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Aufstand der Investoren: Das Kapital wagt die Revolte

Von Bayer bis Deutsche Bank: Aktionärstreffen werden immer öfter zum Tribunal für das Management. Dahinter stecken unbekannte, aber mächtige Berater – und Fondsgesellschaften.
  • Bayer-Aktionäre haben gegen das Management gestimmt. Auf der Hauptversammlung der Deutschen Bank droht ein ähnliches Debakel.

  • Infografik: Neue Börsenlandschaft – Der Anteil ausländischer Investoren an den 30 Dax-Werten

  • Stimmrechtsberater: Die Einflüsterer aus Amerika – Der Einfluss von ISS und Glass Lewis wächst, zum Unmut vieler Manager

  • Interview: „Leises Vorgehen ist am effektivsten“ – Goldman-Sachs-Banker Steven Barg sieht sich als Mittler zwischen Management und kritischen Investoren

Es ist 22.20 Uhr. Mehr als zwölf Stunden dauert die Hauptversammlung der Bayer AG nun schon. Jetzt, kurz vor Mitternacht, kommt es im Saal „New York“ des Bonner World Conference Center zum Höhepunkt des Tages. Werner Wenning ergreift das Wort, seine Stimme ist ruhig und gefasst.

Doch dem Aufsichtsratsvorsitzenden steht die Anspannung ins Gesicht geschrieben – und die Enttäuschung. Vor wenigen Sekunden hat ihm ein Mitarbeiter das Abstimmungsergebnis auf den Tisch gelegt: Die Aktionäre entlasten den Vorstand nicht. Als der hochgewachsene Manager das Ergebnis verkündet, kommt lauter Applaus auf. „Bravo!“, ruft ein Aktionär laut in den Saal.

Die rund 3600 Bayer-Aktionäre schrieben vor wenigen Wochen Geschichte. Zum ersten Mal wurde dem amtierenden Vorstandsvorsitzenden eines Dax-Konzerns von der Hauptversammlung öffentlich das Vertrauen entzogen. Nur 45 Prozent der Aktionäre stimmten für Bayer-Chef Werner Baumann und sein Führungsteam. Mit dem Misstrauensvotum machten die Aktionäre ihrem Ärger Luft. Dem Ärger über den massiven Kursverlust nach der Übernahme des US-Konzerns Monsanto: Fast 40 Prozent an Wert hat Bayer binnen eines Jahres eingebüßt.

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Die Fassung verloren Wenning und Baumann an diesem denkwürdigen Abend zu keinem Augenblick. Das kann auch daran liegen, dass sie die Niederlage nicht komplett überraschte.

Der Grund: Bereits Mitte März landete ein Schreiben mit unangenehmem Inhalt auf dem Tisch des Bayer-Chefs: Der mächtige Stimmrechtsberater Institutional Shareholder Services (ISS) kündigte darin an, allen Bayer-Aktionären die Nichtentlastung des Vorstands auf der Hauptversammlung zu empfehlen. Wenige Tage später folgte der ISS-Konkurrent Glass Lewis mit der gleichen Empfehlung.

Die Begründungen ähnelten sich: Die Folgen der Monsanto-Übernahme seien nicht absehbar, vor allem wegen der Prozesse in den USA über die Gesundheitsgefahren des Unkrautvernichters Glyphosat. Gut sechs Wochen vor der Hauptversammlung war Baumann bereits klar: Das Aktionärstreffen wird mehr als nur ungemütlich.

Und Bayer ist nur ein Beispiel. Auch bei anderen hiesigen Konzernen wie der Deutschen Bank, Daimler, Uniper oder Wirecard drohen den Führungskräften 2019 auf den Jahrestreffen ihrer Aktionäre nicht nur kritische Wortmeldungen, sondern auch Gegenstimmen in relevanter Anzahl.

Ein oft über Jahre aufgestauter Frust der Aktionäre scheint sich in diesen Wochen Bahn zu brechen. Frust über fallende Aktienkurse, zu niedrige Gewinne, Betrugsskandale oder ganz generell über eine wenig transparente Unternehmensführung. Wurden 2016 nur 0,9 Prozent der Vorstände von den Dax-Werten nicht entlastet, waren es 2018 mit 3,6 Prozent deutlich mehr.

Die Rädelsführer dieses Aufstands tragen nichtssagende Namen wie ISS, Glass Lewis und Ivox. Sie arbeiten in unscheinbaren Büros in Berlin, Karlsruhe oder dem irischen Limerick, oft nur mit einer Handvoll Mitarbeitern. Auf den Hauptversammlungen selbst treten sie nicht auf. Und doch ist der Einfluss dieser Stimmrechtsberater in den vergangenen Jahren aus verschiedenen Gründen stark gestiegen. Passiv gemanagte Fonds und Zertifikate etwa erfreuen sich aufgrund ihrer niedrigen Gebühren und ihrer guten Performance großer Beliebtheit. Und diese Fonds vertrauen besonders oft den Stimmrechtsberatern.

