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Das China-Dilemma – Wie die Volksrepublik zur Falle für deutsche Konzerne wird

Für ihr Wachstum setzen deutsche Firmen voll auf China. Doch dort bricht die Konjunktur ein. Die Konzerne geraten in die Mühlen des Handelsstreits zwischen China und den USA.

He Shengzhi geht es eigentlich gut. Als Abteilungsleiter in der Stadtregierung Fengjies im Südwesten Chinas ist er Beamter auf Lebenszeit, der Staat verschafft ihm Vorteile wie eine mietgünstige Wohnung. So kann er trotz eines Monatsgehalts von einigen Tausend Yuan ein recht teures Auto fahren. Einen dunkelblauen Passat, den er vor vier Jahren für 218.000 Yuan, umgerechnet 28.000 Euro, gekauft hat. Damit fährt der Beamte zum Einkaufen oder seinen Sohn in Wuhan besuchen, einer 500 Kilometer weit entfernten Stadt. „Natürlich sind einige Autos schöner“, sagt er. „Aber hier stimmt das Preis-Leistungs-Verhältnis.“

Zwar würde sich He Shengzhi gerne mal wieder ein neues, vielleicht schickeres Auto zulegen. Aber der Chinese zögert. Die Wirtschaft läuft derzeit nicht rund. Nicht wenige in China fürchten sich vor einem Handelskrieg mit den USA. Sein Passat habe ja auch erst 50.000 Kilometer auf dem Tacho, beruhigt sich He Shengzhi. „Ich kann den Passat mindestens noch zwei Jahre fahren.“

Die Zurückhaltung von Abteilungsleiter Shengzhi steht stellvertretend für die vieler Chinesen. Der Autoabsatz in China ist 2018 um sechs Prozent gesunken – der erste Rückgang seit mehr als zwei Jahrzehnten. Die Zahlen sind so schlecht, dass sie der im Frühjahr ins Amt gekommene VW-Chef Herbert Diess gleich zur Chefsache erklärte. Vor wenigen Tagen flog er nach Peking, übernahm die Geschäftsleitung höchstpersönlich: „Das Schicksal der Volkswagen-Gruppe entscheidet sich in China.“

Nicht nur der Automarkt schwächelt. Für viele Experten völlig unerwartet, brachen die chinesischen Exporte und Importe im vergangenen Dezember ein. Die chinesische Staatsführung rechnet für 2019 nur noch mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von sechs bis 6,5 Prozent. Für westliche Verhältnisse klingt das märchenhaft viel, für China ist es eine bescheidene Prognose. Schon der Wert von 2018 mit 6,5 Prozent war die niedrigste gesamtwirtschaftliche Zuwachsrate seit 1990.

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Die Zahlen aus China sind nicht gerade beruhigend. Manche denken gar, dass sie in Wahrheit noch viel schlechter sind. Viele westliche Volkswirte argwöhnen, dass die Regierung in Peking die Daten zur Beruhigung der Märkte schönt. „Ich habe kein sonderliches Vertrauen in amtlichen Statistiken des Landes“, sagt Bert Rürup, ehemaliger Wirtschaftsweiser und Präsident das Handelsblatt Research Institute. „Aber unabhängig von der konkreten gemeldeten Wachstumsrate ist eines klar: Der Wachstumstrend Chinas geht zurück.“

Eine Erfolgsgeschichte gelangt an einem Wendepunkt. Noch vor 20 Jahren spielte China kaum eine Rolle für Deutschland. Heimische Unternehmen exportierten nur 5,4 Milliarden Euro in das Land. Doch das änderte sich grundlegend, 2007 summierten sich die Exporte bereits auf rund 30 Milliarden Euro, um sich im vergangenen Jahr auf mehr als 90 Milliarden Euro zu belaufen – fast drei Prozent des deutschen Bruttoinlandprodukts.

