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Die Selbstverzwergung Europas

Eine einheitliche EU-Außenpolitik ist notwendiger denn je. Doch alle europäischen Emanzipationsversuche scheitern an den zunehmenden nationalen Egoismen.

Im Washingtoner Büro von John Bolton, dem Sicherheitsberater des US-Präsidenten, hängt eine Trophäe: das gerahmte Dekret, mit dem Donald Trump vor fast genau einem Jahr den Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran veranlasste. Es gibt kaum ein besseres Symbol für die transatlantische Entfremdung in der Ära Trump: Die Europäer halten die aggressive Iran-Politik für einen großen Fehler, die US-Regierung feiert sie als eine ihrer stolzesten Errungenschaften.

Und es gibt kaum ein besseres Symbol für das Scheitern einer gemeinsamen europäischen Außenpolitik als Ganzes. Die Iran-Politik, die China-Frage, das Verhältnis zu Russland oder auch der transatlantische Handelsstreit – in keinem der wichtigen geopolitischen oder geoökonomischen Konflikte findet die Europäische Union zu einer einheitlichen Haltung — geschweige denn zu einer gemeinsamen Strategie.

Es ist schwer zu sagen, was die Europäer mehr frustriert: Trumps brachiale America-first-Politik oder die eigene Machtlosigkeit. Erstmals in der Nachkriegszeit regiert in Washington ein Präsident, der Europa als Gegenspieler wahrnimmt. Als Trump gefragt wurde, welche Macht „global der größte Feind der USA“ sei, nannte er zuerst die EU, erst dann traditionelle Rivalen wie China und Russland.

Die Versuche der Europäer, den Trump-Schock dafür zu nutzen, um eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik voranzubringen und, wo nötig, ein „Gegengewicht zu den USA“ (Außenminister Heiko Maas) zu bilden, sind gescheitert. In der Ära Trump gilt in der internationalen Politik das Recht des Stärkeren – und das sind die USA.

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Der scheidende EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker spricht gern von der „Weltpolitikfähigkeit“ Europas – sie ist auch nach fast fünfjähriger Amtszeit des Luxemburgers Wunschdenken der Brüsseler Eliten geblieben. Federica Mogherini – so heißt die „Hohe Vertreterin für Außen- und Sicherheitspolitik“ – ist das freundliche Gesicht der europäischen Außenpolitik, das niemand so recht kennt.

Unambitionierte Außenpolitik

Die junge Italienerin sagt über sich selbst, dass sie nicht „Stärke demonstrieren“ will, sondern den Dialog sucht. 2014 wurde sie überraschend Brüssels Chefdiplomatin – obwohl sie erst seit einem Jahr italienische Außenministerin war. Wirklich vorstellen mag man sich die nette Italienerin in einer Auseinandersetzung mit einem Sergei Lawrow, dem gewieften außenpolitischen Schwergewicht Russlands, nicht. Das war schon unter ihrer viel kritisierten Vorgängerin Catherine Ashton so, deren politische Maxime zu lauten schien: „bloß nicht auffallen“.

Eine derart unambitionierte Außenpolitik wäre in normalen Zeiten verkraftbar. Jetzt, da der US-Präsident die in Jahrzehnten gewachsene Weltordnung nicht nur infrage stellt, sondern aktiv bekämpft, ist sie unhaltbar. Die Verlockung ist groß, die Gründe für das geopolitische Unvermögen Europas in Washington zu suchen. Doch die Gründe liegen tiefer. Es sind die inneren Widersprüche des Kontinents, die inkompatiblen Politikansätze der EU-Mitglieder.

„Eine europäische Reaktion auf die Politik der Trump-Regierung gibt es nicht; es gibt mindestens drei: strategische Autonomie, strategische Geduld und strategische Umarmung“, sagt Karen Donfried, Chefin des German Marshall Fund. „In Paris wird von strategischer Autonomie geschwärmt, das Streben nach der Unabhängigkeit Europas von den USA hat dort eine lange Tradition“, erläutert Donfried, die im Weißen Haus als Europa-Beraterin von Barack Obama gearbeitet hat.

