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Die schwierige Rettungsmission des Mario Draghi

Auch die Fünf-Sterne-Bewegung unterstützt den Ex-Notenbanker als neuen Premier. Nun soll Draghi Italien retten – ein Land, das seit der Euro-Krise als Sollbruchstelle der Währungsunion gilt.

Die Italiener hoffen auf eine stabile Regierung und das Ende der Krise. Foto: dpa
Die Italiener hoffen auf eine stabile Regierung und das Ende der Krise. Foto: dpa

Der Mann, der bald das öffentlichste aller öffentlichen Ämter ausfüllen soll, ist kaum sichtbar. Seit mehr als einer Woche ist Mario Draghi abgetaucht, tritt nicht auf, erklärt sich nicht.

Während all die Parteien und Sozialpartner nach ihren Treffen mit dem designierten Premier munter Statements in die Kameras posaunen, zieht sich der ehemalige Präsident der Europäischen Zentralbank zurück. Er ist ein Kontrapunkt zu Roms normalem Politzirkus. Draghi drängt nicht in die Schlagzeilen, er macht sie im Hintergrund.

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Dass der 73-Jährige spätestens am Wochenende eine neue Regierung bilden wird, gilt als sicher. Die bisher größte Regierungspartei, die Bewegung Fünf Sterne, befragte am Donnerstag ihre Basis über den Eintritt in Draghis Koalition: eine knappe Mehrheit stimmte dafür. Selbst ohne die Fünf Sterne würde Draghi auf eine ausreichende Mehrheit im Parlament kommen – hat er doch die Unterstützung zweier großer Oppositionsparteien.

Die Erwartungen an den Schweigenden könnten größer nicht sein. „Super-Mario“ soll Italien retten – allein das birgt eine gewisse Ironie. Ausgerechnet jener Mann, der in den Jahren bei der EZB nichts unversucht ließ, den Euro zu retten – „whatever it takes“.

Jener Mann, dessen Fantasie, neue Instrumente zu entwickeln, keine Grenzen kannte – sei es der massive Ankauf von Staatsanleihen (QE), der die enorme Schuldenlast Südeuropas tragbar machte, sei es die Nullzinspolitik, die Sparer und Gläubiger be- und die Schuldner entlastete, sei es der Strafzins für Banken, der Institute in Kreditengagements drängte.

All diese unkonventionellen Aktionen Draghis dienten auch immer dem Ziel, sein Heimatland zu stützen. Denn eines wusste nicht nur der Notenbanker, sondern auch Angela Merkel: „Scheitert Italien, scheitert auch Europa.“

1. Ökonomische Ausgangslage

Jetzt kann oder muss Draghi von Rom aus sein Werk fortsetzen. Die Lage der drittgrößten Volkswirtschaft der EU ist seit dem Höhepunkt der Euro-Krise im Jahr 2012 nicht besser geworden. Im Gegenteil: Sie ist prekär. Die Pandemie, die in Italien besonders grassiert, hat die Wirtschaftskrise dramatisch verschärft. Das Coronavirus hat nicht nur 92.000 Menschenleben gekostet – ein trauriger EU-Rekord. Der konsequente Lockdown hat die Wirtschaft im vergangenen Jahr auch um 8,8 Prozent einbrechen lassen – auch da liegt Italien im europäischen Spitzenfeld.

Das EU-Gründungsmitglied ist wie ein Konzentrat dessen, was die ökonomische Schwäche südeuropäischer Länder ausmacht: nachhaltige Wachstumsschwäche, hoffnungslose Überschuldung, instabile Banken. Die ökonomischen Daten lesen sich wie eine Chronik des Scheiterns. Auf 2,7 Billionen Euro summiert sich mittlerweile die italienische Staatsverschuldung.

Im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung liegt der Wert jetzt bei rund 160 Prozent. Nur Griechenland weist in Europa einen höheren Wert auf. Doch während Athen für 2,8 Prozent der Gesamtverschuldung der EU-Staaten steht, liegt der Wert für Italien bei 21 Prozent.

Das sind ganz andere Dimensionen – und der Grund dafür, dass das Italien- ein Europa-Problem ist. „Die Euro-Einführung hat die Zinsen auf italienische Staatsschulden erheblich reduziert“, sagt Ifo-Chef Clemens Fuest. Aber Italien habe die Chance nicht genutzt. Die Wachstumsschwäche und das Schuldenproblem sind die größten Probleme, die Draghi jetzt anpacken muss. Nur wie?