Zusätzlich nehmen die Fondsgesellschaften immer stärker selbst das Heft in die Hand. So bildet der Branchenriese Blackrock sogenannte „Investment Stewardship Teams“, die sich mit einzelnen Unternehmen beschäftigten. Auch aktiv gemanagte klassische Investmentfonds greifen öfter als früher ins Management ein. Sie folgen dem Beispiel aktivistischer Investoren wie Elliott, TCI und Cevian, treten nur nicht ganz so forsch und rabiat wie diese auf.

Der Grund für den Richtungswechsel: Klassische Investmentfonds stehen unter Erfolgsdruck, sie müssen sich „mit höheren Renditen von den immer beliebteren und kostengünstigen passiven Indexfonds abheben“, sagt Steven Barg, Chef bei Goldman Sachs für die weltweite Aktionärsberatung (siehe Interview).

Damit kommt ein Trend nach Europa, der aus den USA stammt: Aktive Investoren fechten sogenannte „Proxy Battles“ mit dem Management aus. Ende April musste sich beispielsweise Boeing-Chef Dennis Muilenburg auf der Hauptversammlung kritische Fragen zum Absturz der 737 Max gefallen lassen. Ein Drittel der Aktionäre stimmte für den Vorschlag, Muilenburg den Titel als Chairman zu entziehen. Drastisch fiel auch das Votum gegen Axel Weber aus. Vor wenigen Wochen stimmten die Aktionäre auf der Hauptversammlung der Schweizer Großbank UBS gegen die Entlastung der gesamten Führungsmannschaft rund um den Verwaltungsratspräsidenten Weber.

Die gemütlichen Zeiten, in denen Vorstände und Aufsichtsräte ihre Kleinaktionäre auf der Hauptversammlung mit Würstchen und Kartoffelsalat abspeisten und die Investoren alle Anträge mit sozialistischen Mehrheiten absegneten – sie sind vorbei. Konkrete rechtliche ‧Folgen haben Abstimmungsniederlagen wie bei Bayer zwar nicht, aber der Imageschaden ist enorm: Kein Vorstand oder Aufsichtsrat kann es sich dauerhaft leisten, gegen den Willen und ohne das Vertrauen der Aktionäre zu agieren.

Doch wer verbirgt sich hinter den anonymen Stimmrechtsberatern, die diesen Frühlingsaufstand der Aktionäre steuern – und die ob ihrer enormen Macht mittlerweile selbst in der Kritik stehen? Wie arbeiten sie? Und welche Rolle spielen aktive Großinvestoren wie Blackrock?

Achleitner vor dem Showdown

Wie eine Revolutionärin sieht Anke Zschorn nicht aus. In einem verwinkelten Büro im Erdgeschoss eines Altbau-Hinterhauses in Karlsruhe stapeln sich die Papiere der Mittvierzigerin. Als Researchchefin des Stimmrechtsberaters Ivox wühlt sie sich mit 15 Mitstreitern durch Geschäftsberichte und Tagesordnungen für Hauptversammlungen. Wenn sie mal rauskommt aus dem Hinterhaus, dann geht sie zu Analystenkonferenzen oder Treffen mit Firmenlenkern. Zu Hauptversammlungen geht sie fast nie – wenn, dann „nur mal aus Neugier“.

Stimmrechtsberater sind seit ihrer Gründung in den 80er-Jahren weltweit eine Macht geworden. So hat ISS heute mindestens 1900 Kunden weltweit. Ivox ist die deutsche Tochter des US-Stimmrechtsberaters Glass Lewis, der zusammen mit ISS den Markt beherrscht. Ivox wurde vor einigen Jahren von Glass Lewis übernommen – gibt aber weiter eigenständig Empfehlungen heraus.

Zschorn arbeitet seit rund elf Jahren bei Ivox. Kommt der Frühling, herrscht bei ihr der Ausnahmezustand. Vor und während der Hauptversammlungssaison arbeitet sie auch an den Wochenenden. Als Luxus gönnt sie sich, den 30-minütigen Weg zur Arbeit mit dem Rad zu fahren und „den Geist zu erfrischen“.