In Berlin sei man vorsichtiger: „Vor allem das Kanzleramt setzt eher auf strategische Geduld, auf die Hoffnung, dass sich das transatlantische Verhältnis nach Trump wieder bessert.“ Osteuropa schließlich setze auf eine strategische Umarmung der Trump-Regierung: „Die Polen treibt die Angst vor einem aggressiven Russland um und die Sorge, dass Deutschland und Frankreich ihnen im Ernstfall nicht beistehen würden.“

Außenpolitische Kakofonie

Das Problem: Die außenpolitische Kakofonie Europas gibt es nicht nur in der Haltung gegenüber der US-Regierung, sie zeigt sich in fast allen wichtigen geopolitischen Feldern. Beispiel Russland: Während Italien und Österreich mit dem zunehmend imperialistisch auftrumpfenden Wladimir Putin sympathisieren, warnen vor allem die osteuropäischen Länder wie Polen oder die Balten vor einem weichen Kurs gegenüber Moskau.

Deutschland schwankt wie so oft zwischen beiden Positionen. Heftig zerstritten sind die EU-Staaten etwa in der Nord-Stream-2-Frage. Die Pipeline soll noch mehr russisches Gas nach Deutschland leiten. Paris steht in diesem Fall aufseiten der Amerikaner, die strikt gegen dieses Projekt sind und offen mit Gegenmaßnahmen drohen.

In Osteuropa wird Nord Stream 2 sogar als Sicherheitsrisiko eingestuft, nicht nur, weil jeder im Energiegeschäft verdiente Rubel auch die Kriegskasse des Kremls füllt. Sondern auch, weil die Pipeline die Macht Moskaus über die Ukraine deutlich erhöht. Bislang braucht Russland die ukrainische Pipeline, um das Gas Richtung Westen zu pumpen.

Die Ukraine wiederum braucht die Gebühren, die die russischen Erdgas-Exporteure für die Durchleitung zu zahlen haben. Dieses empfindliche Interessengleichgewicht wird durch Nord Stream gestört. Es war immer eine deutsche Illusion zu glauben, Nord Stream sei ein rein ökonomisches Projekt. Es geht nicht nur um Erdgas für den Westen, sondern am Ende auch um die Frage, ob die Ukraine ihre vor drei Jahrzehnten errungene staatliche Existenz behaupten kann.

Die China-Frage

Noch entscheidender für die außenpolitische Emanzipation Europas ist der Umgang mit China. Immerhin hat die Kommission die Volksrepublik jetzt zum „strategischen Rivalen“ erklärt, und auch die Tatsache, dass Macron kürzlich die Bundeskanzlerin spontan zu seinem Gipfel mit dem chinesischen Premierminister Li Keqiang eingeladen hatte, war eine überraschende Geste.

Doch auch diese positiven Entwicklungen können kaum darüber hinwegtäuschen, dass die EU keine Linie gegenüber der aufsteigenden Supermacht findet, die sich weltweit als antidemokratische Systemalternative zum Westen anbietet. Ländern wie Italien, Griechenland und den Visegrad-Staaten Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn sind chinesische Investitionen wichtiger als eine einheitliche Politik gegenüber Peking .

Der größte Affront aus Sicht Brüssels: Medienwirksam schloss sich das EU-Gründungsmitglied Italien im März der Seidenstraßen-Initiative an – ein gigantisches Infrastrukturprojekt entlang der traditionellen Seidenstraße. „Es ist mir schon klar, dass manche gern nach Peking schielen, weil sie die finanziellen Möglichkeiten anderswo nicht bekommen“, lästerte die österreichische Außenministerin Karin Kneissl damals.

Die Chinesen gäben den Ländern Kredit für die geplanten Infrastrukturprojekte. Wenn diese ihre Schulden nicht begleichen, könnte China am Ende Eigentum an sensibler Infrastruktur erwerben. Das sei für die gesamte EU „problematisch“.

Die guten griechisch-chinesischen Beziehungen haben schon einmal für große Irritationen gesorgt. Jahr für Jahr beschwerte sich die EU bei den Vereinten Nationen über die Menschenrechtslage in China – bis 2017. Da legte Griechenland plötzlich ein Veto ein und die bis dahin übliche China-kritische Stellungnahme der EU fiel aus.

