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ROUNDUP 3: 'Immense Erleichterung' - Bundestag muss Triage regeln

(mehr Stimmen, andere Aufmachung)

KARLSRUHE (dpa-AFX) - Beim hochsensiblen Thema Triage in der Corona-Pandemie hat das Bundesverfassungsgericht die Politik in die Pflicht genommen. "Unverzüglich" müsse der Bundestag Vorkehrungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen treffen für den Fall, dass in Krankenhäusern nicht mehr jedem geholfen werden kann. Wie das konkret aussehen soll, überlassen die Karlsruher Richter und Richterinnen dem Gesetzgeber und räumen ihm Spielräume ein. (Az. 1 BvR 1541/20)

Auch wenn am Dienstag nach der Verkündung Politiker jeglicher Couleur schnelles Handeln versichern, dürfte Deutschland eine emotional fordernde Debatte bevorstehen. Letztlich geht es um die Frage, um wessen Leben gekämpft wird und wer nicht an ein Beatmungsgerät kann. Eugen Brysch von der Deutschen Stiftung Patientenschutz bringt es auf den Punkt: "Es geht um die Verteilung von Lebenschancen."

Schon bislang hatte unter anderem die Deutsche Interdisziplinäre Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (Divi) betont, dass mit ihren Empfehlungen zur Triage Menschen mit Behinderung nicht schlechter gestellt würden. Neun Betroffene sahen aber durchaus die Gefahr, weil auch die Gebrechlichkeit des Patienten und zusätzlich bestehende Krankheiten relevante Aspekte sind. Sie befürchten, aufgrund ihrer statistisch schlechteren Überlebenschancen immer das Nachsehen zu haben - und zogen vor das Verfassungsgericht.

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Dieses gab ihnen Recht und definierte Behinderung gemäß Grundgesetz als "längerfristige Einschränkungen von Gewicht", geschützt seien beispielsweise auch chronisch Kranke. Es müsse sichergestellt sein, "dass allein nach der aktuellen und kurzfristigen Überlebenswahrscheinlichkeit entschieden wird".

Nach Einschätzung von Experten bestehe das Risiko, in einer Situation knapper medizinischer Ressourcen wegen einer Behinderung benachteiligt zu werden, teilte das Gericht mit. Auch eine unbewusste Stereotypisierung könne dabei eine Rolle spielen. Solche Vorurteile erlebten Betroffene regelmäßig, machte eine der Klägerinnen, Nancy Poser, deutlich. "Ich hoffe, dass das jetzt ein Ende hat."

Die 42-jährige Amtsrichterin aus Trier bezeichnete die Entscheidung als "immense Erleichterung" und betonte die Deutlichkeit: "Der Gesetzgeber muss uns schützen, und das hat er nicht getan." Es gehe ihr und den acht weiteren Klägerinnen und Klägern nicht darum, dass sie - wie alle anderen - "Opfer der Triage" werden könnten - aber eben nicht wegen ihrer Behinderung. Wichtig sei nun, dass die Betroffenen und ihre Verbände in die Diskussion eingebunden würden.

Sozialverbände, Kirchen, Behindertenbeauftragte begrüßten den Beschluss vom 16. Dezember gleichermaßen. Viele sehen darin ein wichtiges Signal, das weit über die Corona-Pandemie hinausreicht. Ausdrücklich verweist der Erste Senat auf völkerrechtliche Verpflichtungen wie die UN-Behindertenrechtskonvention.

"Jetzt kann sich der Bundestag nicht mehr drücken", sagte Patientenschützer Brysch. Bislang habe er Entscheidungen zur Priorisierung im Gesundheitssystem delegiert, etwa an Fachverbände. Zugleich räumte der Stiftungsvorstand ein, die nun zu treffenden Entscheidungen seien für die Abgeordneten sicher keine einfachen.

Das Bundesverfassungsgericht leitet aus dem Grundgesetz eine Pflicht für den Gesetzgeber ab, Leben zu schützen. Diese habe er verletzt, weil er keine Vorkehrungen getroffen habe. Er könne selbst Vorgaben etwa zu Kriterien von Verteilungsentscheidungen machen, für ein Mehraugen-Prinzip bei Auswahlentscheidungen, Regelungen zur Unterstützung vor Ort und spezifische Vorgaben für die Aus- und Weiterbildung in Medizin und Pflege, insbesondere des intensivmedizinischen Personals, um Benachteiligungen wegen Behinderung in einer Triage-Situation zu vermeiden.

Dass allein durch eine bestimmte Maßnahme dem Schutzgebot Genüge getan werden könnte, glauben die Richter auf Grundlage des Verfahrens nicht. Sie hatten zahlreiche Experten wie Behindertenverbände, den Ethikrat, die Bundesärztekammer und die Divi zurate gezogen.

Die Divi hat mit anderen Fachgesellschaften "Klinisch-ethische Empfehlungen" zur Triage erarbeitet. Diese reichen dem Gericht nicht. Es sieht gar die Gefahr, "dass die Empfehlungen in ihrer derzeitigen Fassung zu einem Einfallstor für eine Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen werden können". Sie seien auch rechtlich nicht verbindlich. Die Divi begrüßte, dass der Bundestag nun Stellung beziehen müsse - auch um den Ärzten Rechtssicherheit zu geben.

Das Wort Triage stammt vom französischen Verb "trier", das "sortieren" oder "aussuchen" bedeutet. Es beschreibt eine Situation, in der Ärzte entscheiden müssen, wen sie retten und wen nicht - zum Beispiel, weil so viele schwerstkranke Corona-Patienten in die Krankenhäuser kommen, dass es nicht genug Intensivbetten gibt.

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) kündigte via Twitter an, die Bundesregierung werde zügig einen Gesetzentwurf vorlegen. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) twitterte: "Menschen mit Behinderung bedürfen mehr als alle anderen des Schutzes durch den Staat. Erst Recht im Falle einer Triage. Jetzt aber heißt es, Triage durch wirksame Schutzmaßnahmen und Impfungen zu verhindern."

Wie schnell sich die Politik nun mit dem Thema befassen wird, bleibt abzuwarten. Spätestens ab dem 2. Januar sollten Termine angesetzt werden, sagte der Prozessbevollmächtigte der Kläger, Rechtsanwalt Oliver Tolmein. Die Ampelkoalition habe das Potenzial, hier schnell etwas zu bewegen. "Wenn man will, das haben wir in der Pandemie gelernt, dann hat man Möglichkeiten, etwas zu machen." Brysch sagte, die nun nötige Diskussion brauche etwas Zeit. "Das ist ein äußerst komplexes Thema." Er erwarte aber binnen eines Jahres Ergebnisse. "Wir wissen ja nicht, wie die Lage im nächsten Herbst ist."