Sonst gibt es nur Arbeit, Arbeit, Arbeit. In ihrem Büro entstehen Reports im Stunden- bis Wochenrhythmus. Rund 600 Unternehmen beobachten Zschorn und ihre Kollegen. Als Grundlage dienen ihnen der deutsche Corporate Governance Kodex und die Richtlinien des Verbands der Fondsindustrie BVI für gute Unternehmensführung, dazu kommen noch eigens entwickelte Kriterien der Investoren. „Überhaupt nicht verstehen“ kann die energische 1,60-Meter-Frau, dass sie und andere Stimmrechtsberater als einflussreich und mächtig dargestellt werden.

Dieses Understatement mag vielen wie Hohn erscheinen. Beispielsweise bei der Deutschen Bank. Dort findet am kommenden Donnerstag die Hauptversammlung statt. Das Event könnte zum Debakel werden. Deutschlands größtes Geldhaus hat zwar schon so manches turbulente Aktionärstreffen hinter sich gebracht, aber so schlecht wie in diesem Jahr war die Ausgangslage noch nie.

Mit Glass Lewis und ISS empfehlen wie bei Bayer auch hier beide großen Stimmrechtsberater ihren Kunden, Aufsichtsrat und Vorstand nicht zu entlasten – ein Novum. Ivox rät hingegen lediglich, die Entlastung kritisch zu hinterfragen, und empfiehlt die Einzelentlastung der Führungsriege. Besonders unangenehm könnte es für Paul Achleitner werden, den nicht unumstrittenen Chefaufseher.

Auch die Konzerne selbst rüsten mittlerweile auf und bereiten sich immer akribischer auf die Hauptversammlungen vor, um kritischen Aktionären möglichst wenig Angriffspunkte zu bieten. Die Vorbereitungen für das Aktionärstreffen der Deutschen Bank laufen seit Monaten.

Die bis ins letzte Detail geplante Selbstinszenierung lässt sich die Bank Millionen kosten. Das fängt schon bei der Auswahl des Veranstaltungsorts an. Traditionell mietet das Geldhaus die Frankfurter Festhalle an, Baujahr 1907. In der kreisrunden Gründerzeit-Arena kreischen sonst Tausende Fans Popgrößen wie DJ Bobo oder Bryan Adams zu.

Jubelstürme können Vorstandschef Christian Sewing und sein Chefkontrolleur Achleitner kaum erwarten. Die geplante Fusion mit der Commerzbank hielten zwar die meisten Großaktionäre für einen Irrweg und waren froh, als das Vorhaben platzte. Trotzdem wollen sie endlich einen Aufbruch sehen. Der Aktienkurs dümpelt in der Nähe des Allzeittiefs vor sich hin, an der Börse wird die Bank nur noch mit 23 Prozent ihres Bilanzvermögens bewertet, ein klares Misstrauensvotum der Anleger.

Spätestens seit 8. Mai wissen Sewing und Achleitner: Der ganze Aufwand für die Hauptversammlung könnte womöglich wenig nutzen. An diesem Tag legte ISS seine Empfehlung vor, Vorstand und Aufsichtsrat nicht zu entlasten. In den vergangenen Jahren hatte ISS die Führungsmannschaft des Geldhauses zwar scharf kritisiert, ging aber anders als Glass Lewis noch nie so weit, die Entlastungsverweigerung zu empfehlen.

Ein Deutsche-Bank-Manager spricht von einer „herben Enttäuschung“. Das dürfte noch untertrieben sein. Denn Experten schätzen, dass allein ISS etwa 30 Prozent der Aktionäre hinter sich versammelt.

Ein Auszug aus dem Bericht zeigt, wie sehr die ISS-Analysten mittlerweile genervt sind: „Auch wenn die Deutsche Bank wieder einmal behauptet, dass ihre Geldwäsche- und Kundenkontrollen besser werden, auch wenn die Deutsche Bank wieder einmal behauptet, dass sich ihre finanzielle Situation langsam verbessern wird, und auch wenn die Deutsche Bank wieder einmal äußere Kräfte und das Umfeld, in dem sie arbeitet, als Grund für ihre Erfolglosigkeit anführt, glauben wir, dass es Zeit für die Aktionäre ist, die Gremien für die vielen Jahre substanzieller Geld- und Rufschäden zur Verantwortung zu ziehen.“

Das ISS-Team, das sowohl Bayer als auch die Deutsche Bank beobachtet, sitzt in Berlin. Die sechsköpfige Gruppe um Thomas von Oehsen schaut sich etwa fünf bis zehn Prozent der betreuten Firmen besonders genau an. In der Regel sind es Konzerne, bei denen es Probleme oder Konflikte gibt. ISS nutzt für seine Analysen nach eigenen Angaben öffentlich zugängliche Informationen. Die Berichte gehen dann durch mehrere Abstimmungsprozesse.

