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„Die Coronakrise wird unsere Gesellschaft verändern“

Brandenburgs früherer Ministerpräsident spricht über die Auswirkungen von Corona, ungeahnte wirtschaftliche Stabilisierungsmaßnahmen und die geplante Ansiedlung des US-Autobauers Tesla.

Matthias Platzeck, früherer Ministerpräsident von Brandenburg, freut sich über die Tesla-Entscheidung. Foto: dpa
Matthias Platzeck, früherer Ministerpräsident von Brandenburg, freut sich über die Tesla-Entscheidung. Foto: dpa

Der ehemalige brandenburgische Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) lehnt die Einführung von Sonderwirtschaftszonen in Ostdeutschland angesichts der Coronakrise ab. Auf eine entsprechende Frage antwortete Platzeck im Interview mit dem Handelsblatt: „Ich vermute, dass diese Krise die Wirtschaft in ganz Deutschland hart treffen wird. Die Stabilisierungsmaßnahmen danach werden wohl grundlegender Art sein müssen und bisherige Vorstellungen sprengen.“

Platzeck ist überzeugt, dass die Krisenfolgen „unsere Gesellschaft auch verändern“ werde. „Zunächst müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet bleiben, Menschenleben zu schützen, die Versorgung zu sichern und die Wirtschaft, wo immer es geht, in Gang zu halten“, sagte der SPD-Politiker. „Ob wir alles einigermaßen gut überstehen, liegt, die Bundeskanzlerin hat zu Recht darauf hingewiesen, zu einem großen Teil an uns und unserem Verhalten.“

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Als positiv wertet Platzeck das geplante Tesla-Werk in Grünheide nahe Berlin. „Die Tesla-Ansiedlung ist ein Glücksfall für den Osten“, sagte er. „Nach allem, was ich wahrnehme, gibt es noch viele weitere Anfragen von potentiellen Investoren.“ Das sei auch nicht verwunderlich, wenn man sich das Medienecho zur Tesla-Ansiedlung ansehe. „Das hätte keine staatliche Marketingagentur in dieser Größenordnung jemals stemmen und bezahlen können“, sagte er.

Kritisch sieht Platzeck die Versuche von Umweltaktivisten, den Bau der Tesla-Fabrik zu stoppen oder zu verzögern. Zu einer offenen Gesellschaft gehörten Proteste zwar dazu. „Trotzdem würde ich mir bei allen Vorbehalten und auch Ängsten manchmal mehr Maß und Mitte wünschen“, sagte der SPD-Politiker. „Wir wissen alle, dass wir etwas tun müssen, und zwar intensiv und gründlich, um unseren Kindern diese Welt noch einigermaßen bewohnbar zu hinterlassen. Und dieses Tun muss dann auch möglich sein.“

Als Beispiel nannte Platzeck die Windkraft. „Wenn wir Windräder installieren wollen, dann regt sich sofort Widerstand“, sagte der SPD-Politiker. In Zeiten des Klimawandels brauche man aber solche erneuerbaren Energiequellen. „Ebenso brauchen wir Ansiedlungen von Firmen mit modernen Industrieprodukten – wie die Tesla-Fabrik.“ Ansonsten werde man die Herausforderungen nicht bewältigen können.

Lesen Sie hier das komplette Interview:

Herr Platzeck, die Corona-Krise verlangt den Menschen gerade einiges ab. Wird die Krise Gesellschaft eher weiter spalten oder – im Gegenteil – zusammenführen?

Ja, diese Krise verlangt uns einiges ab und wird unsere Gesellschaft auch verändern. Zunächst müssen alle Anstrengungen darauf gerichtet bleiben, Menschenleben zu schützen, die Versorgung zu sichern und die Wirtschaft, wo immer es geht, in Gang zu halten. Ob wir alles einigermaßen gut überstehen, liegt, die Bundeskanzlerin hat zu recht darauf hingewiesen, zu einem großen Teil an uns und unserem Verhalten. Vielleicht nehmen wir für die Zeit danach neben praktischen Erkenntnissen der Katastrophenvorsorge für uns alle auch eine Erneuerung einer eigentlich alten Erkenntnis mit. Die frühere brandenburgische Sozialministerin Regine Hildebrandt hat sie mal in den Satz gefasst: Der eigentliche Sinn des Lebens liegt im Miteinander ... – ich würde noch ergänzen... und im Füreinander.