Die chinesische Schuldendiplomatie hatte gewirkt. Die EU stand blamiert da. Zumindest haben die Europäer das Problem offenbar erkannt, sagt Europa-Expertin Donfried. „Europa hat China lange nur als fernöstlichen Absatzmarkt gesehen. Aber jetzt strebt China nach Westen, und die Europäer stellen fest, dass Chinas gezielte Übernahme von kritischer Infrastruktur eine Bedrohung darstellen könnte.“

Der Fall Huawei

Wie schwer eine eigenständige chinesische EU-Außenpolitik ist, zeigt der Fall Huawei. Die Amerikaner fordern wegen des Spionageverdachts einen Ausschluss des chinesischen Netzwerkausrüsters – und drohten sogar, die Zusammenarbeit der Geheimdienste mit Ländern einzustellen, in denen Huawei den Mobilfunkstandard 5G aufbaut .

Europa macht das, was es meistens macht: lavieren. Erst mal Risikoanalysen erstellen und gemeinsame Sicherheitsstandards entwickeln. Immerhin kündigten Kanzlerin Angela Merkel, der französische Staatspräsident Emmanuel Macron und der niederländische Premier Mark Rutte an, sich nicht dem US-Bann anzuschließen.

Per Dekret hatte Trump der US-Regierung das umfassende Recht eingeräumt, gezielt gegen Firmen – gemeint ist natürlich Huawei – vorzugehen, wenn diese die nationale Sicherheit gefährden. Großbritannien tendiert dazu, sich an die Seite der Amerikaner zu stellen. Vor allem Deutschland ist dagegen sehr vorsichtig, weil es seine ökonomischen Interessen in China gefährdet sieht.

Fakt ist: Europa wird unweigerlich in den neuen kalten Krieg zwischen den USA und China hineingezogen – ob es will oder nicht. So wie europäische Firmen die Iran-Sanktionen Washingtons im vorauseilenden Gehorsam befolgen, werden sie auch in der China-Frage Geschäfte meiden, die ihre ökonomischen Interessen in den USA gefährden könnten.

Gerade in der Iran-Frage offenbart sich die Ohnmacht der Europäer. Alle Versuche, das Atomabkommen zu retten, scheiterten. Kurz nachdem die US-Sanktionen gegen Teheran in Kraft traten, schuf die EU ein Abwehrgesetz, um die größte Errungenschaft der internationalen Diplomatie der vergangenen Jahre, wie es in Brüssel heißt, zu retten. Dieses verbietet europäischen Unternehmen, sich an die Sanktionen zu halten. Im Gegenzug bietet die EU Rechtsschutz.

EU-Handel mit dem Iran

Doch die Drohungen der USA, ihrerseits Geschäftsbeziehungen zu Firmen einzustellen, die im Iran Geschäfte machen, ließen den EU-Handel mit dem Iran einbrechen. Auch die Gründung der Zweckgesellschaft Instex, die einen iranisch-europäischen Zahlungsverkehr unabhängig vom Dollar ermöglichen sollte, funktioniert nicht. In Brüsseler Kreisen hat man längst eingesehen: Das alles ist nur Symbolpolitik. Gegen die Macht der USA ist die EU machtlos – auch wenn sich in diesem Fall die EU-Länder ausnahmsweise einig sind .

Einig zeigt sich die EU auch im transatlantischen Handelsstreit – allerdings nur auf den ersten Blick. Obwohl Brüssel formell ein starkes Mandat in Handelsfragen besitzt und die zuständige Kommissarin Cecilia Malmström eine recht robuste Handelspolitik betreibt, zeigt sich auf den zweiten Blick: Vor allem Frankreich und Deutschland haben unterschiedliche Interessen. Paris schützt seine Bauern, Berlin fürchtet um seine Autoindustrie.

Sollte Trump demnächst auf Importquoten für EU-Autos beharren, wird sich zeigen, wie weit die europäische Solidarität reicht. Der US-Präsident fordert eine Öffnung der EU-Agrarmärkte, was Macron strikt ablehnt. Eine solche Liberalisierung der europäischen Agrarmärkte wäre wohl die einzige Möglichkeit, Trump davon abzuhalten, Strafzölle in Höhe von 25 Prozent auf Autoimporte zu verhängen.

Macron hat zuletzt vorsorglich sein Veto eingelegt, als es um das konkrete Mandat für Verhandlungen über den Abbau von Industriezöllen zwischen der EU und den USA ging.

Der Grund: Frankreich führt im Vergleich zu Deutschland nur wenige Industriegüter in die USA aus. Auch in Handelsfragen gilt wie in vielen Bereichen: nationaler Egoismus statt einheitlicher Politik.