Der Report über die Deutsche Bank, der durch seine besonders scharfe Wortwahl auffiel, ging von dem Team aus Deutschland zum Leiter des Bereichs EMEA – also Europa, Mittlerer Osten und Afrika – und schließlich zum Chef des Researchbereichs. Große Unternehmen wie die Deutsche Bank bekommen den Report vor der Veröffentlichung zugeschickt, um ISS auf mögliche Faktenfehler hinweisen zu können. Sie haben zwei Geschäftstage Zeit, den Bericht zu überprüfen und Stellung zu beziehen. In der Sache können sie die Analyse jedoch nicht beeinflussen.

Votieren die Berater gegen eine Entlastung, bemühen sich die Topmanager um Schadensbegrenzung. So wie die Deutsche Bank, die in den Tagen und Wochen vor der Hauptversammlung ihre wichtigsten Aktionäre davon zu überzeugen versucht, dass Glass Lewis und ISS falsch liegen.

Es gebe große Fortschritte bei der Verbesserung der Kontrollsysteme. Die meisten Vergehen fielen in die Zeit, in der das heutige Management noch nicht aktiv war, argumentieren Achleitner und Sewing. Außerdem habe die Bank fast alle ihre großen Rechtsrisiken abgearbeitet, und bei der Umsetzung der Strategie sei man 2018 auch vorangekommen.

Werden diese Argumente reichen? Vielen Deutschbankern dürfte noch die gespenstische Hauptversammlung von 2015 in Erinnerung sein, als die damaligen Vorstandschefs Anshu Jain und Jürgen Fitschen mit jeweils nur rund 60 Prozent Ja-Stimmen eine Ohrfeige kassierten. Ein paar Wochen später war das Führungsduo Geschichte.

Heute wäre ein ähnliches Ergebnis für Vorstand und Aufsichtsrat schon ein Erfolg. Mit unmittelbaren personellen Konsequenzen rechnet man bei wichtigen Investoren indes nicht – auch nicht bei einem schlechten Ergebnis. Man weiß: Die Bank ist kein Bundesligaklub, der einen Trainerwechsel braucht. Dafür sitzen die Probleme zu tief. Es braucht Zeit, sie zu lösen.

Wie sich Bayer wehrte

Auch bei Bayer gingen Baumann und Wenning in die Offensive. Nach den Schreiben der Abstimmungsberater, in denen die Nichtentlastung empfohlen wurde, verfassten der Bayer-Vorstandschef und sein Topkontrolleur einen zweieinhalb DIN-A4-Seiten langen Brief an die Aktionäre: „Wir lehnen diese Analysen und Stimmempfehlungen strikt ab“, schrieben die beiden Manager und zählten die wissenschaftlichen Argumente auf, die die Unbedenklichkeit des umstrittenen Unkrautvernichtungsmittels Glyphosat beweisen sollen. Aufsichtsrat und Vorstand, so hieß es einmütig, empfehlen den Aktionären, den Vorstand für 2018 zu entlasten.

Tatsächlich hatten die Verteidigungsmaßnahmen schon Monate zuvor begonnen. Bereits im Februar erstellte der Münchener Juraprofessor Matthias Habersack ein Gutachten, mit dem ihn der Bayer-Aufsichtsrat beauftragt hatte. Habersack attestierte dem Vorstand, dass er bei der Prüfung der Monsanto-Übernahme seinen rechtlichen Pflichten vollumfänglich nachgekommen sei. Zum gleichen Ergebnis kommt ein Gutachten der Kanzlei Linklaters, das der Aufsichtsrat bereits im Dezember 2018 erstellen ließ.

Mit anderen Worten: Schon damals erwartete die Bayer-Führung, dass die Vorwürfe von Investoren zunehmen würden. „Wir hatten gehofft, Sie mit diesen Gutachten überzeugen zu können!“, rief Wenning den Aktionären auf der Hauptversammlung zu. „Wir sind enttäuscht, nehmen Ihr Votum aber sehr ernst.“

Am Tag nach der Abstimmungsniederlage wendet sich der Bayer-Vorstand in einem internen Schreiben an die Mitarbeiter. Darin machen die Bayer-Manager vor allem die Stimmrechtsberater für die Schlappe verantwortlich. „Das Votum der Aktionäre wurde stark von zwei führenden Shareholder-Beratungsfirmen in den Vereinigten Staaten beeinflusst.“ Zähneknirschend mussten die Manager aber auch der Realität Tribut zollen: „Wir verstehen die Stimmung unserer Aktionäre und teilen ihre Enttäuschung über die Kursentwicklung unseres Unternehmens.“

Bayer ist nicht das einzige Unternehmen, das die Hauptschuld für eine Abstimmungsschlappe bei den Stimmrechtsberatern sucht. Und auch in Wissenschaft und Politik sind die Berater umstritten. Grundsätzlich hält es Manuel Theisen, emeritierter Professor für Betriebswirtschaftslehre an der Universität München, zwar für „begrüßenswert, wenn sich Aktionäre engagieren, denn sie sind die Eigentümer von Unternehmen, müssen im Groben wissen und bestimmen, wo es langgeht“.

