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Warum deutsche Firmen beim Brexit keine Eile haben

Die deutschen Unternehmen können mit der Unsicherheit des Brexits leben, trotz hoher Zusatzkosten. Das Motto: lieber langsam, aber geordnet.

Als es im Herbst langsam ernst wurde mit dem EU-Austritt der Briten, wollte Albert Schnitzler, Geschäftsführer des Düsseldorfer Industrieschlauch-Händlers Tecno Plast, nichts dem Zufall überlassen. Und so steht der Manager heute, ein gutes Dreivierteljahr später, im karierten Hemd mit randloser Brille und hochgegeltem Haar in seiner neuen Lagerhalle im Düsseldorfer Westen.

Material für ein Jahr hatte der Rheinländer dort über mehrere Monate eingelagert, um dem Chaos zu entgehen, mit dem viele Unternehmen im Falle eines ungeregelten Brexits gerechnet hatten. „Brexit-Ware“ nennt der 58-Jährige die Kartons, die sich in manchem Regalgang bis unter die Decke stapeln.

So wie Tecno Plast hatten sich viele Firmen im Frühling auf den Fall der Fälle vorbereitet. Geradezu apokalyptische Szenarien waren noch vor wenigen Wochen an Häfen und Grenzübergängen erwartet worden: Die Aussicht auf kilometerlange Lkw-Staus, Versorgungsengpässe mit Medikamenten und wochenlange Lieferprobleme zwang viele Manager, umfangreiche Notfallpläne für den Tag X vorzubereiten.

Am Ende blieben sie in der Schublade – so wie der Brexit selbst, der in letzter Minute in den Oktober verschoben wurde.

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Wie der EU-Austritt dann ablaufen wird, weiß heute trotzdem keiner. Doch von Ärger ist trotz der anhaltenden Unsicherheit bei Schnitzler keine Rede. „Natürlich schwillt einem wegen der britischen Politik auch mal der Kamm“, sagt der Unternehmer, der seit vielen Jahren eine enge Beziehung zu seinen Lieferanten auf der Insel pflegt. „Aber es ist besser, die Briten nehmen sich Zeit und kommen am Ende zu einer vernünftigen Lösung.“

Firmen ist enge Anbindung wichtig

Wie Schnitzler sehen es derzeit viele Manager, die sich mit der Unsicherheit mittlerweile eingerichtet haben. So kommt eine aktuelle Umfrage der deutsch-britischen Außenhandelskammer (AHK) unter 120 Unternehmern zu dem Ergebnis, dass rund zwei Drittel der Befragten bereit wären, eine noch längere Unsicherheitsphase über den Oktober hinaus zu akzeptieren, wenn am Ende weiterhin enge Handelsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU zu erwarten sind. Für eine schnelle Lösung in Form eines harten Brexits sprach sich nur jede zehnte Firma aus.

„Den Unternehmen sind die Zollunion und eine enge regulative Anbindung an den europäischen Binnenmarkt wichtig“, bestätigt Ulrich Hoppe, Geschäftsführer der AHK, in der Firmen wie Airbus, BMW oder Bayer organisiert sind. „Deshalb sind sie bereit, mit der Unsicherheit zu leben, wenn das Endergebnis ähnlich aussieht wie der Status quo.“

Die größte Sorge der Firmen ist nach wie vor der harte Brexit: also ein Zurückfallen Großbritanniens auf den Status eines Drittlandes, bei dem Im- und Exporte grundsätzlich durch den Zoll abgefertigt werden müssen.

Wie groß die Anstrengungen auch auf britischer Seite sind, einem solchen Szenario so lange wie möglich zu entgehen, zeigen die zuletzt deutlich erhöhten Warenflüsse über den Ärmelkanal. So sind die Lkw-Transporte nach Großbritannien im ersten Quartal 2019, also unmittelbar vor dem ersten geplanten Brexit-Termin, im Vergleich zum Vorjahr um 112 Prozent gestiegen. Das Kalkül: Wer es schafft, sich für eine gewisse Zeit unabhängig von grenzüberschreitenden Lieferungen zu machen, muss sich keine Sorgen über einen Fabrikstillstand zu machen, wenn von heute auf morgen die Zollschranken fallen.

So hat zum Beispiel auch der Chemiehersteller Bayer versucht, die Versorgung seiner britischen Kunden mit Medikamenten, Saatgut und Pflanzenschutzmitteln durch erhöhte Lagerkapazitäten in Großbritannien auch nach dem ursprünglich geplanten Austrittsdatum im Frühjahr zu sichern. „Im Rahmen unserer Vorbereitungen haben wir immer auch für einen harten Brexit geplant“, teilt das Unternehmen auf Anfrage mit. Verzögerungen an den Grenzen zählen für Bayer demnach zu den größten Brexit-Risiken, auf die sich der Konzern vorbereitet hat.