Die Krise zwingt die Wirtschaft in die Knie. Brauchen die Unternehmen im Osten Deutschlands spezielle Hilfen, um die Zeit zu überstehen, braucht es eine Art Sonderwirtschaftszone?

Ich vermute, dass diese Krise die Wirtschaft in ganz Deutschland hart treffen wird. Die Stabilisierungsmaßnahmen danach werden wohl grundlegender Art sein müssen und bisherige Vorstellungen sprengen.

In Brandenburg hat sich vor der aktuellen Krise wirtschaftlich einiges bewegt. Tesla-Chef Elon Musk verkündete im vergangenen Jahr seine Pläne für eine Gigafactory. Dass seine Standortwahl auf Brandenburg fiel, war für viele eine dicke Überraschung. Für Sie auch?
Ich habe mich sehr gefreut – nicht nur über die Entscheidung, sondern auch darüber, dass Ministerpräsident Dietmar Woidke und seine Regierung mit einem wesentlichen Ansatz Recht behalten hat: Der Fundus an erneuerbaren Energien, der in Brandenburg vorhanden ist, hat das Zeug, zu einem großen Wettbewerbsvorteil zu werden. Mit der Tesla-Ansiedlung bewahrheitet sich diese Einschätzung.

Die erneuerbaren Energien haben Elon Musk bewogen, sich für Brandenburg zu entscheiden?
Einer der Ausgangspunkte für Elon Musk war: Autos sollen nicht nur klimaneutral fahren, sondern bereits der Herstellungsprozess soll auf Basis erneuerbarer Energien geschehen. Und da hat Brandenburg einiges zu bieten. Tesla hat eine zukunftsstarke Entscheidung getroffen. Es ist keine Ansiedlung unter Ansiedlungen, sondern eine mit einem echten Qualitätssprung.

Aber die Nähe zu Berlin wird wohl auch eine Rolle gespielt haben.
Davon gehe ich aus. Aber wirklich überzeugt haben vor allem das Angebot an erneuerbaren Energien, an guten Fachkräften, hoher Forschungskompetenz und sehr vertrauensvoller Zusammenarbeit. Und mit Sicherheit auch das Versprechen der Landesregierung, dass alle Genehmigungsverfahren zügig laufen werden. Diese Punkte haben sich wie Mosaiksteinchen zusammengefügt und schließlich zu dieser eindeutigen Entscheidung für Brandenburg geführt.

Wird das eine Signalwirkung auf andere Investoren haben, sich für den Ost-Deutschland zu entscheiden?
Ich habe das Gefühl, das passiert schon. Es hat die Entscheidung von BASF gegeben, in der Lausitz eine neue Fabrik für Batteriematerialien zu bauen. Nach allem, was ich wahrnehme, gibt es noch viele weitere Anfragen von potentiellen Investoren. Das ist auch nicht verwunderlich, wenn man sich das Medienecho zur Tesla-Ansiedlung ansieht. Das hätte keine staatliche Marketingagentur in dieser Größenordnung jemals stemmen und bezahlen können. Das blieb auch andernorts nicht ohne Wirkung.

Wie meinen Sie das?
Ich habe in Gesprächen erlebt, dass die Leute schon beeindruckt davon sind, was da in Brandenburg gelungen ist. Man kann das unter der Überschrift subsumieren: Mitleid kriegt man umsonst, Neid muss man sich erarbeiten. Da war dann schon auch zu hören: Wieso gerade ihr, wieso bei euch? Das hat auch etablierte Standorte zum Aufschauen bewegt.

Die geplante Ansiedlung ist also so etwas wie ein Glücksfall für den strukturschwachen Osten insgesamt?
Ja, das würde ich ganz klar so sehen. Die Tesla-Ansiedlung ist ein Glücksfall für den Osten. In der Kohlekommission …

… deren Vorsitzender Sie waren.
… haben wir monatelang genau solche Debatten geführt. Was kommt nach dem Ausstieg aus der Kohle? Und kommt das rechtzeitig und wird quantitativ und qualitativ so hinreichend sein, dass auch Industriearbeitsplätze entstehen? Da war natürlich auch viel Skepsis im Spiel.

„Gesellschaft muss stabil bleiben“

Inwiefern?
Naja, machen wir uns nichts vor: Mit dem Ausstieg aus der Kohle geht der derzeit größte industrielle Arbeitgeber in Brandenburg quasi verloren beziehungsweise strukturiert sich um. In dieser Phase des Strukturwandels passt es, im positiven Sinne gesprochen, wie die Faust aufs Auge, ein solches Ansiedlungsvorhaben verkünden zu können – mit einer Signalwirkung weit über Brandenburg hinaus.