Doch die Aktionärsdemokratie gerate schnell in falsches Fahrwasser: „Es beginnt, gefährlich zu werden, wenn sich die berechtigte Mitwirkung der Aktionäre an ihrem Unternehmen verlagert.“ Und zwar auf Berater, die mit oft geringer Mitarbeiterzahl allein in Deutschland Hunderte Unternehmen scannen.

Dramatisch wird es nach Ansicht des Ökonomen, wenn Abstimmungsergebnisse wie bei dem „Bayer-Erdbeben“ Druck auf Manager ausüben, ihren Abschied zu nehmen. „Das kann zur Folge haben, dass ein Konzern in noch größeres Chaos stürzt, wenn kein passender Nachfolger gefunden werden kann.“ Theisen warnt daher vor „Hauptversammlungs-Aktionismus“.

Für den Wissenschaftler ist es überdies fraglich, wie qualifiziert die Analysen der Stimmrechtsberater wirklich sind: „Schematisch werden Punkte abgehakt, und wenn eine bestimmte Zahl erreicht ist, gibt es ein Votum“, moniert Theisen. Und dieses Votum kann unabsehbare Folgen haben, denn auch stimmenstarke Großanleger nutzen die Auswertungen. Theisen: „Große Aktionäre sind froh, wenn diese mühsame Arbeit für sie erledigt wird, und können, wenn etwas schiefgeht, auf die Stimmrechts‧berater verweisen.“

Ivox-Beraterin Zschorn kann die Kritik an ihrer Zunft nicht verstehen. Ivox ist für sie ein reiner „Dienstleister für Investoren“: Viele große Anleger gäben sogar eigene Richtlinien vor, nach denen sie und ihre Kollegen einen individuellen Report schreiben, so Zschorn. „Wir nehmen Investoren Arbeit ab, nach ihren eigenen Vorgaben“, sagt die Diplom-Ökonomin.

Und in der Tat wäre es zu kurz gedacht, die Stimmrechtsberater als alleinige treibende Kraft der jüngsten Aktionärsrevolten zu sehen. Denn andere mächtige Investoren machen ebenfalls Druck – ganz ohne Berater.

Der Brief von Larry

Die Managerin wirkt freundlich, aber bestimmt, als sie zum Gespräch bittet. Der Blick reicht weit hier oben im Frankfurter Opernturm, der Deutschlandniederlassung von Blackrock. Amra Balic erklärt, wie es bei den Machtspielen in den Dax-Etagen wirklich zugeht. Sie muss es wissen, schließlich verantwortet sie als Managing Director bei Blackrock den europäischen Markt und das „Investment Stewardship“.

Was das genau bedeutet, dazu später. Erst einmal muss man die Bedeutung von Blackrock würdigen. Wäre die Fondsgesellschaft ein Land, dann würde es mit einem verwalteten Vermögen von sechs Billionen Dollar auf Platz drei aller Volkswirtschaften landen – hinter den USA und China, vor Japan und Deutschland.

Auch in Deutschland ist Blackrock mit seinen Indexfonds (Hauptmarke: „iShares“) und anderen Finanzprodukten ein gewichtiger Aktionär, sei es bei Bayer mit 6,4 Prozent oder bei der Deutschen Bank mit 4,8 Prozent.

„Niemand hat es groß angekündigt, es kam schleichend, aber die Regeln haben sich dramatisch verändert“, sagt ein hochrangiger US-Investmentbanker in Frankfurt. Damit meint er den Einfluss angelsächsischer Investoren wie Blackrock, Vanguard und State Street, der spätestens seit der Finanzkrise 2008 stark zugenommen hat. In den 80er- und 90er-Jahren dominierten in Deutschland noch inländische Kapitalanleger den Dax. Probleme bereinigten die Konzerne mit ihren Überkreuzbeteiligungen unter sich. Die Deutschland AG war geduldig.