Auch der Stuttgarter Kabelhersteller Lapp hat im Vorfeld des geplanten Brexits seine Lagerkapazitäten deutlich erhöht. Der Konzern wäre von einem ungeordneten Brexit gleich doppelt betroffen gewesen: Einerseits bezieht das Familienunternehmen spezielle Chemikalien aus Großbritannien, mit denen sich zum Beispiel feuerfeste Ummantelungen herstellen lassen. Andererseits hat die Firma auch Kunden in Großbritannien – und deshalb auf beiden Seiten des Ärmelkanals angefangen zu hamstern, um seine britischen Kunden für sechs Monate störungsfrei beliefern zu können.

Die Lager werden wieder geleert

Doch nach der Verschiebung des Brexits in den Oktober werden die Bestände nun vorerst wieder abgebaut. „Wir reduzieren unsere Bestände im Vereinigten Königreich nun Schritt für Schritt mit dem laufenden Verkauf“, erklärt Josef Holz, operativer Geschäftsführer bei Lapp. „Eine Nachlieferung aus unserem Zentrallager findet erst nach einem vollständigen Lagerabbau statt – oder wenn es zu einem erneuten Horrorszenario wie im März kommen sollte.“

Für die Vormaterialien, die Lapp von britischen Produzenten bezieht, steht zudem ein weiterer Lieferant aus den USA bereit. Anders als Lagerbestände lassen sich Geschäftsbeziehungen allerdings schwerer wieder auflösen, wenn sich die Briten am Ende doch für einen Verbleib in der EU entscheiden sollten. „Wenn man neue Geschäftsbeziehungen aufgebaut hat, ist es unwahrscheinlich, dass man sie gleich wieder abbricht“, resümiert AHK-Geschäftsführer Hoppe. „Manches, was weg ist, bleibt dann auch weg.“

Das gilt auch für Firmen, die ihre Aktivitäten bereits in andere Länder der EU verlagert haben – wie etwa die beiden Elektronikhersteller Sony und Panasonic, die ihre Europazentralen aus Angst vor Steuer- und Zollproblemen mittlerweile in den Niederlanden registriert haben.

Bei Tecno Plast hat der vorläufige Abverkauf der „Brexit-Ware“ vor einigen Wochen begonnen. Ware im Wert von rund zwei Millionen Euro hatte das Düsseldorfer Unternehmen in den neuen Räumlichkeiten zusätzlich eingelagert, das entspricht knapp zehn Prozent des Gesamtumsatzes des Unternehmens.

Geschäftsführer Schnitzler will nun beobachten, wie sich die Situation entwickelt: „Ich habe noch nie so viele Sitzungen eines Parlaments verfolgt wie in den vergangenen Monaten, geschweige denn des britischen Unterhauses.“ Zeichnet sich vor dem neuen Termin Oktober eine ähnlich dramatische Situation ab wie im März, will Schnitzler seinen Lagerbestand – Platz für 1.200 Europaletten zählt die neue Halle – wieder aufbauen. Schnitzlers Problem: Einen Lieferanten außerhalb Großbritanniens gibt es für manche Produkte nicht.

Dass es schon Wochen vor dem neuen Tag X zu einer konkreten Ansage kommen könnte, erwartet im Moment niemand. Denn nach dem angekündigten Rücktritt der britischen Premierministerin Theresa May zum 7. Juni dürfte ein Brexit-Hardliner die Regierung in London übernehmen.

Als Favorit gilt der frühere Außenminister Boris Johnson, der wenige Stunden nach Mays Rücktritt seine Kandidatur ankündigte – zusammen mit dem Versprechen, die EU am 31. Oktober „mit oder ohne Deal“ zu verlassen. Er gilt als unberechenbar.
Entsprechend verhalten sind auch die Firmen mit dauerhaften Bekenntnissen zum Vereinigten Königreich. So gaben in der Umfrage der AHK rund 44 Prozent der Befragten an, ihre Investments in den kommenden zwölf Monaten weder erhöhen noch senken zu wollen. Ein Drittel denkt immerhin darüber nach, die Investitionen in britische Standorte zu erhöhen – während sechs Prozent ihr zukünftiges Engagement substanziell verringern wollen.

Mehr: Wer will die Nachfolge der britischen Premierministerin Theresa May antreten? Neuigkeiten zum Brexit finden Sie im Liveblog.