Trotzdem haben sich Umweltaktivisten gegen den Bau der Tesla-Fabrik gewandt, darunter etwa die Grüne Liga, deren Gründungsmitglied Sie waren. Verstehen Sie deren Protest?
Zu einer offenen Gesellschaft gehören Proteste dazu. Menschen sollen ihre Sorgen und ihre Vorbehalte vorbringen können. Trotzdem würde ich mir bei allen Vorbehalten und auch Ängsten manchmal mehr Maß und Mitte wünschen. Wir wissen alle, dass wir etwas tun müssen, und zwar intensiv und gründlich, um unseren Kindern diese Welt noch einigermaßen bewohnbar zu hinterlassen. Und dieses Tun muss dann auch möglich sein.

Worauf spielen Sie an?
Nehmen Sie das Beispiel Windkraft. Wenn wir Windräder installieren wollen, dann regt sich sofort Widerstand. Wir brauchen in Zeiten des Klimawandels aber solche erneuerbaren Energiequellen. Ebenso brauchen wir Ansiedlungen von Firmen mit modernen Industrieprodukten wie die Tesla-Fabrik. Wenn man aber grundsätzlich die Haltung einnimmt: Macht das alles, aber nicht in meiner Nähe, dann werden wir die Herausforderungen nicht bewältigen können.

Das heißt?
Wir müssen dafür sorgen, dass die Gesellschaft stabil bleibt, dass Arbeitsplätze erhalten bleiben. Das bedeutet gerade für diejenigen, die sich gegen Veränderungen stellen: Sie müssen bereit sein, Kompromisse einzugehen. Ohne wird es nicht gehen. Unsere ganze Gesellschaftsordnung basiert darauf, Kompromisse zu schließen und auch mal Zugeständnisse zu machen. Man sollte also nie den Blick aufs Ganze verlieren.

Gehen Ihnen die Klagebefugnisse zu weit? Das Umwelt-Verbandsklagerecht erlaubt es Umweltverbänden, juristisch gegen Ansiedlungen wie die von Tesla vorzugehen, selbst wenn sie gar nicht direkt betroffen sind.
Verbandsklagerechte halte ich prinzipiell für ein wertvolles Gut. Aber es führt kein Weg daran vorbei, über die Sinnhaftigkeit mancher Regelungen zu diskutieren. In Deutschland gibt es inzwischen solche Tempoverluste und Entscheidungsblockaden bei der Planung von Projekten, dass wir diese Gesellschaft in Zukunft vielleicht nicht mehr stabil halten und mit hinreichend Arbeitsplätzen versorgen können.

Was also muss geschehen?
Es wird in den nächsten Wochen und Monaten eine sehr intensive Debatte über diese Problematik geben müssen. Die Zeit dafür ist reif. Wir haben es an manchen Stellen durch die Perfektionierung von Regeln und Klagemöglichkeiten so weit gebracht, dass es nicht wenige Menschen gibt, die sogar an unserem demokratischen Prozedere ein Stück verzweifeln.

„Geschichte wiederholt sich nicht, aber man darf aus ihr lernen“

Wie kommen Sie darauf?
Ich bin sehr viel auf Versammlungen und Diskussionsrunden unterwegs. Da werden zunehmend mit dieser Begründung Zweifel laut an unserer demokratischen Verfasstheit. Die Leute ärgert, dass Planungsverfahren teilweise ewig dauern und es oft nicht zu Entscheidungen kommt. Bei manchen wächst da der Wunsch: Jetzt brauchen wir endlich jemanden mit einer starken Hand, der die Entscheidungen trifft. Ich halte das für gefährlich.

Wie kann man dem entgegenwirken?

Wir müssen unserer Demokratie die ihr innewohnende Erotik erhalten intensiv und öffentlich streiten, dann entscheiden und dann die Entscheidung so umsetzen, das man die Ergebnisse noch erleben kann. Diese Kette darf nicht zu oft und zu lange entkoppelt werden.