„Wenn Amerika niest, kriegt die Welt eine Grippe“: Dieses Sprichwort gilt mittlerweile auch für China. Deutschland schrammte im vergangenen Quartal nur knapp an einer Rezession vorbei. Insgesamt legte das deutsche Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2018 nur um 1,5 Prozent zu, im Vorjahr wuchs die deutsche Wirtschaft noch um 2,2 Prozent.

Sicher, der Wachstumseinbruch liegt am Handelsstreit, den die USA losgetreten haben, wie auch an den Unsicherheiten durch den Brexit – aber ganz maßgeblich auch an der Konjunkturabschwächung in China.

Für die deutschen Unternehmen steht viel auf dem Spiel in Fernost. Im Schnitt erzielen die mehr als drei Millionen deutschen Firmen rund sieben Prozent ihrer Umsätze in China. Bei wichtigen Großkonzernen ist die Abhängigkeit vom chinesischen Markt weit größer. BMW, Daimler und VW sowie der Halbleiterhersteller Infineon und der Spezialchemiekonzern Covestro setzen mehr als jeden fünften Euro in China um. Für sie ist das Land der größte Absatz- und damit Einzelmarkt – noch vor dem Heimatmarkt Deutschland.

„Natürlich ist das ein Klumpenrisiko“, sagt Gabriel Felbermayr, der in wenigen Wochen Präsident des Kieler Instituts für Weltwirtschaft wird. Aber das lasse sich wohl kaum vermeiden: „Es wäre ein größeres Risiko gewesen, sich dort nicht zu engagieren.“

Die 30 Dax-Konzerne zusammen unterhalten in China knapp 700 Tochtergesellschaften und erwirtschafteten nach Handelsblatt-Berechnungen im abgelaufenen Geschäftsjahr im Schnitt gut 15 Prozent ihrer Umsätze in China. Das entspricht rund 200 Milliarden Euro – so viel wie noch nie.

Rangierte China noch vor drei Jahren auf Platz fünf in der Exportstatistik Deutschlands, rückte es im vergangenen Jahr auf Platz drei. Noch wichtiger sind bislang allein die USA und Frankreich. Der Vorsprung verringert sich aber stetig. Während die deutschen Ausfuhren 2018 nach China um knapp zehn Prozent zunahmen, stiegen sie nach Amerika nur um 2,2 Prozent – während sie nach Frankreich leicht fielen.

Die deutsche Wirtschaft ist gefangen im China-Dilemma. Als Absatzmarkt ist China von enormer Bedeutung für die Unternehmen. Kein deutscher Konzern kann es sich leisten, in China nicht aktiv zu sein. Noch wichtiger als für die Gegenwart aber ist China für die Zukunft. Nur wenn die enormen Zuwächse im China-Geschäft fortgeschrieben werden, lassen sich auch die Wachstumsprognosen der deutschen Konzerne aufrechterhalten. Was geschieht, wenn diese Story plötzlich nicht mehr stimmt, zeigt ein Blick auf den einst wertvollsten Konzern der Welt.

Was China für Apple bedeutet

Apple überraschte zum Jahresanfang mit einer schlechten Botschaft die Märkte. Im Weihnachtsgeschäft verkaufte der US-Konzern weniger iPhones als erwartet. Anleger schickten nicht nur die Apple-Aktie auf Talfahrt, sondern auch die von Infineon.

Sie bewiesen damit einen feinen Instinkt. Denn Apples Konzernchef Tim Cook versah seine Umsatzwarnung mit dem Vermerk, dass sich die chinesische Wirtschaft im zweiten Halbjahr 2018 abgekühlt habe – und China ist für Apple wie für Infineon ein ganz wichtiger Absatz- und zugleich Produktionsmarkt.

Die Sorgen beschränkten sich nicht auf Apple. Auch Samsung, größter Konkurrent der Amerikaner, schockierte seine Aktionäre mit sinkenden Smartphone-Verkäufen. Der Betriebsgewinn brach im vierten Quartal um 29 Prozent ein. Konkurrent LG Electronics, weltweit der zweitgrößte Fernsehproduzent, erwischte es noch schlimmer. Der Gewinn sackte um 80 Prozent weg. Ursache in beiden Fällen: weniger Nachfrage aus China, dazu sinkende Weltmarktpreise, weil die Unternehmen mehr produzieren, als die Kunden ordern.

