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Neurobiologe Gerald Hüther: „Krank werden viele Menschen deshalb, weil sie das, was sie krank macht, für etwas halten, das sie glücklich machen soll“

Neurobiologe Gerald Hüther.
Neurobiologe Gerald Hüther.

Wir können Organe transplantieren, gegen Viren impfen, aggressive Krebszellen daran hindern, sich zu vermehren, oder einen Herzschrittmacher setzen: Die Medizin hat beeindruckende Fortschritte gemacht. Und trotzdem sterben in Deutschland pro Jahr rund 331.000 Menschen an Herz-Kreislauf-Erkrankungen, 231.000 an Krebs und 67.000 an Krankheiten des Atmungssystems.

Dass wir krank werden, liegt laut Gerald Hüther im Kern daran, dass wir unachtsam mit uns selbst umgehen. In seinem neuen Buch „Lieblosigkeit macht krank“ stellt er die These auf, dass selbst das beste und teuerste Gesundheitssystem uns nicht heilen könne, wenn wir ständig unsere inneren Selbstheilungskräfte daran hinderten, ihre Arbeit richtig zu machen – indem wir lieblos zu uns selbst seien.

Deshalb sind es laut dem Hirnforscher auch nicht überwiegend äußere Einflüsse, die uns krank machen. „Krank werden viele Menschen deshalb, weil sie das, was sie krank macht, für etwas halten, das sie glücklich machen soll“, sagt Hüther. Als Beispiel dafür nennt der Neurobiologe eine junge Frau, die beruflich sehr engagiert sei. Eine, die Karriere machen wolle. Obwohl ihr Rücken sich schon seit ein paar Tagen bemerkbar mache, sitze sie am Abend noch tief gebeugt über ihrem Projekt – und das sei eher die Regel als eine Ausnahme. „Wenn der Rücken dann irgendwann kaputt ist, soll es der Orthopäde richten“, sagt Hüther.

Innere Signale werden überhört

Zwänge wie diese seien Auswüchse der heutigen Leistungsgesellschaft: Jeder wolle der Beste sein, Erfolg haben, den anderen gefallen. Die Folge: Liebloses Verhalten sich selbst und anderen gegenüber, so Hüther. Anstatt auf innere Signale zu hören, setzten wir uns meistens darüber hinweg, was unserem Körper guttun würde. „Das führt zu einem total ungesunden Lebensstil“, sagt der Neurobiologe.

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Nur wie passt diese These mit der Corona-Pandemie zusammen, in der wir uns gerade befinden? Immerhin kann diese Krankheit jeden treffen, egal wie gut das Immunsystem eines Einzelnen ist. Hüther verweist in seinem Buch darauf, dass auch aggressive Viruserkrankungen von den Lebensumständen der Menschen begünstigt würden. Als Beispiel nennt er die Pest. Diese sei zwar von Rattenflöhen übertragen worden, so der Hirnforscher, in Wirklichkeit aber eine Folge der extrem unhygienischen Lebensbedingungen, die damals geherrscht hätten. „Die Bewohner dieser Städte kümmerten sich einfach nicht darum, ihre Behausung von Ungeziefer freizuhalten“, sagt der Neurobiologe. „Weil ihnen etwas anderes wichtiger war.“

Leben, wie es unserer Natur entspricht

Wenn Lieblosigkeit der Ursprung allen Übels ist, wie schaffen wir es dann, besser mit uns selbst umzugehen? Ein Grundbedürfnis der Menschen ist es, das Leben frei zu gestalten. „Wir tragen die Sehnsucht nach Freiheit von Anfang an in uns“, sagt Hüther. Anstatt diese Freiheit auszuleben, versuchen wir aber so zu sein, wie andere uns haben wollen. Schafft man es, sich von diesen Zwängen weitgehend freizumachen, hat man laut dem Neurobiologen auf einmal viele Optionen, liebevoller mit sich selbst umzugehen.

Dafür müssten wir leben, wie es unserer Natur entspräche. Das heißt: Wir ernähren uns mit dem, was unsere Zellen brauchen. Wir bewegen uns an der frischen Luft, argumentiert Hüther. Die Nervenzellen in unserem Gehirn würden so auch mal Zeit für Pausen bekommen. Schlafmangel und Hektik entsprächen dagegen nicht unserer Natur. „Und zu viel Durcheinander im Hirn auch nicht“, erklärt er.

Konkret heißt das, in sich reinzuhören und zu überlegen, was einem in dem Moment wirklich guttun könnte. Etwa nicht am Schreibtisch vor dem Laptop Mittag essen, sondern draußen in der Sonne – und wenn es geht, mit Kollegen. „So kann man schrittweise weitermachen“, rät Hüther.

Äußere Umstände spielen aus seiner Sicht dabei nur bedingt eine Rolle. „Wir tun uns nichts Gutes, indem wir uns ständig darüber ärgern, was nicht geht“, sagt der Hirnforscher. Sogar ein Häftling sei trotz der offensichtlichen Begrenzungen in seinem Leben noch in der Lage, liebevoll mit sich umzugehen, solange er sich selbst noch spüre. Ähnlich verhalte es sich mit der Corona-Pandemie. Jeder könne sich überlegen, ob er sich die hundertste Talkshow über das Virus anschauen müsse – oder ob der Fernseher ausbleibe.

Wer es geschafft hat, zum eigenen Gestalter seines Lebens zu werden, kann sich laut Hüther selbst besser leiden – und somit auch liebevoller zu seinen Mitmenschen sein. „Man ist kein Bedürftiger mehr, der andere benutzen muss, um seinen Geltungsdrang oder sein Bedürfnis nach Anerkennung zu stillen“, sagt der Gehirnforscher. Und das sei eine ganz wundervolle Situation.