Würden Sie dem Ökonomen Marcel Fratzscher zustimmen, der kürzlich meinte, der Fall Tesla sei symptomatisch für eine überbordende, ineffiziente und selbstgefällige Bürokratie in Deutschland, die immer häufiger eine Bremse für Wohlstand und Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft sei?
Ich würde vielleicht nicht die Worte von Herrn Fratzscher wählen und bei Tesla geht es ja nun rasant. Aber in der Tendenz hat er Recht. Dass eine gewisse Selbstgefälligkeit einer Gesellschaft dazu führt, sich einzuigeln und Regeln zu schaffen, die eine Weiterentwicklung erschweren, dafür gibt es Indizien. Nur ein Beispiel jenseits der Windkraft: Wenn man sieht, wie lange es dauert, eine kurze Eisenbahnstrecke im Süden, in der Lausitz zu bauen, dann zeigt das genau, die Problematik, die Herr Fratzscher skizziert hat. Alle wollen diese Eisenbahnstrecke. Aber dann heißt es: Mit einer Fertigstellung braucht ihr vor zehn oder 15 Jahren gar nicht zu rechnen.

Anfang der 1990er Jahre, also nach der Deutschen Einheit, half das sogenannte Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz, Genehmigungsverfahren für Großprojekte radikal zu vereinfachen und zu verkürzen. Brauchen wir so etwas wieder?
Geschichte wiederholt sich nicht, aber man darf aus ihr lernen. Ansätze daraus sollten man unbedingt übernehmen. Vor allem, wenn man sich die vielen Notwendigkeiten bei der Infrastruktur anschaut – ob das Schienenverbindungen, Straßen oder Brückenbauten sind. Wir sind gut beraten, für ein zügigeres Planungs- und Entscheidungstempo zu sorgen, damit Brücken nicht zusammengebrochen sind, bevor wir für Ersatz gesorgt haben.

Es haben sich über 300 Kritiker mit Einwendungen gegen das Tesla-Projekt gemeldet. Befürchten Sie, dass die Milliarden-Investition noch zu Fall gebracht werden könnte?
Ich weiß nicht, wie gehaltvoll die Einwendungen sind. Aber: Ein Scheitern des Projekts halte ich schlicht nicht für denkbar. Ich möchte mir es auch nicht vorstellen. Diese Ansiedlung ist eine einzigartige Chance für Brandenburg und für Deutschland.

Wer die Macher im Osten sind

Im Osten gibt es nach wie vor keine Dax-Unternehmen. Wird der Wille der Bundesregierung, hier künftig verstärkt Bundesbehörden anzusiedeln, etwas ändern?
Heimatminister Horst Seehofer hat klar gesagt, man dürfe ihn beim Wort nehmen, dass tausende Bundesbedienstete im Osten ihren Platz finden werden. Ich glaube ihm das ernsthafte Bemühen, trotzdem gibt es bei vielen eine gute Portion Skepsis.

Warum?
Weil es schon in den 1990er Jahren einen Beschluss der Bundesregierung gab, künftige neue Bundesbehörden nur noch im Osten anzusiedeln sind. Die Realität war dann aber eine andere. Ungefähr zwei Dutzend Bundesbehörden sind neu entstanden, davon ist nicht einmal eine Hand voll am Ende im Osten gelandet.

Dennoch können solche Ansiedlungen positive Effekte haben.
Das hat natürlich Signalwirkung und stärkt das Gefühl, dass in dieser Region ein Stück Zukunft zu Hause ist: Dort, wo sich große Bundesbehörden ansiedeln, kann doch nicht Hopfen und Malz verloren sein. Aber dass es im Osten nicht eine einzige Dax-Zentrale gibt, ist ein großer Strukturnachteil.

Wer sind die Macher in Ost-Deutschland?
Wir haben inzwischen ein breites Spektrum von kleineren und mittleren Betrieben, die auch international sehr erfolgreich unterwegs sind. Ich bin ziemlich optimistisch, dass Stück für Stück auch der Osten seinen Weg finden wird. Aber es wird ein Weg sein, der größtenteils ohne Dax-Unternehmen auskommen muss. Die werden sich hier auch in den nächsten fünf Jahren nicht ansiedeln.

Der Jahresbericht zur Deutschen Einheit hat gezeigt: so richtig schlecht geht es dem Osten nicht. Die Stimmung ist oft schlechter.
Das ist so. Es gibt eine Entkopplung von Stimmung und Datenlage – doch das würde ich nicht nur auf den Osten beziehen.

