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30 Jahre Deutsche Einheit – ist das Glas halb leer oder halb voll?

In der Rückschau hätte man einiges während des Prozesses der Wiedervereinigung besser machen können, zu vielem gab es vermutlich keine Alternative. Für alle Deutschen haben sich die Optionen nach 1989 erweitert. Oder?

Morgen jährt sich die deutsche Einheit zum 30. Mal. Die Feiern werden wohl recht bescheiden ausfallen, was zum größten Teil an den Einschränkungen liegt, die uns die Coronakrise auferlegt. Ein anderer Grund für eine mögliche Zurückhaltung und nur geringe Ausgelassenheit liegt in der Ambivalenz, mit der viele Deutsche der Entwicklung der vergangenen 30 Jahre gegenüberstehen.

Vielfach werden nach wie vor bestehende Einkommensunterschiede sowie die unterdurchschnittliche Präsenz ostdeutscher Bürgerinnen und Bürger in gesamtdeutschen Spitzenpositionen als Belege für eine unvollendete Einheit angeführt. Gleichzeitig klagen viele Menschen im Osten, sie fühlten sich als Bürger zweiter Klasse. Ihre Lebensleistung würde unterbewertet werden. Viele ehemalige DDR-Bürger wünschen sich auf der anderen Seite eine angemessene Aufarbeitung der DDR-Geschichte. Im Westen wiederum bestehen Vorbehalte wegen der hohen Wahlerfolge der sogenannten Alternative für Deutschland (AfD) im Osten. Außerdem wird gelegentlich der Vorwurf der mangelnden Dankbarkeit erhoben und auf die vielen Milliarden verwiesen, die in den vergangenen 30 Jahren aus dem Westen in die neuen Länder geflossen sind. Aufgrund der sehr unterschiedlichen Biographien und Erfahrungen gibt es darüber hinaus oft auch emotional bedingte Verständigungsprobleme und Missverständnisse.

Gemessen an der historischen Einmaligkeit der Ereignisse, die im Herbst 1989 ihren Ausgangspunkt in den Städten der damaligen Deutschen Demokratischen Republik (DDR) nahmen, klingt manches davon etwas kleinlich und ungerecht, vor allem, wenn man sich die Fakten etwas genauer ansieht. Eine Bestandsaufnahme vor dem Mauerfall zeigt, dass in beiden deutschen Staaten die ökonomische Lage schlecht war, natürlich auf unterschiedlichen materiellen Niveaus, aber mit ähnlichen psychologischen Wirkungen auf beiden Seiten der Mauer.

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Ende der 1980er Jahre befand sich die DDR auf dem Weg in den ökonomischen Zusammenbruch; die Produktivität der Wirtschaft sank kontinuierlich, weil es keine ausreichenden Erhaltungsinvestitionen gab, von Neuinvestitionen ganz zu schweigen. Nicht zuletzt deshalb wurden die Produktivitätsunterschiede zwischen den beiden deutschen Volkswirtschaften von allen Beobachtern, auch aus der Wissenschaft, erheblich unterschätzt. Angesichts der verrottenden Altbauten, die sich im Sozialismus überdies keiner öffentlichen Unterstützung erfreuten, drohte in den folgenden Jahren Wohnungsnot. Und auch politisch hatte das Regime erheblich an Kredit verspielt, und dies nicht nur bei Dissidenten. Der Staatsrat war nicht bereit, die Reformprozesse in anderen sozialistischen Staaten in der DDR mitzugehen. Noch im Oktober 1989 zur Feier des vierzigjährigen Bestehens der DDR glaubte die engste DDR-Führung sich unangetastet.

