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Ampel-Plan für arme Stadtteile: Was sich hinter dem Konzept der Gesundheitskioske verbirgt

Lange Wartezeiten, medizinische Fachbegriffe und gestresste Ärzte, die kaum mehr als ein paar Minuten Zeit haben – Arztbesuche sind oft frustrierend. Noch schwieriger können die Besuche für Menschen sein, die an psychischen Krankheiten leiden, arm sind oder deren Muttersprache nicht Deutsch ist. Im Hamburger Stadtteil Billstedt-Horn leben besonders viele solcher benachteiligten Menschen. Dort ist deshalb 2015 das Projekt des Gesundheitskiosks entstanden, welches es Ende vorigen Jahres bis in den Koalitionsvertrag von SPD, Grünen und FDP geschafft hat.

Darin heißt es, dass die Regierung "in besonders benachteiligten Kommunen und Stadtteilen niedrigschwellige Beratungsangebote (z.B. Gesundheitskioske) für Behandlung und Prävention" einrichten wolle. Doch was genau ist das Konzept des Gesundheitskiosks?

Vor allem geht es um Aufklärung. Heißt: Die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen bieten keine medizinischen Leistungen an, sondern beraten Hilfesuchende und beantworten medizinische Fragen. "Viele Patienten und Patientinnen verlassen Arztpraxen oft mit dem Gedanken: Das habe ich nicht ganz verstanden. Oder da sind mir die nächsten Schritte nicht klar. Hinzukommen sprachliche Probleme bei denjenigen, deren Muttersprache nicht Deutsch ist", sagt Oliver Gröne. Der Mediziner sitzt im Vorstand von OptiMedis, einem britisch-deutschen Unternehmen, welches das Konzept des Gesundheitskiosks in Hamburg mitentwickelt hat. Heute ist OptiMedis allerdings kein Betreiber des Kiosks mehr. Gröne weiter: „Gesundheitskioske vermitteln Medizinisches so, dass alle Menschen es verstehen. Für ein Erstgespräch nehmen sich die Mitarbeiter 45 Minuten Zeit für ein Erstgespräch. In den meisten Arztpraxen sind dagegen schon 10-minütige Gespräche die Ausnahme."

Medizinische Beratungen in Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch, Polnisch, Russisch und Farsi

Ärzte und Ärztinnen sind unter den Mitarbeitenden in Billstedt-Horn aber die Ausnahme. Stattdessen haben die Beschäftigten ganz unterschiedliche Hintergründe: von Pflegeberufen über Hebamme bis zu Ernährungs- und Sozialberatern. Vor allem aber sprechen sie dabei unterschiedliche Sprache: Deutsch, Englisch, Türkisch, Arabisch, Polnisch, Russisch und Farsi.

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Vor Ort arbeiten die Mitarbeiter viel mit Diagrammen und grafischen Darstellungen, erklärt Gröne. Daher setze man vor allem auf persönliche Gespräche statt Telefonate. "Telefongespräche sind nicht so niedrigschwellig wie die Beratung vor Ort", sagt Gröne. Der Kiosk stehe dabei "allen Menschen aus allen Nationen offen". Wer ohne Krankenversicherung nach Hilfe sucht, den überweisen die Berater an die "Praxis ohne Grenzen".

Mehr Arztbesuche, weniger Krankenhaus-Einweisungen

Zwar nutzen vor allem sozial benachteiligte Hamburger den Kiosk als Anlaufstelle. Doch Probleme mit dem deutschen Gesundheitssystem haben nicht nur sie. Der Gesundheitskiosk komme allen Bewohnern des Viertels zugute, erklärt Alexander Fischer. Er ist Vorsitzender der Betreibergesellschaft "Gesundheit Billstedt-Horn", der sowohl Ärtzte wie auch Bewohner des Viertels angehören. Während Ärzte oft lange Wartelisten haben, sind viele Bewohner des Viertels unsicher, an wen sie sich wenden können. Das führe dazu, dass "Viele, die mit dem Gesundheitssystem wenig vertraut sind, beispielsweise direkt in die Notaufnahme eines Krankenhauses gehen, obwohl ihnen eigentlich auch der Hausarzt helfen könnte", so Fischer.

Während der Gesundheitskiosk Ratsuchende an die richtigen Ärzte und Ärztinnen verweisen kann, können Ärzte wiederum ihrerseits Patienten an den Gesundheitskiosk überweisen. So werden einerseits die Zahl der notwendigen medizinischen Behandlungen im Viertel erhöht und andererseits unnötige Arzt- und Krankenhausbesuche reduziert.

Das Hamburg Center for Health Economics (HCHE), welches das Modellprojekt in einer Studie untersucht hat, kommt zu dem Schluss, dass "durch das Projekt der Zugang zur ambulanten Versorgung nachweislich verbessert werden konnte". "Die Menschen gehen mehr in die ambulante Praxis vor Ort und weniger in die Krankenhäuser", bestätigt Jonas Schreyögg, wissenschaftlicher Direktor am HCHE. "Am Ende des Projekts konnte ein Rückgang der durch eine effektive ambulante Versorgung vermeidbaren Krankenhausfälle im Vergleich zu den anderen Stadtteilen Hamburgs um fast 19 Prozent festgestellt werden."