Hiobsbotschaften made in China sind der neue Exportschlager. Der Absatz von Ford in China ist 2018 um mehr als ein Drittel eingebrochen. Der britisch-indische Autobauer Jaguar Land Rover (JLR) baut Tausende Stellen ab, vor allem weil die Geschäfte in China der Tochtergesellschaft von Tata Motors zu schaffen machen. In China fiel der JLR-Absatz im dritten Quartal um 44 Prozent.

Betroffen sind fast alle Industriezweige. „Wir erwarten nicht unbedingt Rückgänge, aber eine deutlich verminderte Drehzahl“, warnte der Chefvolkswirt des Maschinenbau-Branchenverbands VDMA, Ralph Wiechers. Viele chinesische Kunden signalisierten Zurückhaltung.

„Es ist eine Tatsache, dass das Wachstum in China sich verlangsamt, und zwar dauerhaft“, sagt Hubert Lienhard, Vorsitzender des Asien-Pazifik-Ausschusses (APA) der Deutschen Wirtschaft. Das sei „eine ganz normale Entwicklung“ wie zuvor in „Korea, Taiwan und Japan“.

Einzigartig ist aber laut Lienhard ein anderer Faktor: die Handelssanktionen zwischen USA und China, „die Investoren verunsichern“. In den vergangenen zwölf Monaten ist die Schanghaier Börse um ein knappes Drittel gefallen. Das hat negative Folgen auf den Konsum der Chinesen, von denen viele Aktien besitzen und die sich weniger wohlhabend fühlen.

Wie sehr die Stimmung unter den chinesischen Verbrauchern kippt, zeigte eine im Januar veröffentlichte Studie der in Peking ansässigen Capital University of Finance and Economics. Lag der Index der Verbraucherzuversicht im vierten Quartal 2017 noch bei optimistischen 105,1 Punkten, fiel er für den gleichen Zeitraum 2018 auf pessimistische 99,4 Punkte.

Vor allem zunehmende Sorgen um Arbeitsplätze und Einkommen veranlassen die Chinesen, ihre Ausgaben zu kürzen, heißt es im Bericht. Fallende Immobilienpreise beunruhigen die Bürger zusätzlich. Yang Huicong, Professor an der chinesischen Akademie der Wissenschaften, sagt ein langsameres Lohnwachstum und eine höhere Verschuldung der Haushalte voraus, was den Konsum auch 2019 bremsen wird.

USA und China: Kritische Punkte

Der 1. März 2019 wird nun zum Schicksalstag für die Deutschen. Spätestens, wenn es an dem Tag in Washington Mitternacht schlägt, müssen sich die USA und China geeinigt haben. Dann nämlich läuft das von Präsident Donald Trump und Staatspräsident Xi Jinping verhandelte Moratorium aus. Die USA würden ihre Zölle auf chinesische Waren im Wert von 200 Milliarden Dollar drastisch erhöhen.

Seit vergangener Wochen verhandelt eine US-Delegation in Peking. Bislang verlaufen die Gespräche laut dem „Wall Street Journal“ nicht sonderlich erfolgreich, Punkte wie der Technologietransfer oder der Import von landwirtschaftlichen Produkten nach China sind strittig.

Wie auch immer die Konfrontation zwischen Washington und Peking ausgeht, deutsche Unternehmen sind massiv betroffen. Die Autohersteller BMW und Daimler sind gleich doppelt gestraft. Nicht nur schwächt sich die Binnennachfrage in China ab, auch produzieren sie in den amerikanischen Großwerken Spartanburg (BMW) und Tuscaloosa (Daimler).