Die ruhigen Zeiten sind längst vorbei. Einmal im Jahr erhalten die deutschen Topmanager Post von Blackrock-Chef Larry Fink. Der dreiseitige Brief liest sich nicht, als stamme er vom mächtigsten Mann der globalen Finanzmärkte, sondern eher, als sei der Absender ein besorgter Grünen-Funktionär: Fink fordert eine stärkere Hinwendung zum langfristigen Wachstum und zur nachhaltigen Profitabilität.

Gleichzeitig sollten die Unternehmen auch ein Verständnis dafür entwickeln, wie sich die Geschäfte auf die Gesellschaft insgesamt auswirken, wie Automatisierung und Klimawandel die Umsätze und Gewinne beeinflussen. Corporate Governance, Unternehmensstrategie, Umweltbewusstsein, Vergütung des Managements und das Humankapital eines Konzerns sind für Blackrock langfristige Erfolgsfaktoren.

Damit den hehren Worten Finks auch Taten folgen, gibt es die sogenannten „Investment Stewardship Teams“ bei Blackrock. Weltweit arbeiten 43 Mitarbeiter in solchen Teams. Stewardship kann man am ehesten mit „Verantwortung“ übersetzen – Blackrock fühlt sich verantwortlich für die 3,4 Billionen Kundengelder, die es in Aktien verwaltet.

„Bei Hauptversammlungen halten wir zwar keine Reden, hinter den Kulissen sind wir in diskreten Gesprächen aber umso aktiver“, sagt Blackrock-Managerin Balic. „Eine Strategie des ‚name and shame‘ verfolgen wir nicht.“

Lange vor der Hauptversammlung gibt es informelle Diskussionen mit den Vorständen. „Wir suchen immer erst das Gespräch beziehungsweise den Austausch mit dem Management oder Aufsichtsrat. Wir wollen wissen, was die Manager denken, wie sie ihr Geschäftsmodell anpassen, etwa an die Herausforderungen des Klimawandels. Wenn aber keine Reaktion kommt oder unsere Vorschläge ignoriert werden, ist unsere Geduld nicht unendlich.“

Brachiale Lösungen sucht Balic nicht. Manager zu feuern sei oftmals nicht die beste Lösung, sagt sie. Bei häufigen Strategiewechseln gingen bei Blackrock jedoch die Warnlampen an. Das müsse dann vom Management schon sehr genau erklärt werden. Dass es Blackrock ernst meint, zeigen auch die Abstimmungen im ersten Quartal 2019.

In fast der Hälfte aller Hauptversammlungen in Europa hat das Team von Balic gegen mindestens eine Empfehlung des Topmanagements gestimmt. Auch im Fall Bayer stimmte Blackrock dem Vernehmen nach nicht für die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat.

Fonds gegen Bayer

Bei Bayer dreht sich alles um eine Frage: Wie schwer wiegen die Gerichtsprozesse in den USA? Dort klagen mehr als 13.000 Menschen gegen den Konzern, sehen das Unkrautvernichtungsmittel Glyphosat als Ursache für ihre Krebserkrankung. In den ersten drei Prozessen unterlag Bayer, musste zuletzt gar ein Geschworenenurteil mit einer Strafzahlung von mehr als zwei Milliarden Dollar hinnehmen.

Der Konzern wird in Berufung gehen, die Strafen könnten reduziert werden. Doch wie hoch ist der Gesamtschaden? Bei den großen Fondsgesellschaften gibt es sogenannte ESG-Analysten, die auf die Einhaltung von umwelt- und sozialen Standards wie auch auf eine gute Führung der Firma achten. Sie müssen sich mit den Fondsmanagern und den Branchenanalysten im eigenen Haus einigen. Das alles ist in internen Richtlinien geregelt.

Auch die Reports von Stimmrechtsberatern werden berücksichtigt, ebenso wie Gespräche mit Firmenmanagern. Wenn die Hauptversammlung näher rückt, gibt es in der Regel ein Einzelgespräch mit dem Aufsichtsrats- und dem Investor-Relations-Chef. Bei besonders wichtigen, in der Regel strittigen Themen wie bei Bayer und der Deutschen Bank ist auch der Vorstand mit dabei.

„Bei Bayer war das keine einfache Entscheidung“, sagt Vanda Heinen, Analystin für Corporate Governance beim Fondshaus Union Investment. Ein anderer Investor berichtet: Während ein erfahrener Fondsmanager und Branchenexperte das Thema Rechtsstreitigkeiten und Strafen im Fall des Unkrautvernichters Glyphosat als weniger dramatisch eingestuft habe, verwiesen die ESG-Analysten des Fondshauses auf den immensen Wertverlust. Am Ende rang sich der Investor tatsächlich dazu durch, Vorstand und Aufsichtsrat nicht zu entlasten.