In der Bundesrepublik war die Arbeitslosigkeit seit Mitte der 1980er Jahre konstant auf „Rekordhoch“, viele Märkte waren überreguliert, die Steuerlast für Unternehmen sehr hoch. Vom Aufbruch der sogenannten „Wendejahre“ nach 1982 war im November 1989 nicht viel übriggeblieben. Die Diskussion um den Strukturwandel wurde heftig geführt, und Interessengruppen – insbesondere in traditionellen Industrien wie Schiffbau, Stahlerzeugung oder Kohleförderung – sorgten für ausreichend öffentliche Förderung beziehungsweise Protektion gegen ausländische Konkurrenz für ihre Sektoren. Diese Unterstützung unterdrückte den Strukturwandel massiv. Der Prozess der europäischen Integration war überdies ins Stocken geraten – das Binnenmarktprogramm war gerade erst initiiert worden und sollte erst einige Jahre später seine volle Wirkung entfalten.

Vor diesem Hintergrund war die friedliche Revolution ein Aufbruch für beide Teile Deutschlands. Im Osten war die neugewonnene Freiheit zentral, der Westen profitierte vom Konjunkturprogramm „Aufschwung Ost“. Für beide Seiten boten sich auf einmal neue Möglichkeiten, die selbstverständlich auch zu Übertreibungen, zum Beispiel auf dem Markt für Gebrauchtwagen, führen mussten. Hinzu kam, dass es vermutlich nur ein recht kleines Zeitfenster für die politische Vereinigung gab, die der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl geschickt vorantrieb. Als Ergebnis stand weniger als elf Monate nach der Öffnung der Grenzen der Einigungsvertrag, der natürlich kein Vertrag unter Gleichen werden konnte. Zu unterschiedlich waren die Vorbedingungen.


Auch der Osten beheimatet nun großartige Unternehmen

Dennoch sollte das Ergebnis dieses schnellen Einigungsprozesses nicht kleingeredet werden. obwohl es nach der Begeisterung schnell zur Ernüchterung kam. Fast die gesamte DDR-Wirtschaft hatte kurze Zeit später aufgehört zu existieren. Es gab viel Ärger um die Treuhandanstalt und ihre Privatisierungsstrategien, die natürlich geprägt waren von der bereits erwähnten Überschätzung der Produktivität der DDR-Betriebe. Einen Ausverkauf oder gar eine Verschwörung kann man dieser Institution indes nicht vorwerfen. Sie hatte einfach nicht viele attraktive Betriebe zu verkaufen. Natürlich machte die Treuhand Fehler, und es gab windige Käufer, die nur am kurzfristigen Gewinn interessiert waren. Aber es gab auch viele positive Beispiele, darunter etliche Unternehmen, die von der Betriebsleitung übernommen (sogenannte Management-Buy-Outs) und erfolgreich in die Zukunft geführt wurden.

Die Arbeitslosigkeit in den neuen Ländern stieg schnell und wurde anschließend nur langsam abgebaut. Für Menschen ab 50 war es im Durchschnitt schwer, einen neuen Arbeitsplatz unter den neuen Bedingungen zu finden; Jüngere hatten es da deutlich leichter – viele von ihnen gingen zudem in den Westen. Aber auch diese Entwicklung war angesichts der geringen Wettbewerbsfähigkeit ostdeutscher Betriebe auf dem nun für nicht länger abgeschotteten Markt zunächst kaum zu verhindern. Dazu hätten die Löhne in den neuen Ländern weit unter den westdeutschen Löhnen bleiben und/oder der Umtauschkurs zwischen DDR-Mark und D-Mark ein ganz anderer sein müssen, beispielweise 5:1. Beides war weder gewollt (und fair) noch politisch durchsetzbar. Hinzu kam, dass weder die Arbeitgeberverbände noch die Gewerkschaften im Westen ein übermäßiges Interesse an konkurrenzfähigen Unternehmen im Osten hatten und deshalb auch für starke Lohnerhöhungen dort plädierten. Neben diese unvermeidbaren und interessengetriebenen Entwicklungen traten wirtschaftspolitische Fehler wie die Subventionierung von Kapitalanlagen in den neuen Ländern, die den Einsatz von nun teurer werdender Arbeit für Unternehmen noch unattraktiver machte, oder die relativ unkritische Übernahme aller bundesrepublikanischen Regulierungen auch für die neuen Länder. Hier wäre eine Übergangsphase vermutlich viel besser gewesen – dann hätte man einiges Bewährtes aus den ostdeutschen Ländern übernehmen können.