Durch die Strafzölle verteuert sich der Export der dort hergestellten Autos. Absatzzahlen, Gewinne und Margen sinken. Schon vor Jahresschluss warnte BMW: „Die ab Anfang Juli eingeführten Strafzölle zwischen den USA und China haben sich negativ im Berichtszeitraum ausgewirkt.“

Wettbewerber Daimler verdreifachte in nur vier Jahren seine Verkäufe in China und setzte in seinem größten Absatzmarkt zuletzt jeden vierten Mercedes ab. Beim Blick nach vorn überwiegt Skepsis: „Aufgrund der enormen Bedeutung Chinas als Wachstumstreiber der Weltwirtschaft in den vergangenen Jahren ist in einem konjunkturellen Einbruch der chinesischen Wirtschaft ein erhebliches Risiko für die Weltwirtschaft zu sehen.“

Noch fortgeschrittener ist die Abhängigkeit von der China-Droge bei Volkswagen. Ohne China wäre der Autohersteller heute nicht mehr vorstellbar. Rund 40 Prozent seines gesamten weltweiten Fahrzeugabsatzes, 2018 waren das fast elf Millionen Stück, verbucht der Wolfsburger Autokonzern in der Volksrepublik. Zum Vergleich: Auf dem Heimatmarkt in Deutschland hat der VW-Konzern im vergangenen Jahr knapp 1,3 Millionen Fahrzeuge verkaufen können, das sind etwa zwölf Prozent des weltweiten Absatzvolumens.

China ist auch unter Ertragsaspekten unverzichtbar für VW geworden. Etwa 20 Prozent des operativen Gewinns kommen inzwischen aus der Volksrepublik, 2017 hatten die chinesischen Tochtergesellschaften rund 3,6 Milliarden Euro an Dividende nach Wolfsburg überwiesen. Neuere Zahlen liegen noch nicht vor. Der VW-Konzern veröffentlicht seine Jahresbilanz erst im März. Wie allerdings aus Unternehmenskreisen verlautete, ist auch im vergangenen Jahr ein Betrag in ähnlicher Größenordnung nach Deutschland geflossen.

Seit seinem Amtsantritt als Staatschef der Volksrepublik China 2013 baute Xi Jinping seine Macht stetig aus. Doch das Jahr 2019 könnte für ihn zur Bewährungsprobe werden. Denn die Bevölkerung bekommt die Auswirkungen des Konflikts zwischen Washington und Peking zu spüren.

In Südchina demonstrieren seit Monaten immer wieder Arbeiter und Angestellte. Einige von ihnen waren in Firmen beschäftigt, die ihre Produkte in die USA exportierten. Seitdem Washington immer mehr Strafzölle verhängt, geht der Handel zurück, wodurch Jobs verloren gingen. „Wirtschaftswachstum ist das wichtigste soziale und politische Schmiermittel“, sagt Ökonom Rürup, „mit dem die Regierung große Teile der Bevölkerung mit Erfolg ruhig hält.“

Der Druck auf die Staatsführung in Peking ist groß, schnell Abhilfe zu schaffen. China steckt zudem mitten in einem Strukturwandel. Die Zeiten des Turbowachstums mit jährlichen Steigerungsraten der Volkswirtschaft von mehr als zehn Prozent sind vorbei. Und das Land will nicht länger die Werkbank der Welt sein. In dieser Phase sind viele Firmen besonders angreifbar.

Die Regierung interveniert bereits, um die Inlandsnachfrage zu stützen und möglichen Massenentlassungen vorzubeugen. Erst am gestrigen Donnerstag schleuste die chinesische Notenbank rund 73 Milliarden Euro in das Bankensystem, um die Wirtschaft zu stimulieren – so viel wie nie zuvor.

Das Land kommt auch Unternehmen entgegen. Firmen, die niemanden entließen, sollten die Hälfte ihres Vorjahresbeitrags zur Arbeitslosenversicherung zurückerhalten. Die entsprechenden Pläne würden beschleunigt. Außerdem sollen neue Fonds für kleine und mittelständische Unternehmen den Kapital- und Kreditzugang erleichtern.