Wie verzweifelt die Lage in Rom und Brüssel inzwischen ist, zeigt auch die vom französischen Ökonomen Thomas Piketty angestoßene Debatte um eine Streichung der Schulden der italienischen Staatsanleihen, die die EZB in den Büchern hält – Papiere im Wert von 415 Milliarden Euro. Dass ein solcher Schuldenschnitt strikt gegen die EU-Verträge verstößt, die eine Staatsfinanzierung durch die EZB ausschließen, sei es drum.

2. Breiter politischer Rückhalt für Draghi

Er strahlt übers ganze Gesicht, als er aus seinem Privatjet steigt. Mit einem Konvoi von sechs Autos wird Silvio Berlusconi zum Parlament kutschiert, die Kameras kleben an ihm, fast wie in alten Zeiten. Nach mehr als einem Jahr ist der ehemalige Premier zurück in Rom. Der 84-Jährige beschreibt Draghi als „höflich, unbeschwert, respektvoll“.

Berlusconis Forza Italia (FI) war die erste Oppositionspartei, die Draghi die volle Unterstützung zusicherte. „Er hat den Euro gerettet, er wird auch Italien retten“, glaubt Berlusconi. Auch die rechte Lega, die in Umfragen stärkste Partei Italiens, stellt sich bedingungslos hinter Draghi. Oppositionsführer Matteo Salvini, als Ex-Innenminister für harte Töne gegenüber Brüssel bekannt, hat mit seinem Schwenk hin zum EU-Fan Draghi selbst die eigene Partei überrascht.

Die gesamte alte Mitte-links-Koalition unterstützt Draghi. Skepsis gab es bis zuletzt bei der bisher größten Regierungspartei: Die Fünf Sterne wollten ursprünglich nicht noch einmal mit der Lega in ein Kabinett – die erste Links-rechts-Regierung ließ Salvini 2019 platzen. In ihrem Referendum vom Donnerstagabend sprach sich die Bewegung dann aber doch für die Unterstützung aus. Draghi kommt damit auf eine Mehrheit von mehr als 75 Prozent im Parlament. Stellt er am Wochenende sein Ministerteam auf, könnte sich Draghi Anfang kommender Woche von den Abgeordneten und Senatoren wählen lassen.

Schafft er es wider Erwarten doch nicht, blieben Staatspräsident Sergio Mattarella nur noch Neuwahlen – die aber niemand wirklich will. „Neuwahlen sind das schlechteste Szenario für die Finanzmärkte“, betont der Ökonom Lorenzo Codogno. Sie würden die Unsicherheit erhöhen – „und die Chancen auf eine euroskeptische Populistenregierung“.

Nur, wozu wird Draghi seine Macht, die sich auf einen breiten Rückhalt stützt, verwenden? Wie kann das Land die Wirtschaftskrise, die bereits mehr als eine Dekade andauert, überwinden?

Die Voraussetzung hierfür ist zunächst eine tiefe Analyse, was über all die Jahre schiefgelaufen ist. Wer Italien verstehen will, sollte mit Thomas Mayer reden. Mayer war Chefvolkswirt bei der Deutschen Bank, gründete dann das Research-Institut beim Kölner Vermögensverwalter Flossbach von Storch. Seit Jahrzehnten beschäftigt er sich mit dem Land – vielleicht auch, weil der Direktor der Europaabteilung während seiner Zeit beim IWF Massimo Russo hieß, ein Italiener.

Jetzt hat der Ökonom ein Buch zum Thema mitherausgegeben: „Der Wert des Geldes. Die unterschiedlichen ökonomischen Kulturen in Europa: Italien und Deutschland“ – ein in Englisch erschienener Sammelband mit Beiträgen ehemaliger Finanzminister und mehrerer Zentralbanker.