Viele Großanleger wollten der Bayer-Führungsriege vor Ort zu verstehen geben, dass sie verärgert sind über die Vernichtung von mehr als einem Drittel des Börsenwerts seit der Ankündigung der Übernahme von Monsanto vor rund drei Jahren. „Bei Bayer haben wir gegen die Entlastung von Vorstand und Aufsichtsrat gestimmt, um ein Zeichen zu setzen“, sagt Thomas Hassl, Senior Associate beim Vermögensverwalter BMO Global Asset Management. Vor fünf Jahren wäre so etwas nicht denkbar gewesen, heute schon: „Die Aktionäre wollen einen permanenten Dialog über die Risiken der Geschäftsmodelle.“

Die aktiven Fondsmanager stehen selbst unter enormem Druck – versprechen sie doch, mehr Rendite zu erzielen als die Börsenindizes. Damit wollen sie sich von den immer beliebteren Indexfonds, vor allem den börsengehandelten ETFs, abheben, die einen Bruchteil an Gebühren kosten. Die weitaus meisten dieser Fondsmanager schlagen aber den Indexfonds nicht – und gehen immer mehr dazu über, den daraus resultierenden Druck ihrer Anleger an die Unternehmen weiterzugeben.

Auch bei der Deutschen Bank sind es nicht nur die Stimmrechtsberater, die dem Management schlaflose Nächte bereiten. Viele frustrierte Großaktionäre der Bank dürften ähnlich denken wie ISS und Co. – und das könnte bedrohlich werden für Achleitner und Kollegen. Bislang konnten die sich trotz aller Kritik der Aktionärsberater noch immer auf ihre Kernanteilseigner verlassen. Dazu gehören zum Beispiel Blackrock, die Herrscherfamilie von Katar oder der US-Fonds Cerberus.

Doch die Entscheidung von ISS hat auch bei den Ankeraktionären Eindruck hinterlassen. Dieses Mal ringen einige der einflussreichsten Anteilseigner bis zur letzten Sekunde mit sich, ob sie das Management gegen den Rat der Stimmrechtsberater entlasten sollen. Das könnte vor allem für den in der Kritik stehenden Aufsichtsratschef Achleitner gefährlich werden, der bereits bei der letzten Hauptversammlung mit 84 Prozent Ja-Stimmen ein vergleichsweise schwaches Ergebnis erzielte.

Was können Achleitner und Sewing tun, um am 23. Mai den großen Knall in der Festhalle zu verhindern? Der Aufsichtsratschef könnte zum Beispiel ankündigen, sein Amt im kommenden Jahr aufzugeben und den Weg für einen Nachfolger frei zu machen. In Frankfurter Finanzkreisen gilt das zwar nicht als ausgeschlossen, aber als unwahrscheinlich. Genau wie die Option, dass Sewing noch vor der Hauptversammlung eine neue Strategie inklusive tiefer Einschnitte im Investmentbanking herbeizaubert, um die Aktionäre zu beschwichtigen.

Andere haben es da leichter. Bei einigen wenigen deutschen Dax-Konzernen funktioniert noch die reflexhafte Abwehrhaltung gegen Kritiker – dank eines engen Schulterschlusses der Großaktionäre.

VW – eine der letzten Bastionen

Der Korpsgeist bei Volkswagen ist so ein Fall. Auf der Hauptversammlung vor wenigen Tagen erntete Konzernchef Herbert Diess zwar Kritik für seine aus Sicht mancher Aktionäre viel zu späte Elektrostrategie. Der frühere Chef der Fondsgesellschaft DWS Christian Strenger – ein Mann der klaren Worte – haderte zudem mit den Regelverstößen des Wolfsburger Konzerns.

Vorstand und Aufsichtsrat hätten sich auch mehr als drei Jahre nach dem Bekanntwerden des Dieselskandals nicht ausreichend für die Aufklärung der Affäre eingesetzt. Er verweigere beiden Führungsgremien des Konzerns deshalb für das Geschäftsjahr 2018 die Entlastung.

Für einen Redeauftritt von gut zwei Minuten kam auch ein „Fridays for Future“-Gefühl auf. Am Rednerpult stand die 18-jährige Klimaaktivistin Clara Mayer, der ein anonymer VW-Aktionär sein Stimm- und Rederecht überlassen hatte. „Wir sind hier, weil ihr uns die Zukunft klaut!“, rief sie dem VW-Vorstand zu. Der Konzern unternehme zu wenig für die Erdatmosphäre, baue zu große und zu schwere Autos.