Die ING Bank geht in einer Studie von einem „beachtlichen“ Konjunkturprogramm aus. Jedoch: „Die Regierung scheint sich aber Zeit zu lassen, vielleicht auch, weil sie während der Finanzkrise mit dem Stimulus über das Ziel hinausgeschossen ist“, heißt es darin. Konjunkturprogramme sind nichts Neues.

Chinas Wirtschaft wächst seit Jahren zu einem großen Teil deshalb, weil die Staatsausgaben erhöht werden. Das Geld fließt in neue Straßen, neue Flughäfen, neue Brücken. Doch Berichte von Geisterstädten und leeren Gebäuden häufen sich. „Da hat es viel Übertreibung gegeben“, sagt Marco Wagner, Ökonom von der Commerzbank.

Die Regierung setzt jetzt mehr auf Konsum. Der macht rund zwei Drittel des Wirtschaftswachstums in China aus. Vergangene Woche signalisierte der Vizevorsitzende der staatlichen Entwicklungskommission, dass es finanzielle Anreize für den Kauf von Autos oder Waschmaschinen geben könnte. „Es gibt noch Potenzial, um den angemessenen Konsum der Bewohner zu unterstützen“, sagte Ning Jizhe dem Fernsehsender CCTV. Für ländliche Regionen würden entsprechende Pläne erarbeitet.

Die Ankündigung der chinesischen Regierung ist laut Ökonom Rürup eine „gute Botschaft für die deutsche Industrie“. Das Hilfsprogramm wird mit Steuer- und Zinsvergünstigen vor allem kleineren und mittleren Unternehmen sowie dem produzierenden Gewerbe helfen. Deutschland exportiert neben hochpreisigen Autos vor allem Investitions- und Ausrüstungsgüter nach China, und „zwar vorrangig von den äußerst leistungsfähigen Mittelständlern“, so Rürup.

Die Kehrseite der Wohltaten: Die Verschuldung von China steigt in immer höhere Dimensionen. 1998 belief sich das an den Privatsektor mit Ausnahme des Finanzsektors verliehene Kreditvolumen auf rund 88 Prozent des Bruttoinlandsprodukts von China. Mit der Finanzkrise 2008 explodierte die Verschuldung, beläuft sich heute auf mehr als 200 Prozent. Ein Schattenbankensystem und ineffiziente Staatsbetriebe geben ebenfalls Anlass zur Sorge.

Der berühmte Hedgefondsmanager George Soros sah 2016 gar eine Parallele zur Finanzkrise in den USA. Das Wachstum in China sei „ähnlich angetrieben durch eine nicht nachhaltige Kreditexpansion“. Soros Bedenken vor einer Blase in China mögen berechtigt sein, haben aber nur einen Haken: Die Krise wird schon von Experten seit langer Zeit angekündigt, kommt aber nie. „Das Geschick der chinesischen Regierung ist unglaublich“, sagt Ökonom Rürup.

Infineon braucht die Volksrepublik

Es bedarf einer Präzisierung. Deutschland ist nicht nur abhängig vom Wachstum in China, sondern – via China – auch vom Welthandel. Das zeigt das Beispiel Infineon. Die Volksrepublik ist für Deutschlands größten Chiphersteller der mit Abstand wichtigste Markt. Rund jeden dritten Euro erwirtschaftet Infineon in China, das entsprach zuletzt gut 1,9 Milliarden Euro. Zum Vergleich: Deutschland steht lediglich für 15 Prozent der Infineon-Erlöse.

Das war einmal anders. Vor vier Jahren waren Deutschland und China noch gleichauf bei 20 Prozent. China ist der Wachstumsmotor für das Unternehmen. Im vergangenen Geschäftsjahr kletterte der Umsatz der Münchener um etwa eine halbe Milliarde Euro, knapp 200 Millionen davon stammen aus China.