„Aus meiner Sicht ist das grundlegende Problem, dass Italien es nicht geschafft hat, sich an die von einer europäischen Einheitswährung ausgehenden Zwänge anzupassen“, so Mayer. Man hatte sich erhofft, dass der Druck der harten Währung die lang anhaltenden Verkrustungen der korporatistisch strukturierten Wirtschaft aufbrechen und die von eher kleinen Unternehmen dominierte Wirtschaft durch die Herausbildung größerer, international wettbewerbsfähiger Unternehmen modernisieren würde. „Das ist schiefgegangen“, sagt Mayer. „Die Beharrungskräfte der italienischen Wirtschaft und Gesellschaft widerstanden dem Druck des Euros.“

Das Ergebnis: „Der Zusammenprall dieser Kräfte brachte Kollateralschäden in Form einer außer Kontrolle geratenen Staatsverschuldung und einer Stagnation der Wirtschaft.“ Tatsächlich liegt die italienische Industrieproduktion 19 Prozent unter dem Wert vor der Euro-Einführung – ein wirtschaftspolitischer Offenbarungseid.

Natürlich könne bei einem Nullzins und garantierter Nachfrage durch die EZB der italienische Staat so viele Anleihen emittieren, wie er will, sagt Mayer. „In den Zeiten der Pandemie scheint es, dass Milton Friedmans Diktum ‚there is no free lunch‘ widerlegt wäre. Es scheint sogar ein ‚free lunch‘ mit Freibier zu geben“, so Meyer. Nur: Er glaube nicht daran, dass das langfristig funktioniere. Denn es untergrabe das Vertrauen in die Währungsunion, langsam, aber sicher.

Es wird Draghi also nichts anderes bleiben, die akuten und auch pandemiebedingen Wirtschaftsprobleme zu lösen. Noch kurz vor ihrem Aus hat die alte Regierung einen Nachtragshaushalt verabschiedet: Italien nimmt darin noch einmal 32 Milliarden Euro mehr Schulden auf. Ein Großteil davon soll an besonders von der Pandemie betroffene Unternehmen gehen. Wie genau die Hilfen aussehen, wird eine der ersten Entscheidungen von Draghis neuer Regierung sein.

Zweitens geht es darum, die Wachstumsschwäche zu überwinden. Perspektiven sieht Draghi vor allem auf dem Arbeitsmarkt. Doch genau dort drohen auch Risiken: Ende März laufen Kurzarbeit und Kündigungsschutz aus. Für zwölf Millionen Arbeitnehmer und Selbstständige wurde 2020 die Arbeitszeit reduziert oder ganz ausgesetzt.

Die Gewerkschaften hoffen nun auf eine Verlängerung. „Mit dem Kündigungsstopp hat man das Problem nur verlagert“, sagt die Ökonomin Veronica De Romanis. Trotz Kündigungsstopps sind in der Pandemie knapp 450.000 Arbeitsplätze weggefallen. Vor allem Frauen und junge Menschen hat es getroffen. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in Italien 30 Prozent.

3. EU-Mittel als „Jahrhundertchance“

Helfen bei der Erholung werden sicher die 220 Milliarden Euro aus dem EU-Wiederaufbaufonds, die Italien bekommt. „Italien steht vor einem Berg an Aufgaben, insbesondere beim Zukunftsprojekt Wiederaufbaufonds“, sagt Jörg Buck, Geschäftsführer der deutsch-italienischen Handelskammer in Mailand. „Eine Expertenregierung, wie Draghi sie anstrebt, könnte diesen Plan schneller umsetzen, weil sie politisch unabhängig wäre und eine größere Durchschlagskraft erzeugen könnte.“

Entscheidend wird sein, wie Draghi die Mittel verwendet. An dem Streit über diese Frage war die Regierung Conte zerbrochen. Ex-Premier Matteo Renzi wollte mehr der Gelder in Investitionen stecken – und weniger alte Projekte gegenfinanzieren.
Für Ökonom Codogno ist der Aufbaufonds ein „Make-it-or-brake-it-Moment“, jetzt oder nie. Viele Investitionen hängen am EU-Wiederaufbaufonds – und jede mögliche bessere Performance der Ökonomie „hängt entscheidend vom Zeitpunkt und der Größe der öffentlichen Investitionen Italiens ab“.

Die bisherigen Entwürfe von „Next Generation Italia“, wie Roms Wiederaufbauplan heißt, wurden von vielen Institutionen als zu oberflächlich kritisiert, allen voran von Confindustria, dem mächtigen Industrieverband. „Es ist eine einmalige und historische Chance für unser Land“, sagt Präsident Carlo Bonomi. Aber es fehle dem Plan an Reflexion über Themen, die „einen großen Einfluss auf die Firmen haben“.