Daher hat auch die öffentliche Hand ein Interesse an der Arbeit des Gesundheitskiosks. Viele der Aufgaben des Gesundheitskiosks – etwa auch die regelmäßigen niedrigschwelligen Impfangebote – fielen in den Bereich der öffentlichen Gesundheitsfürsorge, erläutert Fischer. Daher hat die Stadt Hamburg das Projekt in der Entwicklungsphase auch finanziell unterstützt.

Noch dieses Jahr sollen die ersten Gesundheitskioske außerhalb Hamburgs entstehen

Doch um eine langfristige Finanzierung sicherzustellen, braucht es auch die Unterstützung der Krankenkassen. Bisher können die Leistungen des Kiosks über die Barmer, die Techniker-Krankenkasse, die DAK, die Betriebskrankenkasse Mobil Oil und die AOK Rheinland-Hamburg abgerechnet werden. Bei diesen fünf Kassen seien, laut Fischer, knapp 80 Prozent der Bewohner des Viertels versichert. Doch bisher handelt es sich nur um ein auf zwei Jahre angelegtes Pilotprojekt zur Finanzierung.

Die Krankenkassen verlangten, dass langfristig die Stadt Hamburg an Bord sein muss, erklärt Fischer. Dazu sei die Stadt auch prinzipiell bereit. Dennoch gäbe es eine ganze Reihe von offenen Fragen, was die Finanzierung betrifft. Zum Beispiel: Hat jemand, der nicht bei einer teilnehmenden Krankenkasse versichert ist, dennoch einen Anspruch, das mit öffentlichen Geldern finanzierte Projekt zu nutzen? Dann aber wäre der Anreiz für die restlichen Krankenkassen, sich ebenfalls finanziell zu beteiligen, gering. Langfristig wird das Projekt Gesundheitskiosk wohl nur finanzierbar sein, wenn sowohl die öffentliche Hand als auch alle Krankenkassen sich beteiligen.

Auf Landesebene in Hamburg gibt es inzwischen drei solcher Kioske. In Essen sollen im Jahr 2022 zwei weitere Gesundheitskioske nach Hamburger Vorbild entstehen. Bei deren Aufbau hat der Hamburger Träger die Stadt Essen beraten. Fischer betont jedoch, dass für das erfolgreiche Betreiben eines Kiosks viel Wissen über die lokalen Gegebenheiten voraussetzt. Ärzte im Viertel, Sozialvereine und lokale Politiker kennen die Verhältnisse und Probleme vor Ort am besten. Ein erfolgreicher Gesundheitskiosk brauche Lokalkolorit, erläutert Fischer. Eine Hamburger Trägerschaft könne nicht bis ins Detail ausarbeiten, wie beispielsweise ein Projekt in Essener Norden organisiert werden solle.

Letztlich sei es immer wichtig, die Projekte an die lokalen Umstände anzupassen, findet auch Gröne. Während Gesundheitskioske in Innenstadtvierteln durchaus sinnvoll seien, da sie fußläufig erreichbar sind, gäbe es in ländlichen Regionen ganz andere Probleme. Hier müssten die Angebote zu den Menschen kommen und nicht umgekehrt. Sogenannte Gesundheitslotsen könnten hier als mobile Teams eine ähnliche Funktion wie die Gesundheitskioske übernehmen.

"Wir müssen uns die Frage stellen, ob wir große Betreibergesellschaften wie bei Krankenhäusern haben wollen"

Bei der Ampel-Regierung fallen die Konzepte offenbar auf fruchtbaren Boden. Sowohl die Gesundheitskioske als auch die Gesundheitslotsen haben es in den Koalitionsvertrag geschafft. Noch gibt es zwar noch keine konkreten Pläne für den Ausbau eines bundesweiten Netzwerks von Gesundheitskiosken, jedoch versicherte das Bundesministerium für Gesundheit auf Anfrage, "dass alle im Koalitionsvertrag formulieren Vorhaben und Ziele sehr ernst genommen und zur gebotenen Zeit angegangen werden".

Wenn die Ampel-Regierung es ernst damit meint, in nur vier Jahren ein bundesweites Netz von Gesundheitskiosken aufzubauen, dann wird es dabei auch um Profite und die Verteilung vieler öffentlicher Fördermittel gehen. Große medizinische Unternehmen mit bestehenden Strukturen haben dabei oft wirtschaftliche Vorteile gegenüber lokalen Initiativen, können Verwaltungskosten reduzieren und das Geschäftsmodell Gesundheitskiosk viel schneller bundesweit ausbauen, als lokale Träger es je könnten.

Dennoch: Wenn der Gesundheitskiosk ein bundesweites Modell wird, dann muss schon jetzt die Frage geklärt werden, ob diese wirklich durch große Betreibergesellschaft betrieben werden sollen, wie man es heute schon aus Krankenhäusern kennt. Diese Unternehmen haben natürlich ein anderes Profitinteresse, sind ihren Shareholder verpflichtet und kennen die lokalen Verhältnisse nicht. Je größer jedoch die Profite werden, die Unternehmen mit dem Betreiben solcher Kioske machen, desto schwerer dürfte es werden, alle Krankenkassen davon zu überzeugen, ähnliche Projekte zu finanzieren. Es geht bei der Frage nach der Zukunft der Gesundheitskioske also letztlich um Finanzierung des deutschen Gesundheitssystems als Ganzem.