werden. Allerdings könnte sie flexibler geregelt werden, indem Betriebe über die tatsächliche Arbeitszeit mit ihren Beschäftigten verhandeln.

Geringverdiener

Sie sollen von bestimmten Sozialabgaben befreit werden. Dadurch könnten Niedriglohnempfänger einen zusätzlichen Monatslohn pro Jahr in ihren Taschen haben.

Investitionen

Binnen fünf Jahren sollen 50 Milliarden Euro an öffentlichen Geldern investiert werden. 15 Milliarden Euro davon sollen in bessere Aus- und Weiterbildung gesteckt werden, um die Einstellungschancen von Jobsuchenden zu verbessern. Ebenfalls 15 Milliarden Euro sind geplant, um erneuerbare Energien zu fördern. Weitere Milliarden sind für die Landwirtschaft, die Modernisierung der öffentlichen Verwaltung, für Infrastruktur und Gesundheitswesen geplant.

Einsparungen

60 Milliarden Euro an Einsparungen sind bei den Staatsausgaben vorgesehen, die in Frankreich traditionell hoch sind. Zehn Milliarden Euro soll der erwartete Rückgang der Arbeitslosenquote von derzeit etwa zehn auf sieben Prozent bringen, indem die Ausgaben für Arbeitslosengeld sinken. Durch eine verbesserte Effizienz soll das Gesundheitswesen zehn Milliarden einsparen, weitere 25 Milliarden Euro die Modernisierung des Staatsapparates.

Bildung

In Gegenden mit niedrigem Einkommen soll die Schülerzahl auf zwölf pro Klasse begrenzt werden. Lehrer sollen als Anreiz für eine Arbeit in solchen Regionen einen Bonus von 3000 Euro pro Jahr bekommen. Mobiltelefone in Schulen sollen für Kinder bis 15 Jahren verboten werden. Alle 18-Jährigen sollen einen Kulturpass im Wert von 500 Euro erhalten, den sie beispielsweise für Kino-, Theater- und Konzertbesuche ausgeben können.