So soll etwa die digitale Transformation der öffentlichen Verwaltung beschleunigt werden. Italien hinkt hier weit hinterher, auch wenn es Vorzeigeprojekte gibt: etwa die digitale Identität Spid, die schon ein Viertel der Italiener benutzt. Es gibt mit „IO“ auch eine App, mit der man sich digital durch die öffentliche Verwaltung bewegen soll. In vielen Kommunen gibt es dafür aber kaum oder keine Angebote.

Das Justizsystem braucht ebenfalls dringend mehr Investitionen. Prozesse dauern zu lange, verjähren einfach. Gerade Unternehmen, die im Land investieren wollen, brauchen aber Rechtssicherheit und Verlässlichkeit. Die EU fordert schon seit Längerem, dass Rom hier ansetzt.

Anfang dieser Woche zerlegte auch die Banca d’Italia noch einmal den Plan – und empfahl, ihn umzuschreiben. Mit dem Wiederaufbaufonds sei es möglich, „signifikante Produktivitätsgewinne zu erzielen“, erklärt Chefökonom Fabrizio Balassone. Aber dafür brauche es höchste Aufmerksamkeit für die „Qualität der damit verbundenen Maßnahmen und Reformen“. Der vorliegende Plan sei dahingehend noch nicht ausreichend.

Draghi muss sich beeilen, will er Teile des Plans neu schreiben lassen – denn dann müsste er noch einmal durchs Parlament. Eigentlich wollte die EU-Kommission den finalen Plan schon Ende April absegnen.

4. Starker Norden – ein Hoffnungswert

Die große Hoffnung des Krisenlandes ist und bleibt der Norden, das ökonomische Herz des Landes. In Mailand sitzen Unicredit und die Modeindustrie, in Turin der Fiat-Konzern, der sich mittlerweile Stellantis nennt. In der Lombardei, dem Piemont und Venetien liegt die Produktivität höher als im EU-Mittel. Die Regionen können es ohne Probleme mit deutschen Powerländern wie Bayern und Baden-Württemberg aufnehmen.

Natürlich sitzt hier die Textilindustrie, die 2020 besonders gelitten hat – und um 28 Prozent eingebrochen ist. Aber daneben tummeln sich viele Hidden Champions, etwa Weltmarktführer im Maschinenbau und der Gummiverarbeitung. Viele Zulieferer sind hier angesiedelt, die enorm wichtig für die deutsche Industrie sind, etwa im Automobilsektor.

Im „Motor Valley“, einem Cluster der Automobilbranche in der Emilia-Romagna, wo sich rund um Ferrari und und Lamborghini auch viele Zulieferer tummeln, investiert ein Joint Venture aus dem chinesischen Konzern FAW und der US-Firma Silk EV eine Milliarde Euro in Elektromobilität und ein neues Forschungszentrum. Amazon will 230 Millionen Euro in zwei neue Logistikzentren im Norden stecken. 14 der 42 Firmen, die die europäische Batterie-Allianz formen, stammen aus Italien.

Auch Innovatoren sitzen im Norden: Prysmian aus Mailand hat bei seinen Glasfaserkabeln einen neuen Geschwindigkeitsrekord gebrochen – mit mehr als einem Petabit pro Sekunde. Zu den Tech-Hoffnungen zählen auch der Softwarehersteller Facility Live und der Bezahldienstleister Nexi.

Wäre Italien also so wie sein Norden – man müsste sich keine Sorgen um das Land machen. Doch zu Italien gehört der viel größere Süden, der in Stagnation und Perspektivlosigkeit verharrt. Und: Das Gesamtprodukt ist und bleibt systemrelevant für Europa. Zu groß, als dass Europa es sich leisten könnte, das Land fallen zu lassen. Zu groß aber auch, als dass es gerettet werden könnte. Das ist das europäische Dilemma.

Der US-Ökonom und bekennende Europafan Joseph Stiglitz hat schon vor Jahren prognostiziert: „Italien und der Euro, das funktioniert nicht.“ Ob er am Ende recht behält? Jetzt ist es an Draghi, das Gegenteil zu beweisen.