Es ist nicht weiter überraschend, dass Infineon so viel in China verkauft. Erstaunlich ist vielmehr, dass der Anteil nicht noch höher ist. Denn rund ein Drittel aller Chips weltweit werden in der Volksrepublik verbaut. Das liegt vor allem daran, dass ein Großteil aller Handys und Computer dort produziert wird. Unter den 20 größten Halbleitereinkäufern der Erde stammen inzwischen sieben aus China: Lenovo, Huawei, Oppo, Xiaomi, Vivo, ZTE und TC. 2012 waren es lediglich zwei.

Diese Konzerne exportieren einen großen Teil ihrer Ware. Daher ist für Infineon nicht allein die Binnennachfrage in China entscheidend, sondern auch die Weltwirtschaft. Infineon nennt ausdrücklich im Geschäftsbericht als Risiko eine „zurückgehende Auslandsnachfrage und einen damit einhergehenden Rückgang der chinesischen Fertigungsauslastung“.

Aber für Infineon wird auch China als Binnenmarkt immer wichtiger. Stichwort Elektroautos und selbstfahrende Fahrzeuge: Zunächst kündigte Vorstandschef Reinhard Ploss an, mit dem Suchmaschinenbetreiber Baidu beim autonomen Fahren zu kooperieren.

Im Februar gründeten die Bayern ein Gemeinschaftsunternehmen mit SAIC, dem größten Autohersteller des Landes. Die Partner produzieren sogenannte Leistungshalbleiter für Elektrofahrzeuge. Dazu eröffnete Infineon im August eine neue Fertigung in Wuxi. „China ist der größte und am schnellsten wachsende Markt für Elektrofahrzeuge“, sagte Ploss.

Die Stromer sind für Infineon ganz besonders interessant. Der Chipanteil am Wert eines Elektroautos oder Hybridfahrzeugs ist doppelt so hoch wie bei einem mit Verbrennungsmotor, statt 375 Dollar sind es im Schnitt 750 Dollar. Daher könnte Infineon im Autogeschäft in China weiterwachsen, obwohl der Fahrzeugabsatz in dem Land inzwischen zurückgeht.

Dazu kommt: China baut das Netz an Stromtankstellen aus. Bis 2020 sollen in dem Land dem Unternehmen zufolge 10.000 Ladestationen entstehen. Infineon liefert Chips, ohne die diese Stromzapfsäulen nicht funktionieren.

Seine modernsten und wichtigsten Fabriken, das sogenannte Frontend, betreibt Infineon allerdings nicht in China, sondern in Europa und Malaysia. Lediglich die Weiterverarbeitung findet in China selbst statt. Dabei wird es auch auf absehbare Zeit bleiben. Der Infineon-Chef hat gerade damit begonnen, ein neues Chipwerk in Österreich zu bauen: Für 1,6 Milliarden Euro, mit gewaltigen Kapazitäten und ohne größere staatliche Subventionen.

In China hätte die Firma wohl Hunderte Millionen Euro vom Staat bekommen, heißt es in Industriekreisen. Damit hätte sich die Fabrik vom ersten Tag an rentiert, das Investment wäre rein wirtschaftlich risikolos. Insidern zufolge fürchteten die Deutschen aber um ihr Know-how.

Denn dass die Chinesen selbst ins Chipgeschäft drängen, ist klar. Im Geschäftsbericht warnt der Konzern ausdrücklich: Es bestehe „das Risiko einer künftig verstärkten Eigenfertigung von bisher zugelieferten Halbleitern in China und eines zunehmenden Exports der in China produzierten Halbleiter“. Bislang stehen chinesische Halbleiterfirmen nur für rund drei Prozent vom globalen Umsatz der Branche. Der deutsche Industrieverband ZVEI rechnet indes fest damit, dass der Anteil der Chinesen in den nächsten Jahren steigen wird.