Fatales Einstimmigkeitsprinzip

Immerhin setzt sich in Europas Hauptstädten die Erkenntnis durch, dass diese Kakofonie die EU handlungsunfähig macht. Selbst wenn Mogherini wollte, sie kann nur so viel gestalten, wie es ihr die 28 Mitgliedstaaten zugestehen. Die Außenpolitik ist noch eines der letzten verbliebenen Politikfelder, in der bei Entscheidungen das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Stimmen, das zu ändern, werden immer lauter: Juncker und Macron fordern das, ebenso Merkel.

Mogherini selbst zählt erstaunlicherweise nicht zu den Befürwortern. Vermutlich, weil sie befürchtet, sich bei vielen Mitgliedstaaten unbeliebt zu machen. Denn um bei Entscheidungen in der Außenpolitik die qualifizierte Mehrheit einzuführen, braucht es die Zustimmung aller EU-Mitglieder. Dass sie das jemals tun werden, ist fraglich.

EU-Diplomaten aus Lettland, Polen und Griechenland hatten sich zuletzt ablehnend geäußert. Auch der irische Außenminister Simon Coveney hält die Einstimmigkeit bei zentralen außenpolitischen Entscheidungen für „sehr wichtig“.

Wozu das Einstimmigkeitsprinzip allerdings führt, wurde zuletzt im Februar deutlich: Gleich bei drei außenpolitischen Krisen konnte die EU nicht entschieden auftreten: Beim Thema Venezuela und Anerkennung von Juan Guaidó verhinderte Italien eine einheitliche EU-Position.

Bei der gemeinsamen Gipfelerklärung mit der Arabischen Liga wollte Ungarn nicht mitziehen. Und eine gemeinsame EU-Erklärung zum Ende des INF-Vertrags zur atomaren Abrüstung verweigerten die sechs Nicht-Nato-Mitglieder Irland, Schweden, Finnland, Österreich, Malta und Zypern. So blieb die EU an diesen weltpolitisch ereignisreichen Tagen wieder einmal stumm.

Vielleicht könnte beim Auswärtigen Rat am 17. Juni Bewegung in die Sache kommen. Dann wollen die EU-Außenminister über die Wirksamkeit der gemeinsamen Außenpolitik diskutieren. Neun EU-Staaten – darunter Deutschland, Frankreich, Dänemark, Spanien und Schweden – haben den übrigen Ländern ein inoffizielles Arbeitsdokument zukommen lassen, das Grundlage dieser Debatte sein soll.

In dem Papier, das dem Handelsblatt vorliegt, fordern sie einen stärkeren Zusammenhalt in der Außenpolitik, eine bessere und effektivere Abstimmung untereinander. „Wir müssen weniger Zeit damit verbringen, uns selbst zu koordinieren“, heißt es dort.

„Wenn Europa nicht gemeinsam handelt, wird es bald nur noch behandelt“, sagt Maas und spricht vom „Fluch der Einstimmigkeit“. Die Vorgabe, dass jedes EU-Land in der Außenpolitik ein Veto einlegen kann, führe oft nur zum kleinsten gemeinsamen Nenner und lade fremde Mächte geradezu ein, die EU zu spalten. Wie wichtig aber ein besonders großer gemeinsamer Nenner sein wird, zeigen allein die langfristigen sozioökonomischen Perspektiven Europas.

Der Anteil der Europäer an der Weltbevölkerung wird im Jahr 2050 auf gut vier Prozent sinken. Und der Anteil an der Weltwirtschaftsleistung wird im selben Zeitraum von derzeit 14 Prozent auf nur noch neun Prozent sinken.

Will der „alte Kontinent“ überhaupt noch wahrgenommen werden im Kampf zwischen den USA und China um die Weltherrschaft, braucht er zumindest eine einheitliche und effiziente Außenpolitik. Europäische Souveränität, wie Macron sie fordert, ist eine Voraussetzung für nationale Souveränität.

Begreifen die Europäer das nicht endlich, werden sie in den kommenden Jahrzehnten keinesfalls einen Platz in der Welt einnehmen, der auch nur annähernd dem eigenen Selbstbild entspräche – weder wirtschaftlich noch politisch.

Mehr: Europa lebt von seiner Vielfalt. Möchten wir in Zukunft europäischer werden, müssen wir unsere Diversität nutzen – und daraus Produktivität schöpfen, mahnt Eon-Chef Johannes Teyssen in seinem Gastkommentar.