Heute sieht die Lage gerade in den neuen Ländern allerdings viel besser aus. Die Arbeitslosigkeit ist kaum höher als im bundesdeutschen Durchschnitt und niedriger als in manchen strukturschwachen Regionen im Westen. Die Infrastruktur ist weitgehend erneuert, die Städte renoviert und sehr ansehnlich. Auch der Osten beheimatet nun großartige Unternehmen, die sich auf ihren Märkten weltweit sehr erfolgreich behaupten. Natürlich ist es nachteilig, dass die Hauptquartiere großer und forschungsstarker Unternehmen nach wie vor zum überwiegenden und überproportionalen Anteil in Westdeutschland ihren Sitz haben, weswegen die gesamtwirtschaftliche Produktivität im Westen nach wie vor um die 20 Prozent höher ist als im Osten – trotz individuell genauso produktiver Arbeitskräften sind die Löhne entsprechend niedriger. Es wäre auch besser, wenn mehr gesamtdeutsche Führungskräfte eine ostdeutsche Biographie aufwiesen.

Es besteht allerdings die Hoffnung, dass Unternehmen, die in den letzten dreißig Jahren in Ostdeutschland gegründet worden sind, weiter wachsen und zur Steigerung der gesamtwirtschaftlichen Produktivität beitragen können. Auch kann man erwarten, dass die Verteilung der Führungskräfte in Unternehmen und Ministerien sich ändert, wenn die jetzige Kohorte, die zumeist ihre Ausbildung vor 1990 (und im Westen) abgeschlossen hat, in den Ruhestand geht. Dann dürfte die Herkunft (Ost oder West) keine Rolle mehr spielen; es wird dann hoffentlich nach Qualifikation ausgewählt. In dieser Hinsicht müssen sich die jungen Leute aus dem Osten nicht verstecken.

Bleibt noch die Frage nach der Wertschätzung ost- oder westdeutscher Lebensleistungen. Es steht wohl unzweifelhaft fest, dass die Einheit im Osten ihren Ursprung nahm. Für die meisten Deutschen dürfte außerdem feststehen, dass die Anpassungslasten der Einheit vor allem von Menschen aus den neuen Ländern getragen wurden – für (junge) Westdeutsche ergaben sich damals vor allem neue Möglichkeiten in einem aus ihrer Perspektive größeren Deutschland. Sich dessen bewusst zu sein, ist sicher nicht immer leicht, sollte aber mit einigem Nachdenken gelingen. Eine Generation nach dem Mauerfall sollte es auch möglich sein, die DDR-Geschichte und das Unrecht, das viele Menschen erlitten haben, gleichzeitig nüchtern und mit Hilfe von Zeitzeugen umfassend aufzuarbeiten. Der Wunsch danach ist überall in Deutschland nach wie vor dringend.

In der Rückschau hätte man einiges während des Prozesses der Wiedervereinigung besser machen können, zu vielem anderen (darunter die Währungsumstellung) gab es vermutlich keine Alternative. Man muss den Akteuren in Ost und West zugestehen, dass sie mit der neuen Situation zum Teil auch überfordert waren, denn die friedliche Revolution brach doch sehr unvermittelt über beide Teile Deutschlands herein. Der Vereinigungsprozess fand atemberaubend schnell statt. Für alle Deutschen haben sich die Optionen im Herbst 1989 erweitert – für die meisten war das eine Chance, für einige aber auch eine Bedrohung. Es wäre wichtig, sich daran zu erinnern und die Erfahrungen der anderen (wer auch immer das ist!) zu würdigen – der Tag der deutschen Einheit 30 Jahre danach bietet dazu die passende Gelegenheit. Uns verbindet mehr, als uns trennt! In diesem Sinne ist das Glas mehr als halb voll.

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