China als Zukunftslabor

Auch Volkswagen setzt auf die Elektrifizierung auf Chinas Straßen. Bis zum Jahr 2020 sollen in der Volksrepublik jährlich etwa zwei Millionen elektrifizierte Fahrzeuge verkauft werden, also gut acht Prozent der Neuzulassungen. Als Marktführer will sich Volkswagen ein entsprechend großes Stück vom Kuchen abschneiden – und treibt selbst den Ausbau der Elektromobilität voran.

Bis Mitte des nächsten Jahrzehnts nimmt der VW-Konzern dafür etwa zehn Milliarden Euro in die Hand. Dann soll es etwa 40 verschiedene lokal in China produzierte E-Fahrzeuge geben. Volkswagen plant für 2025 für China mit etwa 1,5 Millionen pro Jahr verkauften Hybriden und rein batteriegetriebenen Autos.

Das in China gewonnene Know-how soll helfen, Volkswagen weltweit zum führenden Anbieter von Elektrofahrzeugen zu machen. Denn auch in Europa und in Nordamerika geht es bei VW mit dem Aufbau einer eigenen Elektroproduktion voran. Erst zu Wochenbeginn hatte Volkswagen bekanntgegeben, dass im US-Bundesstaat Tennessee die erste amerikanische E-Fabrik entstehen soll.

Als neuer China-Chef gibt der Konzernvorstandsvorsitzende Diess zudem eine neue Devise aus. Bislang exportierte Volkswagen sehr erfolgreich europäische Konzepte und Fahrzeuge nach China. Um dauerhaft in der Volksrepublik bestehen zu können und um auch Marktführer zu bleiben, dürfte das allerdings nicht ausreichen. „Volkswagen muss chinesischer werden“, fordert Diess. Die Autos der Zukunft müssten einen Teil ihres europäischen Charakters verlieren und stärker auf chinesische Ansprüche zugeschnitten sein.

Diess baut dazu zusätzliche Entwicklungskapazitäten in China auf. Die chinesischen Standorte sollen damit eine stärkere Bedeutung im gesamten Konzern bekommen. Der VW-Chef will zusätzliche Entwicklungsabteilungen vor allem in den Bereichen schaffen, in denen die Chinesen schon heute stark sind: bei der Digitalisierung, in der IT, bei allen Dingen, die mit dem Internet und mit Smartphones zusammenhängen.

Die chinesische Bevölkerung ist deutlich IT-affiner als etwa die deutsche. Deshalb sollen die Volkswagen-Modelle in China künftig auch mehr Internetschnittstellen bekommen als in Europa üblich. Das Auto könnte beispielsweise eigenständig die Park- oder die Tankrechnung ausweisen.

Solche Dienste werden in den Labors chinesischer Volkswagen-Ingenieure entwickelt. Sollten deutsche Kunden eines Tages auch diesen Service nach chinesischem Vorbild verlangen, müssten diese Dienste in Wolfsburg nicht noch einmal entwickelt werden – die Kollegen in China hätten schon die entscheidende Vorarbeit geleistet.

Ob bei Infineon oder Volkswagen: Immer stärker passen deutsche Konzerne ihre Produkt-DNA an die Bedürfnisse des chinesischen Marktes an. Aber werden sich die damit verbundenen Zukunftshoffnungen auch erfüllen?

Deutschland ist abhängig von Trumps Entscheidungen

In diesen Tagen verhandeln die Amerikaner mit den Chinesen. Kein Deutscher ist mit von der Partie, dabei geht es um viel für Deutschland. Die Volkswirtschaft ist stark in den Welthandel eingebunden, schwimmt, so Ökonom Rürup, „wie ein Korken auf dem Meer“. Das heißt auch: Deutschland ist derzeit abhängig von Trumps Entscheidungen – und Launen – in Sachen Zölle.