Doch die Kritik perlte an den Managern ab – unmittelbare Konsequenzen hatten die Proteste auf dem Aktionärstreffen nicht. Die Hauptaktionäre – die Porsche-Piëch-Familie, das Land Niedersachsen und das Emirat Katar – halten rund 90 Prozent der Stimmrechte. Gegen sie haben aufständische Investoren keine Chance. Am Ende wurden die Konzernvorstände mit knapp 95 Prozent entlastet.

Das VW-Treffen zeigt aber deutlich, dass es längst nicht mehr nur um Rendite und Umsatzsteigerung geht, wenn Investoren ihre Forderungen auf den Tisch legen. „Umweltthemen machen rund ein Fünftel unserer ‚Active Ownership Agenda‘ aus, 40 Prozent sind Sozialthemen, und ebenfalls 40 Prozent entfallen auf die gute Unternehmensführung“, sagt Vermögensverwalter Hassl.

Ingo Speich, Leiter für gute Unternehmensführung bei der Fondsgesellschaft Deka, sieht einen Mangel an „Vielfalt“ in den Kontrollgremien deutscher Konzerne. Defizite gebe es „bei der Internationalisierung, der Digitalisierung, Nachhaltigkeit und bei einem angemessenen Anteil Frauen“.

Auch den oft vollzogenen Wechsel ehemaliger Vorstände in den Aufsichtsrat sehen die Aktionäre zunehmend skeptisch. Zwischen beiden Ämtern müsse eine „Abkühlphase“ von mindestens fünf Jahren liegen, fordert Sacha Sadan, Director of Corporate Governance beim Vermögensverwalter Legal & General Investment Management.

Das verspricht Spannung für die Hauptversammlung von Daimler, wo Vorstandschef Dieter Zetsche nach einer nur zweijährigen „Cooling-off“-Periode Chefaufseher werden will. Beim Dauerthema Vergütung werden die Investoren ebenfalls aggressiver – wie sie schon vor zwei Jahren beim Versicherungskonzern Munich Re unter Beweis stellten, wo sie einen Vergütungsplan mehrheitlich ablehnten.

Mitunter plagt die Großinvestoren jedoch auch die Angst vor der eigenen Courage. Bei Bayer etwa haben sich einige Anleger am Ende selbst „erschrocken“, wie ein Großinvestor erzählt. Dass es eine Mehrheit wurde, die den Vorstand nicht entlastete, hat auch die Kritiker überrascht. Und eiligst betonten große Investoren unisono, dass es nicht sinnvoll sei, Vorstandschef Baumann auszutauschen, „der noch eine Chance verdient“ – da das Chaos sonst noch größer werde. Und so verwundert es nicht, dass sich die Aufsichtsräte von Bayer in einer Notsitzung im Anschluss an das Aktionärstreffen hinter den Vorstand stellten.

Ob der Bayer-Chef die kommenden Monate auf seinem Posten übersteht, bleibe aber abzuwarten, sagt ein Großinvestor. Man solle den Vorstand erweitern, etwa mit einem US-Amerikaner, der dann für die „Monsanto-Integration“ verantwortlich zeichne, ergänzt ein anderer Investor.

Fest steht, dass die diesjährige Hauptversammlungssaison nicht nur bei Bayer Spuren hinterlassen wird. Das Abstimmungsverhalten der Aktionäre bedeutet eine Zäsur für die deutsche Unternehmenslandschaft. Wer als Topmanager oder Kontrolleur Forderungen und Kritik der Aktionäre nicht mehr ernst nimmt, riskiert seinen Job.

Schon allein deshalb, weil am Horizont eine mögliche Allianz auftaucht, gegen die der bisherige Protest wie ein laues Lüftchen wirkt: Investmentbanker rechnen damit, dass in Zukunft immer häufiger aktivistische Hedgefonds und Vermögensverwalter an einem Strang ziehen werden.

Was passieren kann, wenn man sich von seinen Aktionären zu sehr entfremdet und dadurch eine solche Koalition heraufbeschwört, zeigt das Beispiel Thyssen-Krupp: Bei dem dauerkriselnden Stahlkonzern jagte vor einem Jahr eine Allianz aus Aktivisten und frustrierten Großinvestoren Vorstandschef Heinrich Hiesinger vom Hof. Aufsichtsratschef Ulrich Lehner warf kurz danach ebenfalls hin – und stürzte das Unternehmen erst recht in ein Führungschaos.

Ein eindringliches Warnsignal, dass die einstige Ruhe der Deutschland AG endgültig vorbei ist.

Mitarbeit: Michael Brächer, Astrid Dörner, Franz Hubik, Thomas Jahn, Stefan Menzel, Daniel Schäfer