Hier ist es aber häufiger anzutreffen.
Das ist erklärbar. Vieles von dem, was in den ersten 15 Jahren nach dem Fall der Mauer nicht gut oder sogar schlecht gelaufen ist, wo Fehler gemacht wurden und Verletzungen entstanden sind, das bricht oft jetzt erst auf.

Sie selbst kommen aus Ostdeutschland, waren lange Ministerpräsident eines ostdeutschen Bundeslandes – was waren die größten Probleme?
Fast jede Familie war vom industriellen Zusammenbruch der 1990er Jahre betroffen. Die Arbeitslosigkeit stieg von Null auf 30 – 40 Prozent. Studien- und Berufsabschlüsse wurden häufig nicht anerkannt, Zusatzqualifikationen waren notwendig. Und kaum hatte sich die Gesellschaft mühsam davon erholt, kam die Wirtschafts- und Finanzkrise, danach die Flüchtlingskrise.

Wovon der Osten doch viel weniger betroffen war ...
Das stimmt. Aber zum dritten Mal in kurzer Zeit gab es das Gefühl, der Staat hat etwas nicht im Griff. Wir haben nun die Aufgabe, die vergangenen 30 Jahre positiver zu erzählen: Frauen und Männer, was ihr seit dem Fall der Mauer geschafft habt, das ist etwas Herausragendes, darauf könnt ihr stolz sein – das gehört nämlich auch zur Wahrheit und kann uns den Mut für künftige Herausforderungen geben.

Am Termin für Kohleausstieg nicht rütteln

Und so lange das nicht passiert, hält der Zulauf zur AfD an?
Solche verkürzten Zuweisungen sind schwierig. Aber ja, ich glaube, dass da zumindest eine der Quellen zu finden ist.

Und andere?
Es ist ein Mix aus Unsicherheiten, Ängsten, aber auch Frust – zum Beispiel darüber, dass im Osten noch immer deutlich länger gearbeitet für deutlich weniger Geld. Übrigens ist es bemerkenswert, dass die AfD-Anführer – Gauland, Höcke, Kalbitz – alle aus West-Deutschland kommen.

Was versprechen sich die Wähler davon, AfD zu wählen? Ist es Ausdruck von Protest?

Natürlich auch. Viele Jahre hat die Linkspartei Protestpotenzial gebunden – die gleichzeitig aber immer vermocht hat, die Menschen im demokratischen Spektrum zu halten. Das rechne ich ihr an. Aber je mehr Regierungsbeteiligung die Linkspartei in den östlichen Bundesländern hat, um so weniger kann sie Auffangpartei für Protestwähler sein.

Macht Ihnen die Entwicklung Sorge?
Na klar macht mir das Sorge. Nach 30 Jahren Einheit hätte ich mir das politische Gefüge ein Stück weit anders vorgestellt. Aber wir anderen so genannten etablierten Parteien müssen uns auch fragen, wo wir Versäumnisse zugelassen haben.

Die Regionalförderung wurde gerade neu geordnet. Künftig könnte für den Osten weniger Geld zur Verfügung stehen, weil auch der Westen mehr Gelder bekommen soll. Das dürfte Ihnen nicht gefallen.
Es ist sinnvoll, nach klaren Kriterien zu fördern. Und dann werden wir schnell feststellen, dass Kriterien, die beispielsweise für das Ruhrgebiet zutreffen, auch und besonders im Osten gelten, eben weil hier der Nachholbedarf nach wie vor hoch ist.

Sind denn gleichwertige Lebensverhältnisse nach wie vor ein Ziel?
Absolut. Die Menschen sollen bundesweit überall eine Perspektive sehen.

Brandenburg steht aufgrund des Kohleausstiegs ein gewaltiger Strukturwandel bevor. Geht der Ihnen zu schnell oder muss aufgrund des sich beschleunigenden Klimawandels und der Proteste der Jugendlichen der Kohleausstieg schneller kommen?
Wir haben diese Frage in der Kohlekommission bis in die Nächte hinein so ausgiebig diskutiert, dass wir am Schluss mit nur einer Gegenstimme einen Kompromiss gefunden haben ...

... den Ausstieg aus der Kohle bis 2038.
Daran sollten wir nicht rütteln, weil damit auch die Kompromiss- und Konsensfähigkeit in Frage gestellt werden würde, die wir brauchen für alle weiteren Aufgaben, die auf unsere Gesellschaft zukommen.

Vielen Dank für das Interview, Herr Platzeck.