„Ich glaube, wir werden uns mit China einigen“, sagte der US-Präsident vor wenigen Tagen. Laut Harvard-Ökonom Martin Feldstein ist Trump bereit für einen Kompromiss: „Es macht ihn nervös, wie sehr der Handelsstreit mit China der Börse zusetzt.“

Die Verhandlungen beobachten deutsche Manager wie BASF-Konzernchef Martin Brudermüller gespannt. Er kennt China gut, leitete lange Zeit das Asiengeschäft des Chemieriesen von Hongkong aus. Er ist zuversichtlich, dass die chinesische Regierung den Handelskonflikt mit den USA bereinigen wird und der langfristige Wachstumstrend in China ungebrochen ist.

Brudermüller lässt seiner Überzeugung auch Taten folgen. So soll bis Mitte des nächsten Jahrzehnts in Guangdong mit Investitionen von rund zehn Milliarden Euro ein weiterer großer Verbundstandort entstehen, den BASF in Eigenregie betreiben will. Darüber hinaus planen BASF und ihr Partner Sinopec in Nanjing den Bau eines Crackers. Das ist eine Großanlage, mit der Öl oder Erdgas in chemische Grundbausteine wie Ethylen, Propylen und Butadien zerlegt wird.

Solche Basischemikalien wiederum sind Grundlage für zahlreiche chemische Folgeprodukte. Es geht laut Brudermüller um Anlagen, die man voraussichtlich über 40 oder 50 Jahre betreiben werde: „Wir werden die Strategie nicht ändern, nur weil die Zeiten gerade mal ein wenig rauer sind.“

Dabei schließt der BASF-Chef nicht aus, dass sich die aktuelle Schwächephase durchaus etwas länger hinziehen könnte. „Ich glaube, dass die derzeitige holprige Strecke für zwei Jahre anhalten kann“, sagte Brudermüller jüngst vor Analysten. Sie werde ausgelöst durch den Handelskonflikt. Aber das sei nur die Oberfläche der Problematik.

„Die eigentliche Diskussion geht um den Platz der Supermächte in der künftigen globalen Arena. China wird sich nicht erpressen lassen. Das wird eine längerfristige Auseinandersetzung.“ Das Chinageschäft werde in den nächsten Jahren wahrscheinlich etwas herausfordernder sein. „Aber die fundamentalen Bedingungen sind weiter intakt.“

So wie Brüdermüller sehen es viele deutsche Unternehmer, Manager und Ökonomen. Commerzbank-Ökonom Wagner zum Beispiel bleibt ebenfalls optimistisch. Es würden sich schon jetzt die Konjunkturprogramme in China bemerkbar machen. Als Indikator nimmt der Ökonom die dortigen Häuserpreise, die seien schon immer ein „Indikator dafür, wie gut es dem Land geht“, sagt Wagner.

„Nach einem Abfall 2017 steigen die Häuserpreise seit Mitte 2018 wieder.“ Die hätten laut Wagner mit einer Zeitverzögerung von ungefähr sechs Monaten eine „hohe Korrelation“ mit deutschen Exporten: „Ich sehe in der zweiten Jahreshälfte einen neuen Schub für die deutsche Wirtschaft voraus.“

APA-Vorsitzender Lienhard ist ähnlich zuversichtlich: „Auch wenn die Wachstumsraten in China künftig dauerhaft unter denen vergangener Jahre liegen, für die deutschen Unternehmen halte ich das für verkraftbar.“

Die China-Party geht weiter, so lautet der Konsens in der deutschen Wirtschaftselite. Vielleicht auch deshalb, weil die Party einfach weitergehen muss. Niemand hat einen Plan für den Alternativfall. Dabei ist der gar nicht mal so unrealistisch. Es müssen nur einige negative Faktoren zusammenkommen.

Einigen sich China und die USA nicht im Handelsstreit und kommt es zur Abkühlung der Konjunktur in beiden Ländern, dann stehen die Zeichen auf Unwetter. Zusammen mit einem möglichen ungeordneten Brexit könnte es „zappenduster“ für die deutsche Wirtschaft werden, sagt Ökonom Rürup. „Das wäre der perfekte Sturm.“